Von Androiden, Ästhetiktheoretikern, dem Human Brain Project und menschlichen Gefühlen

Philosophische Kolumne: Künstliches Bewusstsein -Teil 1

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Derzeit basteln Forscher in der Schweiz am "Human Brain Projekt" (HBP) und wollen mit viel Geld der EU endlich einmal ein künstliches Bewusstsein erschaffen. Denn angekündigt wurde so etwas schon genauso lange, wie sich die Wissenschaftler um die Art und Weise eines solchen streiten. Also sehr lange. Bislang konnte sich die Wissenschaft in der Frage nicht recht einig werden. Also liegt es nahe, in der Sache probehalber einmal einen völlig Außenstehenden nach seiner Einschätzung zu fragen, nämlich Data aus der Fernsehserie "Star Trek – The Next Generation".

Data ist ein bleichgesichtiger Android, noch dazu ein hochintelligenter. Kein Wunder, dass er sich neben der Rettung diverser Planeten und Raumschiffe auch noch mit Dingen beschäftigt wie einem Gewissen, Individualität oder Menschlichkeit. Manchmal greift er auch zu Geige oder Pinsel, und wenn er bestimmte Chips intus hat, dann ist er durchaus auch anfällig für so typisch menschliche Phänomene wie Versagensängste oder Lachanfälle.

Über Menschliches

Im Gegensatz zu den meisten Rechnern, von denen diese Zeilen hier abgelesen werden, plagen sich Menschen herum mit Dingen wie Emotionen, Schuldgefühlen, ironischen Seitenhieben oder Kreativität. Künstliche Systeme tun dies nicht, und könnten sie es beurteilen, wären sie in manchem Fall froh über ihr Unvermögen. Die Undurchschaubarkeit und Rätselhaftigkeit des Menschen treibt Wissenschaftler, Ehepartner und Eltern ab und zu in den Wahnsinn – der Computer ist unfehlbar. Wenn es anders wirkt, dann ist er in Wirklichkeit nur schlecht programmiert.

Von daher ist es eigentlich paradox, mit Computerschaltungen ein menschliches Gehirn simulieren zu wollen. Aufgrund dieses computertechnischen Paradoxons1 können Computer nie so nie so rätselhaft sein, wie der Mensch oft wirkt. Diese Unterschiede zwischen Mann/Frau und Maschine haben natürlich auch den Vorteil, dass Menschen bei der Eingabe widersprüchlicher Informationen nicht gleich abstürzen. Computer hängen sich in solchen Fällen sofort auf, Menschen tun das aber selten und wenn, dann erst nach Durchlauf verschiedener kreativer Übersprungtechniken.

Manche behaupten sogar, dass Bewusstsein sich gerade durch den Umgang mit solchen Widersprüchen und durch eine gezwungenermaßen vielschichtige Informationsverarbeitung definiert.2 Und so "funktionieren" Menschen, solange sie am Leben sind, und sie haben das Gefühl zu leben, solange sie Dinge als schön empfinden. Das ist der springende Punkt, und der Grund dafür, dass Data geigt und malt.

Denn sobald ein Mensch, aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr dazu in der Lage ist, etwas schön zu finden, wird er krank. Nicht so, als ob er sich erkälten oder an einem Autounfall darben würde, aber er wird krank, und vielleicht sogar sterben. Dann hängen sich die einen auf, die anderen entwickeln Alternativ-Manöver, um an Schönheitsempfinden heranzukommen, angefangen dabei, dass die manche suizidale Anwandlungen als wohltuend empfinden. Wieder andere kultivieren Wahnvorstellungen in verschiedenen Ausprägungen und Intensitäten, von denen ein Großteil gesellschaftlich sogar akzeptiert, wenn nicht gar erwünscht ist.

Manchmal geht die Sache aber auch schief, wenn diese Alternativ-Manöver das psychische System überfordern und in Krankheit ausarten, weil die Betroffenen ihre Vorstellung von der Welt, also das Produkt ihrer ästhetischen Wahrnehmung, nicht mehr auf konventionelle Art regulieren können. Der neurophysiologische Ablauf bei solchen Betriebsunfällen wurde mittlerweile weiträumig erschlossen, deren inhaltliche Logik und geistige Regulierung weniger.

