Von Gaza bis Ukraine: Führen die neuen Kriege zum Tod der Neutralität?
Seite 2: Nach Anschlägen der Hamas: Katar in der Kritik
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In der Praxis nutzt Katar jede sich bietende Gelegenheit, um geopolitische Einflussnahme zu betreiben, befördert vom scheinbar endlosen Vorrat an flüssigem Erdgas im Land. Das bringt uns zu Dohas Beziehung zur Hamas.
Katarische Regierungsvertreter erklären, sie hätten die politische Führung der Hamas im Jahr 2012 auf Geheiß der Obama-Regierung nach Doha eingeladen, kurz nachdem die Gruppe aufgrund von Spannungen mit Assad aus Syrien geflohen war. (Die frühesten Beziehungen zwischen der Hamas und Doha gehen auf das Jahr 2006 zurück, als die Bush-Regierung Katar bat, Kommunikationskanäle mit der Hamas zu öffnen.)
Katar ergriff die Gelegenheit, sowohl die Beziehungen zu den USA zu verbessern als auch seinen Wettbewerbsvorteil als Vermittler auszubauen. Das reichte jedoch nicht aus, um den Golfstaat nach den Anschlägen vom 7. Oktober vor Kritik zu schützen.
US-Beamte schwächten die Stellung Katars in den Tagen nach den Anschlägen, indem sie sich aus einem von Doha vermittelten Abkommen zurückzogen, durch das der Iran nach einem Gefangenenaustausch zwischen den USA und dem Iran Zugang zu eingefrorenen Vermögenswerten in Milliardenhöhe erhielt.
Zirkus in Washington
Auch im US-Kongress und in der amerikanischen Presse wurden Stimmen laut, die Doha der Unterstützung der Hamas bezichtigten und als Beweis die Politik Katars anführten, Vertreter in Gaza (mit Israels Zustimmung) zu bezahlen.
Andreas Krieg, Professor für Sicherheitsstudien am King's College London, hält das für Hintergrundrauschen. Er beschreibt den rhetorischen Druck auf Katar als wenig mehr als einen "Zirkus in Washington, um als Unterstützer Israels zu gelten, egal was passiert".
Die USA, so Krieg, haben keine konkreten Schritte unternommen, um Katar an diesem Punkt weiter zu pressen. Vielmehr hat Washington Doha zusätzlichen Spielraum für die Fortsetzung der Gespräche eingeräumt.
Und selbst wenn die Hamas durch den Krieg vernichtet werden sollte, wäre Katar ein hervorragender Kandidat für die Vermittlung mit jeder neuen islamistischen Bewegung, die an ihre Stelle tritt, so Krieg.
Katar im israelischen Visier: Hamas "an jedem Ort" töten
Das kann nur der weitere Verlauf zeigen. Die Neutralität Katars könnte in eine tiefe Krise geraten, wenn Israel sein Versprechen einlöst, Hamas-Führer "an jedem Ort" zur Strecke zu bringen.
Doch Katar ist durchaus pragmatisch. Mehran Kamrava von der Georgetown University Qatar prognostiziert, dass die Führung in Doha dem Rauswurf von Hamas-Führern zustimmen würde, wenn das die Beziehung zu den USA stärken würde, worauf man bedeutsamen Einfluss hat.
Die Frage, die sich stellt, ist, ob es gut für die Vereinigten Staaten wäre. Mohamad Bazzi von der New York University ist der Ansicht, dass das nicht der Fall ist. "Es wäre ein Fehler, die Hamas-Führer aus Katar zu vertreiben", schrieb er kürzlich in einem Kommentar.
Sie würden wahrscheinlich in den Iran, den Libanon oder Syrien gehen – und Israel, die USA und Europa hätten es schwerer, indirekt mit ihnen zu verhandeln.
Mit anderen Worten: Ein Rauswurf der Hamas aus Katar würde einen der komplexesten Konflikte der Welt wahrscheinlich noch unlösbarer machen.
Kalte Kriege und heißer Frieden
Die Probleme Katars zeigen wie in einem Brennglas Trends, die heute in der ganzen Welt zu sehen sind. Die Vereinigten Arabischen Emirate und die Türkei haben wichtige Abkommen zwischen Russland und der Ukraine vermittelt – Abkommen, die weniger unabhängige Staaten niemals hätten abschließen können. Der Westen hat es ihnen weitgehend mit Sanktionen und Verurteilungen heimgezahlt.
In gewisser Weise sollte es nicht überraschen, dass sich mächtige Staaten vor Neutralität scheuen. "In der Regel ist es die stärkere der beiden Kriegsparteien, die mehr Druck auf die Neutralen ausübt", so Lottaz. "Die schwächere Partei, die mehr zu verlieren hat, kann in der Regel mehr davon profitieren, wenn sie neutral gehalten werden."
Er verweist auf den Ukraine-Konflikt als typisches Beispiel. Die USA und ihre Verbündeten verurteilen die Neutralität gegenüber dem Krieg nicht nur aus moralischen Gründen. Sie sehen sich auch als die stärkere Seite an.
Russland seinerseits weiß, dass es mehr gewinnen kann, wenn Staaten neutral bleiben, als wenn Verbündeten ihre Unterstützung für die russische Politik offen zum Ausdruck bringen.
Entschlossenes Suchen nach Ansatzpunkten
Einigen Ländern ist es gelungen, Verärgerung von mächtigen Staaten auszuweichen, indem sie sich zurückhalten, wie Oman, einem selten erwähnten Golfstaat, der bei den Gesprächen im Vorfeld des Iran-Atomabkommens im Jahr 2015 eine entscheidende Rolle spielte.
Neutrale Staaten, die sich ruhiger verhalten, lassen sich zudem nicht so schnell in schwer lösbare Konflikte verwickeln, die nicht ihre elementaren Interessen betreffen, weshalb sie bei den meisten Konflikten völlig außen vor bleiben.
Katar hingegen scheint die Möglichkeit zu ergreifen, sich in prominente Konflikte einzumischen, selbst wenn – wie in Israel-Palästina – die Erfolgsaussichten begrenzt sind. Neutrale Staaten, so erinnert uns Lottaz, sind gut vertraut mit den Ursachen von Konflikten, die sie vermitteln.
In dem Maße, in dem Doha sein Vermittler-Image als entscheidend für seine Sicherheit ansieht, wird es entschlossen nach Ansatzpunkten für Lösungen in jedem möglichen Konflikt suchen.
Stirbt die Neutralität?
Das hat einigermaßen gut funktioniert, als die USA die einzige echte Supermacht auf der Weltbühne waren. Aber aktive Neutralität ist heute schwieriger zu verkaufen, da Washington seine Beziehungen sowohl zu Moskau als auch zu Beijing (Peking) zunehmend als Nullsummenspiel betrachtet, bei der die eine Seite verliert, wenn die andere gewinnt.
Der Beginn eines neuen Kalten Krieges hat den Staaten einen gewissen Spielraum gegeben, um diese Mächte gegeneinander auszuspielen, aber der Spielraum für eine energische Unabhängigkeit – insbesondere für kleinere Staaten wie Katar – ist immer geringer geworden. Ein paar heiße Kriege haben sicherlich nicht geholfen.
Stirbt die Neutralität also aus? Das lässt sich nur schwer sagen. Aber man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die mächtigen Staaten sie vermissen werden, wenn es sie nicht mehr gibt.
Der Artikel erscheint in Kooperation mit dem US-Medium Responsible Statecraft. Sie finden das englische Original hier. Übersetzung: David Goeßmann.