Von Konzertveranstaltern und Schweinezüchtern

Zur aktuellen Situation von Konzertveranstaltern, Kulturarbeitern, Clubs und Spielstätten in der Corona-Krise. Teil 1

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In diesem Aufsatz wird die aktuelle Situation von Konzertveranstalter*innen, Kulturarbeiter*innen, Clubs und Spielstätten in der Corona-Krise untersucht. Er gliedert sich in vier Teile:

I. Verschiedene Formen der Ungleichheit innerhalb der Konzert- und Kulturszene
II. Wann werden Tourneen wieder stattfinden können? Wie ist die Situation der Konzertveranstalter*innen, Agenturen und Kulturarbeiter*innen?
III. Zur Analyse und Kritik der Kultur-Fördermaßnahmen unter besonderer Berücksichtigung der Maßnahmen der Bundesregierung
IV. Was tun? Plädoyer für einen Neustart Konzerte - Draußen / Drinnen

Die vier Kapitel nehmen aufeinander Bezug, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden.

(Vorbemerkung: Bis vor wenigen Jahren war es Konsens, dass als "Clubs" Spielstätten bezeichnet werden, die vor allem oder ausschließlich Konzerte anbieten. So wird der Begriff auch heute noch außerhalb der Metropolen und zum Beispiel auch von der Initiative Musik beim Spielstättenpreis "Applaus" verwendet. In den letzten Jahren allerdings hat sich in den Großstädten zunehmend der Begriff "Club" und "Clubkultur" für soziale und kulturelle Orte durchgesetzt, die ein regelmäßiges Programm vor allem im Tanzbereich, also zum Beispiel mit DJ-Auftritten, anbieten. Um derartige Clubs von denen zu unterscheiden, die hauptsächlich Konzerte anbieten, verwende ich in diesem Text für Letztere den Begriff "Venue", unterscheide also zwischen "Clubs" und "Venues".)

Nochmal: Die Konzertszene - Veranstalter*innen, Clubs und Venues, soziokulturelle Zentren mit allen Angestellten und vor allem den Hunderttausenden soloselbständigen Mitarbeiter*innen - wurde mit als erste von den notwendigen Einschränkungen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie getroffen, sie wird als allerletzte mit einer Rückkehr zum Normalbetrieb rechnen können, und keine andere Branche ist so extrem und so lange mit der Corona-Krise konfrontiert wie die Veranstaltungsbranche, immerhin der fünftgrößte Wirtschaftszweig hierzulande.

Bereits Ende März waren 84 Prozent aller Veranstaltungen abgesagt (54%) oder verschoben (30%) worden, die Zahl dürfte seitdem noch gegen 100 Prozent gestiegen sein. Und: je kleiner die Teilnehmerzahl der Veranstaltungen, desto höher der Anteil der Absagen - 70 Prozent aller Veranstaltungen mit 51 bis 100 Teilnehmern wurden abgesagt, aber nur 30 Prozent aller großen Veranstaltungen mit mehr als 1.000 Teilnehmern (in diesem Bereich wurden 64% verschoben).1 Der kulturelle Lockdown hat wenig überraschend vor allem die kleineren unabhängigen Veranstalter*innen, Clubs und Venues getroffen.

I. Über Ungleichheiten in der Konzert- und Kulturszene

Doch gibt es sie eigentlich, die einheitliche Konzertbranche mit gemeinsamen Interessen? Wohl eher nicht. In der Realität müssen wir eine massive Ungleichheit auch innerhalb des Konzertwesens konstatieren. Die Covid-19-Pandemie hat das Phänomen der Ungleichheit ja wie unter einem Brennglas deutlich gemacht. Dies gilt für die Lebensverhältnisse der Menschen in unterschiedlichen Gesellschaften ebenso wie innerhalb der Gesellschaften.

"Trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards im Weltmaßstab (…) kommt ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für wenige Wochen ohne seine ungeschmälerten Regeleinkünfte aus", hat Christoph Butterwegge für einen Teil der Bevölkerung eines der reichsten Staaten der Erde konstatiert2, während einige der weltweit profitabelsten Unternehmen wie Amazon zu den Hauptprofiteuren der Krise gehören.

