Von Gaza bis Ukraine: Führen die neuen Kriege zum Tod der Neutralität?

US-Präsident Joe Biden mit Außenminister Antony Blinken und Verteidigungsminister Lloyd Austin am 25. Januar 2023 bei einer Rede im Weißen Hauses zur weiteren Unterstützung der Ukraine. Bild: Cameron, Weißes Haus / Public Domain

Neutrale Staaten wie Katar kämpfen um einen unabhängigen Kurs. Aber das wird immer schwieriger, und die USA machen Druck. Endet damit eine Ära? Gastbeitrag.

In den letzten Monaten haben sich israelische Regierungsvertreter angewöhnt, die Hamas mit ISIS gleichzusetzen. Das dient offensichtlich Israels Interessen. In Tel Aviv hofft man, weltweit Sympathien zu gewinnen, indem der Gegner mit einer Gruppe verglichen wird, die man weithin als den Gipfel des Bösen des beginnenden 21. Jahrhunderts ansieht.

Connor Echols arbeitet für das US-Magazin Responsible Statecraft.

Aber es führt auch zu einer heiklen Frage. Wenn die Hamas tatsächlich so schlimm ist wie der Islamische Staat, warum sollten ihre Vertreter dann weiterhin in einer Reihe von arabischen Staaten Unterschlupf finden?

Im Fall von Katar, wo sich die politische Führung der Hamas seit 2012 aufhält, ist die Antwort pragmatisch. Israel braucht einen verlässlichen Vermittler, um eine Einigung über die Rückkehr der von der Hamas festgehaltenen Geiseln zu erzielen.

Doha hat seinen Wert bereits unter Beweis gestellt, indem es Gespräche ermöglichte, die die Freilassung von 105 Geiseln während eines einwöchigen Waffenstillstands im November sicherte.

Hält die Vereinbarung mit Doha?

Doch diese Vereinbarung könnte ein Verfallsdatum besitzen. Israelische Sicherheitsbeamte haben damit gedroht, die Hamas-Führer zu töten, wo immer sie sich aufhalten, selbst wenn das einen Angriff auf katarisches Gebiet bedeutet.

Gemäßigtere israelische Stimmen argumentieren, dass die Vereinbarung von Doha mit der Hamas einfach nicht von Dauer sein kann.

"Die Vereinigten Staaten und Israel müssen Doha dazu bringen, seinen Einfluss auf die Hamas zu nutzen, um einige wichtige Erfolge zu erzielen – selbst wenn Katar letztlich die Beziehungen zu der Organisation abbrechen muss", schrieb Yoel Guzansky, ein ehemaliger israelischer Sicherheitsbeamter, kürzlich in Foreign Affairs.

Während die Kriege im Gazastreifen und in der Ukraine toben, geraten neutrale Staaten zunehmend unter Druck, sich für eine Seite zu entscheiden. Die Schweiz, die einst als der Prototyp eines globalen Schiedsrichters galt, hat sich den Sanktionen gegen den Kreml angeschlossen und sogar den eigenen Luftraum für russische Flugzeuge gesperrt.

Die Erosion der Unabhängigkeit in Kriegszeiten

Finnland ist dem Nato-Bündnis beigetreten, und Schweden könnte bis zum Sommer nachziehen. Katar, das lange Zeit als idealer Vermittler zwischen Israel und der Hamas galt, muss sich möglicherweise bald zwischen seinem US-amerikanischen Gönner und der militanten Palästinensergruppe entscheiden.

Das ist bis zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. Wenn es um die Neutralität geht, ist der Krieg der Lackmustest.

Die Krieg führenden Parteien sehen ihren Konflikt fast immer als einen Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen an – eine Sichtweise, die neutrale Staaten durch ihre bloße Existenz infrage stellen.