Hätten Computer ein Bewusstsein, könnten sie von Glück reden, dass ihnen solche Probleme erspart bleiben, allein, dann würden sie auch darüber trauern, dann keine schönen Künste zu haben, keine Literatur, keine Musik, nichts von alledem. Denn diese Bereiche strotzen nur so von Problemen bei der Verarbeitung von Widersprüchen und von Problem mangelnden Schönheitsempfindens. Und das meist weit fernab von den Bewusstseinstheorien der Wissenschaft. Denn wie heißt es so schön: Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Teile, oder besser gesagt die Informationsverarbeitungssysteme des Menschen scheinen größer zu sein als die Summe seiner einzelnen Informationsverarbeitungen. Nur, wie ist das rechnerisch möglich? Das ist derzeit noch unklar, und darum vermessen in den einen Labors die Neurophysiologen das Gehirn und programmieren die Informatiker ihre Computer – und woanders parlieren die Geisteswissenschaftler über die menschliche Seele und die hehre Kunst. Dazwischen klafft ein Abgrund, den noch kein Netzwerk überbrücken konnte.

Über die verschmähte (Ästhetik-)Theorie

Aber warum ist dann Data so menschlich? Leider geben die Macher von Star Trek darüber keine Auskunft – aber die Antwort liegt auf der Hand. Data verfügt, was das Wissen der Menschheit angeht, über einen lexikalischen Überblick. Dergestalt ist ihm mit Sicherheit bekannt, was Ästhetiktheoretiker über Kunst und Schönheit haben verlauten lassen.

Damit hat er dem HBP einiges voraus. Dessen Mitarbeiter werden rekrutiert vor allem aus den Heeren der Neurowissenschaftler, Genetiker, Informatiker, Robotikexperten und Ethiker, aber weniger aus den lichten Reihen der Ästhetiker, obwohl es auch in den eigenen Linien einige Undercoveragenten gegeben hätte bzw. gibt. Denn es gab und gibt in vielen "harten" Disziplinen namhafte Sprecher, die die sinnliche Wahrnehmung und das Empfinden von Schönheit als zentral für das menschliche Bewusstsein ansetzten.3 Viele Vertreter der Disziplinen Kunst, Psychologie, Neurophysiologie, Philosophie, Literaturwissenschaften, Linguistik und Semiotik, Anthropologie, Mentalitäts- und Kunstgeschichte und Kunsttheorie definierten Ästhetik als grundlegende Technik der menschlichen Informationsverarbeitung, die weit mehr als nur Bereiche des repräsentativen Wandschmuck betrifft. Nur einige Beispiele dafür sind:

  • Kunst (Leonardo, Cézanne, Malewitsch, Picasso, Beuys u.a.),
  • Psychologie (James, Jaynes, Festinger, Bever u.a.),
  • Philosophie (Adorno, Lyotard, Gadamer, Sloterdijk u.a.),
  • Linguistik und Semiotik (Chomsky, Ong, Peirce, Wittgenstein, Bachtin u.a.)
  • Anthropologie (Bateson, Lurija, Duerr, Harris u.a.),
  • Kunstgeschichte bzw. -theorie (Flusser, Barthes, Panofsky, Sedlmayer, Bataille u.a.)

Diese Thesen besagten unter dem Strich, dass in der ästhetischen Wahrnehmung so etwas verborgen sei wie die Weltformel alles Geisteswissenschaften: Das Geheimnis um die menschliche Seele, um Glück und Schönheitsempfinden. Davon müsste Data theoretisch wissen, und er wurde oft gezeigt, wie er im Hinblick auf diese Thesen an sich selbst forscht – im Gegensatz zu modernen Hochschulen, an denen Begriffe wie Schönheit, Seele oder Glück in all ihrer Poesie und Unwissenschaftlichkeit seit langen Jahren keinen Zugang mehr erhalten.

Über die Randstellung der Ästhetik

Dafür gibt es acht Gründe. Das fängt damit an, dass die liebe Kunst als hauptsächlicher Gegenstand der Ästhetik sich dadurch definiert, weder wissenschaftlich noch sonstwie fassbar (1. Grund) und somit wissenschaftlich integrationsfähig zu sein. Zudem gilt Kunst als zweckfrei (2. Grund).

