Von Illuminaten zu Instagram: Der Wandel der Verschwörung

Bild: valiantsin suprunovich/ Shutterstock.com

Konspirationen gibt es seit jeher – doch ihre Form hat sich verändert. Früher traf man sich im Verborgenen. Heute gibt es soziale Medien. (Teil 3 und Schluss)

Wie funktioniert eine in den vorherigen Teilen dieser Serie beschriebene öffentliche, demokratische Verschwörung aller heute konkret?

Die letzte juristische Instanz in bürgerlichen Demokratien sind mitnichten die staatlichen Gerichte, sondern die Öffentlichkeit. Nicht mehr die Weltgeschichte, sondern die Medien sind das Weltgericht. Indem diese Öffentlichkeit in großen Teilen privatwirtschaftlich eingerichtet ist, ist sie paradoxerweise der öffentlichen Kontrolle enthoben.

Das heißt, sie widerspricht ihrem eigenen Maßstab, öffentlich zu sein und funktioniert so in ihrer chaotischen Gesamtheit als modernisierte Form der Selbstjustiz. Etwa konnten in den 1960er-Jahren als Staatsfeinde wahrgenommene unbescholtene Bürger wie Benno Ohnesorg oder Rudi Dutschke durch von der demokratischen Presse Aufgehetzte öffentlich hingerichtet werden, ohne dass der Staat, in dem das alles stattfand, dafür eine gesetzlich verankerte Todesstrafe gegen Systemgegner benötigte.

Der Zweck der Selbstjustiz

Zum Zwecke des Funktionierens solcher Selbstjustiz sind die – an sich längst überkommenen – moralischen Vorstellungen der letzten Jahrhunderte konserviert worden, um sie im Zweifelsfalle gegen Delinquenten im eigenen Land oder ungern gesehene Staatsoberhäupter anderer Länder anzuwenden – man ahnt wohl bis jetzt nicht, wie viel Stabilisierung und Legitimierung die Klassenherrschaft durch solche etwa religiöse Moral immer noch erfährt.

Der Vorwurf, jemand verbreite ein "Kreml-Narrativ", richtet sich nicht nur gegen den russischen Präsidenten, sondern auch gegen alle, die hierzulande andere Meinungen als die Bundesregierung vertreten: Diese Unterstellung von Lügen bei gleichzeitiger Betonung der eigenen Rechtschaffenheit hat das Prinzip der Verschwörung beerbt.

Gibt es eigentlich auch ein Kanzleramt-Narrativ?

Wo man etwa das Wort "Kanzleramt-Narrativ" hingegen kaum vernimmt, braucht die nationale Verschwörung gegen andere Nationen keine Verschwörung der Mächtigen gegen ihre Untertanen mehr. Durch den stets aktivierten Nationalismus empfinden sich diese als eine Interessengemeinschaft, für die das Unheil nur aus dem Ausland kommen kann.

Staatsoberhäupter und sonstige politisch relevante Personen werden nicht mehr durch geheime Absprachen in kleinen Zirkeln gestürzt, sondern, wie etwa die Fälle wie der Bundespräsidenten Köhler und Wulff zeigen, durch breite publizistische Kampagnen, die an die Moral des Volkes –oder, im Zweifelsfall: der Bild-Leser – appellieren. Früher hat man die Sünder gesteinigt, heute setzt man sie einfach auf die Titelseite.

Öffentlichkeit ist immer besser als Hinterzimmer

Der Druck der Macht, der früher durch Hinterzimmergespräche ausgeübt werden konnte, wurde sogar noch optimiert, indem etwa der durch die Öffentlichkeit und damit durch das Volksurteil zu bearbeitende Politiker, etwa Erdoğan bei der Frage des Nato-Beitritts Schwedens, direkt in die Öffentlichkeit gezerrt wird.

Der Gesichtsverlust, der ihm hier winkt, ist die weitaus größere erpresserische Macht als eine in Hinterzimmer-Verhandlungen ausgeübte. Keine imperiale Macht muss heute noch einen schlecht gelittenen Staatschef qua Verschwörung aushebeln und umständlich durch einen genehmeren ersetzen; stattdessen lässt man die Öffentlichkeit empört Galle spucken und wartet einfach auf die nächste Wahl.