"Nach der Theorie des gerechten Krieges ist Neutralität nicht möglich", sagt Pascal Lottaz, Professor an der Universität Kyoto und Experte für Neutralität. "Wenn das Gute gegen das Böse kämpft, ist das Nichtbekämpfen des Bösen gleichbedeutend mit auf der Seite des Bösen stehen".

Dennoch stützen sich Krieg führende Staaten seit Langem auf neutrale Instanzen als Vermittler, vor allem, wenn militärische Gewalt nur begrenzte Erfolgsaussichten hat. Was passiert also, wenn die Neutralen verschwinden?

Die arabische Schweiz

In gewisser Weise ist Katar durch Zufall neutral geworden. Der winzige Golfstaat galt bis Mitte der 1990er-Jahre als von Saudi-Arabien abhängig und verfolgte dann einen ehrgeizigen Plan, um seine Sicherheit zu gewährleisten, indem man sich mit fast allen Ländern in der zerrissenen Region anfreundete.

Einige Jahre nach Beginn dieses Projekts erkannte Doha, dass es nun einen erheblichen Wettbewerbsvorteil hatte. "Sie konnten sich strategisch so positionieren, dass sie als Vermittler zwischen Akteuren fungieren konnten, die sonst nicht miteinander reden", sagt Mehran Kamrava, Professor für Staatskunde an der Georgetown University Qatar.

Pragmatisch, wie sie sind, spielten die katarischen Beamten ihre Stärken aus und begannen, sich als arabische Schweiz zu präsentieren.

In den späten 2000er-Jahren hatte Doha bereits wichtige Friedensgespräche im Tschad, im Sudan und im Jemen vermittelt. Trotz der Krisen im Zuge des Arabischen Frühlings und eines späteren Streits mit seinen Golf-Nachbarn hat sich Katars Ruf der Neutralität gehalten.

Hochkarätige Diplomatie

Seine Diplomaten haben wichtige Gespräche zwischen den USA und ihren erbittertsten Feinden geleitet und sogar dabei geholfen, die Freilassung ukrainischer Kinder zu vermitteln, die nach Russland verschleppt wurden.

Natürlich ist Doha nicht neutral im traditionellen Sinne. Für Staaten wie die Schweiz und Österreich ist die Neutralität eine formale Verpflichtung, sich aus den Kämpfen herauszuhalten, sodass es ihnen möglich ist, ihre Sicherheit zu garantieren, ohne in den Krieg zu ziehen, so Lottaz.

Es ist eine passive Neutralität: Wenn Ihr Euch nicht mit mir anlegt, dann lege ich mich auch nicht mit Euch an.

Katars Version der Neutralität ist weniger formell und zugleich ehrgeiziger. Wie bei den traditionellen neutralen Staaten besteht das Hauptziel von Doha darin, sich in einer konfliktträchtigen Region aus der Bedrohung herauszuhalten.

Aktive Neutralität

Ein zweites wichtiges Ziel ist es jedoch, das Profil Katars so zu schärfen, dass das kleine Land Einfluss auf größere geopolitische Auseinandersetzungen nehmen kann, ohne seine Unabhängigkeit zu verlieren.

Das erklärt auch, warum höchste Beamte Katars oft direkt an Vermittlungsaktionen teilnehmen. Als die Hisbollah während einer politischen Krise im Libanon 2009 drohte, die Verhandlungen abzubrechen, rief der Emir persönlich den syrischen Staatschef Bashar al-Assad an und bat ihn, seine Verbündeten unter Druck zu setzen, um die festgefahrene Situation zu beenden.

Diese Art von Neutralität beruht auf einer Reihe von diplomatischen Konstruktionen. Ja, Katar hat eine große US-Militärbasis auf seinem Territorium, aber das macht das Land nicht zu einem Mitglied des westlichen Blocks.

Ja, Katar hat Taliban-Führer beherbergt, aber das macht das Land nicht zu einem islamistischen Verbündeten. In einer Welt, in der es nur Schwarz und Weiß gibt, ist Doha ein graues Wunder.