Denn ist sie das nicht, bekommt sie den Stempel "Kunsthandwerk" von Kitsch bis Design, was völlig andere Wertungen in den Kategorien Prestige und Finanzkraft nach sich zieht. Ist Kunst dagegen tatsächlich zweckfrei, gerät sie in den Geruch einer schöngeistigen Luxusbeschäftigung (3. Grund).

Vom Geschwisterchen der Kunst, der Kunstphilosophie, auch bekannt als "philosophische Ästhetik" oder kurz: "Ästhetik", ist da auch nicht viel Hilfe zu erwarten. Ihre größte Rolle spielt sie allenthalben bei der Vermarktung von Kunst als PR-Soffleuse, noch dazu geplagt mit leichten legasthenischen Denkschwächen bei der Differenzierung von Substantiven. Zum Beispiel bei den Wörtern "Ästhetik" und "Schönheit". Das Wort Ästhetik gibt es erst seit ca. 200 Jahren, das Wort Schönheit schon sehr viel länger, aber beide werden oft synonym gebraucht und meinen doch so oft so sehr Verschiedenes (4. Grund). Denn nicht alles, was als ästhetisch tituliert wird, ist auch schön. Und nicht viel von dem, was die einen als schön bezeichnen, würden andere überhaupt als ästhetisch bezeichnen. Schönheit klingt ohnehin viel zu bildungsbürgerlich, das geht ja rein gar nicht (5. Grund).

Es geht der Kunstphilosophie also nicht wirklich gut, und wie sollte es auch. Kein Mensch kann sich da zurechtfinden zwischen so vielen, individuell und epochengebunden verschiedenen Philosophen-Meinungen zum Thema "Schönheit". Verzeihung, "Ästhetik" (6. Grund). Wäre die Kunstphilosophie ein Mensch, wäre sie ein Mensch, der ständig verschiedene Stimmen in sich vernähme.

Es liegt nahe, in so einem Fall die Psychologie zu konsultieren. Doch die weist den Dialog notgedrungen zurück. Als Freundin von Statistiken disputiert sie beim Thema Kunst und Schönheitsempfinden zwar gerne über statistisch erfassbare Phänomene, wie zum Beispiel den Zusammenhang der Vorliebe für die Farbkombination Schwarz-Gelb und Neurosen. Elementarpsychologie dieser Art ist tatsächlich sehr interessant, v.a. für Bienen und Feuersalamander. Für große Einsichten in das Wesen des Menschen ist die Elementarpsychologie aber zu speziell (7. Grund). Und das ist gut so, denn unter uns gesagt: Die Psychologie wäre doch ohnehin zu jung für die Begutachtung von Disziplinen, die weit älter sind als sie selbst, wie z.B. die Philosophie. Und müsste sie sich nicht selbst einen Double-bind attestieren, wenn ihr die Kunst Dinge beschreiben sollte, die per definitionem unbeschreibbar sind?

Die Lage ist nicht einfach und die Kommunikation innerhalb der Disziplinen schwer, und das ist nicht nur amüsant, sondern auch schade angesichts all der genannten Hinweise auf die zentrale Bedeutung der Ästhetik, die, wenn überhaupt, nur interdisziplinär präsentiert werden kann. Oder besser gesagt präsentiert werden könnte, denn Interdisziplinarität ist keine unproblematische Sache (8. Grund). Wie sieht es dann also damit aus, was die Möglichkeit einer allgemeinen Formalisierung von Datas Hirn angeht?

Über Datas Programmierung

Würde Data also sein Wissen über Ästhetiktheorie von Platon bis Sloterdijk und darüber hinaus wertneutral nach formalisierbaren Übereinstimmungen scannen, dann wäre das nicht weiter schwierig. Eigentlich geht es in der Ästhetik immer wieder und immer nur darum, dass äußere Eindrücke und innere Interpretationsmuster miteinander korreliert werden, die sinnliche Wahrnehmung und das abstrakte Denken – egal ob Platon zwischen Ideen und Erscheinungen differenziert oder Aristoteles zwischen einem Kunstwerk und dem sich damit identifizierenden Betrachter (1. Übereinstimmung).

