Von Brecht zu Biller: Wie das laute Denken aus der Linken verbannt wurde

Seite 2: Wenn die Linke Boykotte bejubelt

Gerade deshalb kann man nicht in den Jubel oder die Genugtuung mancher Linker einstimmen, die solche Verbote entweder beschönigen, verharmlosen oder ganz leugnen: Denn schließlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Rechten mit ihrem Gejammer über linkes Canceln eine Strategie verfolgen, die auch zunehmend linkes lautes Nachdenken unter Verdacht stellen soll, um Argumentationskraft zu gewinnen, selbst umso stärker zurückzucanceln.

Man muss also lange suchen, bis man Leute findet, die sich noch für lautes Denken interessieren. Viel bequemer scheint es, sich auf den Konsens des Nichtdenkens zu einigen und das einmal erworbene moralische Wissen einer bestimmten Klasse, Szene oder eines bestimmten Milieus ("Filterblase") als Weisheit letzter Schluss zu verbreiten und nebenbei dafür zu sorgen, dass zu diesem Schluss keine Konkurrenz entsteht.

Ökonomische Zwänge, aber auch individuelle Feigheit – die natürlich immer vielfältig mit diesen Zwängen verwoben ist – haben hier ihr Werk getan: Öffentlich nachdenken zu wollen, gilt heute als Luxusbedürfnis; wer einen solchen Anspruch formuliert, wird beäugt: Hat man es nicht schon mit einem Nazi zu tun, mit einem Verschwörungstheoretiker, Kreml-Propagandisten, Chinesenversteher oder gar Marxisten?

Nachplappern ungeprüfter Gedanken

Es gibt wirklich Wichtigeres als Nachdenken. Etwa das ständige Nachplappern ungeprüfter Gedanken anderer, getarnt als Aktivismus, politischer Diskurs oder zivilgesellschaftliches Engagement.

Zu erkennen wäre, wie Brecht mit seinem "eingreifenden Denken", Aktivismus und Aufklärung in eins zu setzen, d. h. beide aufzuheben und zum eingreifenden Begreifen, zum begreifenden Eingreifen voranzutreiben.

Eine Aufklärung aber, die der jeweiligen moralischen Mode angepasst, den Prinzipien des Aktivismus unterworfen und zur bloßen Geste negierender Kritik herabgewürdigt wird, wird weder dem Begriff noch ihrem vorgeblichen politischen Ziel gerecht.

Folgen der Feindschaft gegen lautes Denken

Das Aufklärungsstreben ist romantisch geworden in einer Gesellschaft, die das Denken nur noch als lässiges Ornament vorführt und den unverstellten Blick auf das vermeintliche Reale – oder, bei den Jammerlappen, auf die Gefährdung des Eigentumsregimes – heraufbeschwört. Man verharrt in der Beschreibung und Verteidigung der jeweiligen Kulissen, Masken, Identitäten, statt sich der Realität zu stellen.

Die Feindschaft gegen das laute Denken erweist sich als massive Beschädigung des Denkens überhaupt und damit als vorerst letzter Akt des bürgerlich-liberalen Jahrhundertprojekts der "Zerstörung der Vernunft" (Georg Lukács).

Das hat auch der Schriftsteller Maxim Biller verstanden, der (in seiner Zeit-Kolumne vom 31. Juli 2023) ähnliche Töne anschlägt:

Denn das allmähliche Verschwinden der guten alten Vernunft aus dem öffentlichen und intellektuellen Leben passiert vor allem dort, wo normalerweise die klügsten und weitsichtigsten Leute jeder Epoche sitzen: in der Kunst, in der Literatur, an den Universitäten. Und in der großen Schwatzbude namens Feuilleton. Man könnte es auch – leicht perfide – die große Überschreibung oder das komplette Auswechseln von Gesichtern und Ideen nennen …

Linke von sektiererischen Mitläufern übernommen

Diesen Austausch gibt es tatsächlich. Spätestens seit 1990 sind hierzulande in der Linken die lautstarken Denker und Marxisten sukzessive durch sektiererische Mitläufer ersetzt worden, die, statt kritisches Denken zu pflegen, den Zeitgeist reproduzieren – dies aber in scheinradikaler Weise, indem sie einander ihres Widerstandes versichern, der in seiner Grundtendenz meist nicht allzu sehr im Widerspruch zur jeweiligen Regierungslinie steht.

Man könnte es dabei belassen und mit einem "Früher war (bei den Linken) alles besser" enden. Aber war früher wirklich alles besser?

Denn auffallend ist, dass diese Entwicklung zum Unkritischsein von Anfang an ausgerechnet unter dem Label der "Kritik" forciert wurde, dass es gerade die Gralshüter der kritischen Kritik waren, die dabei geholfen haben, dass die Konformisten zunehmend an Bedeutung gewannen.

Vereinigung der Sozialismuskritiker

Jene DDR-Bürgerrechtler der 1980er-Jahre, die den Sozialismus von links attackierten, vereinigten sich in den 90ern zunehmend mit den ebenfalls sozialismuskritischen Ex-K-Grüpplern aus der BRD – Mahnmal dieser Vereinigung ist bis heute die Partei Bündnis 90/Die Grünen.

Weil die marxistische Praxis nach ihrer kurzen Anwendungsphase in den sozialistischen Ländern nicht das gebracht hatte, was sich ein kleinbürgerliches Anhängermilieu von ihr versprochen hatte, sollten ihre Grundideen plötzlich grundfalsch sein.

Der Marxismus wurde entsorgt und durch allerlei kosmetische Politik und kritische Haltung ersetzt, die sich nur zu gut zwischen Liberalismus und Sozialdemokratie einpassen ließ.

Brechsucht statt Brecht

So verschwanden auch die einstigen Vordenker mehr und mehr aus dem Diskurs: Brecht wurde durch Brechsucht ersetzt, Merleau-Ponty durch "My Little Pony".

Nicht so bei Biller: Nur weil "die gute alte Vernunft aus dem öffentlichen und intellektuellen Leben verschwindet", heißt das nicht, dass es sie nicht mehr gibt. Hegel sprach nicht zu Unrecht und aus eigener biografischer Erfahrung von der "List der Vernunft".

Sie hat Tradition, sie wird von Generation zu Generation weitergegeben. Und wenn nicht in der großen Öffentlichkeit, so doch unter deren Radar, an Orten, wo das laute Nachdenken noch geschätzt wird.

Krawalligkeit als Selbstzweck

Die Ironie von Maxim Billers Auslassungen besteht darin, dass Medienfiguren wie er selbst genau das Produkt des von ihm beklagten Austauschs sind: des Wechsels von theoretisch fundierten, linken künstlerischen und intellektuellen Positionen zu einer freischwebenden Krawalligkeit als Selbstzweck.

Der Clou an der List der Vernunft hingegen ist, dass man ihre Ergebnisse nicht kommen sieht, dass sie sich zwar über das Alltagsleben der Menschen, aber auch durch dieses realisiert. Es könnte sein, dass diese List eines Tages dazu führt, dass der öffentliche Diskurs mehr sein wird als ein bloßes Gejammer über stattfindende oder nicht stattfindende Absagen.

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