Alles voll demokratisch

Es geht dabei also alles vollends demokratisch zu, überhaupt nicht elitär, verschworen, im Hinterzimmer, sondern mit Zustimmung einer Bevölkerung, die in jedem demokratischen Land zufälligerweise immer genau das will, was ihre Herren auch wollen.

Die Medien "konstruieren" freilich nicht die wirklichen Phänomene (Corona, Krieg, Migration, usw.), aber sie führen doch die Rede und vor allem: die Art des Redens über diese, und damit deren Mythisierung herbei. So kommt es in einer Gesellschaft, in der die Masse innerhalb solcher bloßen Rede-Welten lebt, und auch nicht mehr zwischen den beiden Ebenen – Welt und Rede über die Welt – unterschieden wird, zur Reaktivierung des Mythos.

Der Mythos wiederum hat den Vorteil, das er nicht mühsam begründet werden muss: Er legitimiert sich durch sich selbst und scheint eine eigene, verselbständigte Existenz ausserhalb von Bevölkerung, Regierung, Medien und Gesellschaft zu führen: Der Mythos kommt praktischerweise irgendwo von draussen oder war schon immer da, er war seit je blankes Instrument.

"Verschwöffentlichkeit"

Die verschworene Gemeinde also agiert heute öffentlich, im nationalen Rahmen und vermittels von Mythen. Die Bevölkerung soll im Pakt mit ihrer Regierung zum nationalen Beutekollektiv werden.

Die jeweiligen nationalen Medien, qua Existenz dem Wohle dieses Kollektivs, also des Staates verpflichtet, der sie erzeugt, bewirtschaftet, duldet und maßregelt, sind ebenso Medium dieser Verschwörung: Diese Praxis einer explizit öffentlichen Verschwörung löst sukzessive sowohl den Begriff von Öffentlichkeit als auch den der Verschwörung auf: Öffentlichkeit und Verschwörung werden hier begrifflich eines, nennen wir sie: "Verschwöffentlichkeit".

Nur so erklärt sich, warum in einer Welt, die kaum noch der Verschwörungen bedarf, "trotzdem" – also: gerade deswegen – in einer zuvor ungekannten Breite von Verschwörungstheorien und -mythen die Rede ist:

Die früheren Verschwörungstheoretiker waren gefährlich für die Macht, die heutigen geben nur noch harmlose Spinner ab, über die sich das Bürgertum belustigen kann. Wo die Verschwörungen qua Massenideologien öffentlich geworden sind, d.h. der Mythos (heute: "das Narrativ") von allen geglaubt wird, sind weder explizite Lügen noch geheime Verschwörungen mehr nötig.

Überholte Debatten

Die dieser demokratischen Herrschaft – also letztlich sich selbst – Unterworfenen führen jene Debatten etwa über Pressefreiheit, Zensur, Meinungsfreiheit, Kunstfreiheit usw. fort, die im Mittelalter und in der Frühzeit der bürgerlichen Gesellschaft aktuell waren, ohne zu merken, dass sie heute überholt sind.

Sie klammern sich in ihrer Rede an eine Gesellschaft, die gar nicht mehr existiert, weil die Produktionsverhältnisse längst andere sind. Die Gesetze von Meinungs- oder Pressefreiheit obliegen nicht mehr dem Monarchen, sondern dem freien Markt.

Der Markt ist die Konspiration

Dieser ist es, der strukturell, und nicht bewusst zensiert und unterdrückt oder "cancelt". Konspirationen wurden durch den totalen Markt ersetzt, der etwa die Entfernung unbeliebter Personen viel besser regelt als jede Verschwörung, schon weil der Markt nur ein einziges Prinzip kennt: Popularität, also Beliebtheit auf Basis von Moral.

Wenn die gesamten Nationen verschworen ist, bedeutet das: Die Bevölkerung pflichtet dem Mythos bei, von dem sie als Realität überzeugt ist.

Das ist umso praktischer, weil im Gegensatz zu herkömmlichen Verschwörungen kaum noch wer offen lügen muss, sondern jeder seine vom Pluralismus, also der gesellschaftlichen Zersplitterung gedeckte, subjektive Meinung in seiner eigens für ihn eingerichteten sozialen Nische kultiviert, was freilich eine Gesamtlüge, den Kompromiss als kleinsten gemeinsamen Nenner zur Folge hat.