Zweitens funktioniert diese Vermittlung immer über den Vergleich innerer und äußerer Muster, einer Entsprechung und Nachmodellierung von Strukturprinzipien - so wie bei Ficinos Spiegelprojektionen, Albertis Proportionsstudien oder den Spiegelneuronen (2. Übereinstimmung).

Was die Wahrnehmung dieses Vergleichs einbringt, quasi die Wahrnehmung der Wahrnehmung, das sind durchaus lustbringende Erlebnisqualitäten: Der sogenannte Eigenwert und Erkenntnisgehalt des Ästhetischen – wie Edmund Burkes "pleasure" oder Kants "interesseloses Wohlgefallen" (3. Übereinstimmung).

Diese Gefühlsqualitäten präsentieren sich in verschieden starken Ausprägungen, von Interesse oder Faszination bis hin zu Ekstase oder Enstase – von Lessings leicht tränengesättigter "Rührung" bis hin zu Stendahls leicht hysterischem "Syndrom" (4. Übereinstimmung). Das geht aber nur in einem einigermaßen kontemplativen, oder zumindest gemäßigt stressfreiem Modus – bei Schopenhauers "Naturbetrachtung" darf genauso wenig eine nervende Begleiterin dabei sein, wie bei einem Rockkonzert die Schwiegermutter (5. Übereinstimmung).

Die Motivation für die ästhetische Betrachtung oder das sog. diskursives Denken hängt noch dazu ab von der jeweiligen persönlichen Vernetzungsfähigkeit – von Baumgartens "Anlage zur ästhetiklogischen Erkenntnis" oder Schillers "Spieltrieb" (6. Übereinstimmung).

Wenn aber in dieser Hinsicht alles einigermaßen passt, dann kann aber im Hirn ein Bereich mit ganz eigenen Denkregeln entstehen, da die Rezeption aufgrund dieser kontemplativen Art der Rezeption nicht bewusst und rational distanziert erfasst werden kann und darf – darum spricht Boileau vom "je ne sais quoi" (vgl. dazu Über Unsägliches und Geheimnisvolles: Das nescio quid), Nietzsche von "verbotenem Wissen" und Goodman von den "eigenen Sprachen der Kunst" (7. Übereinstimmung).

Dann garantiert dieser Ablauf in seiner Gesamtheit sogar das langfristige Funktionieren des Systems Psyche. Nach außen hin wird die Denkfähigkeit verbessert, nach innen die Eigenmotivation durch emotionalen Lustgewinn – darum ist Lyotards "Präsenz" ebenso wichtig wie Wittgensteins "richtige Perspektive" (8. Übereinstimmung).

Das sind, jenseits des anrainenden Philosophische-Begriffe-Droppings, eigentlich nur acht Binsenweisheiten, aber auch Binsen- können ausbaufähige Weisheiten sein, vielleicht nicht gerade so, wie die Alltagsweisheit über die Relativität von Zeit auch nicht die direkte Steilvorlage für Einsteins Relativitätstheorie war. Deren Weisheit beinhaltet auch viel mehr Zahlen und Rechenkünste als das, was Data aus diesen acht Beobachtungen hätte konstruieren können. Denn um daraus die ästhetische Wahrnehmung in ein Flussdiagramm zu überschreiben, hätte er nur mindestens digital bis zwei und allerhöchstens höchstens bis 40 zählen müssen.

Datas Informationsverarbeitungssysteme können nicht anders funktionieren als digital. Er besteht aus digitalen 0-1-Schaltungen. Nervenfasern funktionieren im Prinzip genauso. Entweder feuern sie oder sie lassen es bleiben, 0 oder 1 – das ist der ganze Unterschied (im aristotelisch-wienerschen-batesonischen Sinne des Begriffs4). Im Hinblick auf Datas von ihm angestrebte Selbst-Programmierung heißt das: Wenn man diese acht Alltagsbeobachtungen funktionalisiert und digital so formalisiert wie in einem Computerspiel, dann ergäbe das nur 40 einzelne Stationen, über die aber alle wichtigen Begriffe der ästhetischen Wahrnehmung verteilt werden könnten. Ein Beispiel dafür folgt im zweiten Teil des Beitrags.

Literatur