So dient die gleichzeitig chaotisch auf Einzelmeinungen begründete, aber in diesem Chaos auf nationale Grundprinzipien verpflichtete Öffentlichkeit als Apparat, der auch schwerwiegende Vorwürfe gegen die Herrschaft verpuffen lässt, indem er schon im Vorhinein jeden schwerwiegenden Vorwurf als Mythos von sich weist.

Herkömmliche Verschwörungen im kleinen Kreise funktionierten früher so: Jeder der Teilnehmer an ihr hatte ein eigenes Interesse, in dessen Sinne er dem Verschwörer-Kollektiv beitrat.

Auf ähnliche Weise wird heute in der Öffentlichkeit an das Interesse des Einzelnen appelliert: dass etwa das nationale deutsche Interesse, d.h. das der besitzenden Klasse, auch im Sinne der von deren Besitz Abhängigen, der Lohnabhängigen, der Arbeitslosen, der besitzlosen Eingewanderten usw. sei.

Dass dieser Appell verfängt, zeigt: Es gibt keine relevante Menge, die clever genug wäre, dass man sie eigens durch Verschwörungen betrügen müsste, also auch keine relevante Menge an Klassenbewussten, die man etwa am Umsturz oder nur am Klassenkampf hindern bräuchte.

Verschwörungen sind zum Großteil deswegen verschwunden, weil es keinen Grund mehr für sie gibt. Hier offenbart sich das Interesse der Verschwörungstheorie-Kritiker: ihre Erleichterung über die Abwesenheit von Verschwörungen, die sie als einen Fortschritt auffassen, ist in Wahrheit ein sehr schlechtes Zeichen. Wären Verschwörungen wieder nötig, wäre das für die Unterdrückten dieser Welt ein gutes Omen.

Darin aber, dass deren Kampf verhindert wird, liegt das öffentliche Komplott: jeder Einzelne denkt, das allen aufgedrängte, nationale Partikularinteresse sei zu seinem eigenen Nutzen – und nur deshalb will jeder an der öffentlichen Verschwörung, der "Verschwöffentlichkeit", teilnehmen. Die Grenze einer Nation bildet die Grenze der Verschworenen und nur in deren Rahmen hat sie ihre Funktion: In den Niederlanden etwa "glaubte" die Bevölkerung seit Ende März 2022 nicht mehr an Corona, und es "funktionierte": Das Virus war aus dem Sinn und damit aus ihrer Welt. In Deutschland und anderen Ländern glaubte man zur selben Zeit noch an Covid, und auch das "funktionierte", wo Funktionieren eben immer nur ein Kriterium hat: Jedes persönliche Interesse mit den Erfordernissen der herrschenden Apparatur zu vermitteln.

In Russland glauben die Leute, der Krieg in der Ukraine sei eine "Spezialoperation", in Europa und den USA glauben sie, die europäischen und amerikanischen Kriege seien "Friedenseinsätze". Die Konkurrenz des totalen Markts gleicht nicht nur die Individuen, sondern auch die Staaten immer mehr an: Wo alle unter demselben Prinzip konkurrieren, müssen alle gleich werden. Jede Nation hat ihre öffentliche Verschwörung, deshalb ist die internationale, nicht-öffentliche nicht mehr nötig. Die Zeitungen haben die Illuminaten überflüssig gemacht.

Man wird also, will man begreifen, wie es heute um das Verhältnis von Macht, Ohnmacht und Verschwörung bestellt ist, den Begriff der Verschwörung immer im Zusammenhang mit dem der Herrschaft zu vermitteln haben. Und damit auch den der ideologischen Vernebelung und des "Massenbetrugs" (Adorno/Horkheimer) der Kulturindustrie (die nichts anderes als die heute so bezeichnete "Öffentlichkeit" ist) im Zusammenhang mit dem kapitalistischen Produktionsdiktat betrachten müssen. Wer nicht von bürgerlicher Klassenherrschaft qua Ausbeutung von Arbeitskraft reden will, der sollte dann auch bitte keine Verschwörungsmythen-Kritik anstimmen.