Warum sollte die Ungleichheit, die sich weltweit durch alle Lebensbereiche zieht, ausgerechnet vor dem Konzertbetrieb Halt machen? Hier erleben wir die Ungleichheit auf mehreren Ebenen:

Erstens: "Die" Konzertwirtschaft, "die" Live-Szene, "die" Veranstalter gibt es nicht. Es handelt sich um eine zersplitterte, heterogene Branche mit äußerst ungleichen Voraussetzungen, und die Unterschiede haben sich in den letzten Jahren noch massiv verschärft: Auf der einen Seite finden sich weltweit operierende Konzert-Großkonzerne wie die Weltmarktführer Live Nation (Jahresumsatz 2019: 11,55 Milliarden US-Dollar), CTS Eventim (Jahresumsatz 2019: 1,44 Milliarden Euro) oder die Anschutz Entertainment Group (AEG).

Die beiden erstgenannten sind Aktiengesellschaften, verfügen über enorme Rücklagen und sind außerdem im Milliardenbereich kreditwürdig (die langfristigen Verbindlichkeiten, "long-term debts", von Live Nation beliefen sich laut Geschäftsbericht des Konzerns zum 31.12.2019 auf 3,31 Milliarden US-$; am 13.4. hat der US-Konzern mitgeteilt, aufgrund der Corona-Krise eine zusätzliche Kreditlinie in Höhe von 120 Mio. US-$ eingerichtet zu haben und damit über etwa 940 Mio. kurzfristige Kredite zu verfügen).

Und in der kapitalistischen Konzertwirtschaft ist das internationale Finanzkapital mittlerweile ein bestimmender Faktor, die Beteiligung von Hedgefonds und Private-Equity-Firmen an Konzertkonzernen ist in der Branche gang und gäbe. Von den zehn größten Live-Nation-Aktionären sind acht Hedgefonds, also die berüchtigten Kapitalorganisatoren der westlichen Welt. Ende April hat der Public Investment Fund of Saudi Arabia den Kauf von 5,7 Prozent der Aktien von Live Nation bekanntgegeben - ein Fonds, der im Auftrag der Regierung des Scharia-Staats Saudi-Arabien agiert und zum viertgrößten Anteilseigner des Konzerns wurde.

Auch etwa ein Fünftel der Aktien der deutschen CTS Eventim ist im Besitz derartiger Kapitalorganisatoren (der weltgrößte Anleihefonds und hinter BlackRock zweitgrößte Kapitalorganisator, die Vanguard Group, ist wie die Select Equity Group Großaktionär sowohl bei Live Nation als auch bei CTS Eventim), und bei der deutlich kleineren Deutschen Entertainment AG (DEAG, Jahresumsatz 2019: gut 185 Millionen Euro) sind sogar rund drei Viertel aller Aktien im Besitz von Kapitalorganisatoren.

Hinzu kommen Private-Equity-Firmen, die auf ihrer Einkaufstour durch die europäische Festivallandschaft auch vor hiesigen Festivals wie Parookaville oder Wacken nicht Halt gemacht haben, oder die gleich selbst Festivals und Veranstaltungsfirmen betreiben wie die Goodlive AG, zu der die Festivals Lollapalooza, Melt, Splash und Full Force sowie die Tourneefirma Melt! Booking gehören.

Längst haben im Konzertgeschäft nicht mehr Impresarios das Heft in der Hand, sondern das globale Finanzkapital, das auf der Suche nach Superrenditen auf den Superstarmarkt gestoßen ist.3 Das Geschäft, das diese Konzertimperien betreiben, hat schlicht gar nichts mit dem zu tun, was unabhängige Konzert- und Tourneeveranstalter, Clubs, Venues und soziokulturelle Zentren leisten, die, wenn man so will, den "Humus" für die reichhaltige und vielfältige Musikszene darstellen, die den kleinen und mittleren Acts und neuen Bands Auftrittsmöglichkeiten verschaffen und so überhaupt erst die kulturelle Vielfalt jenseits des Mainstreams ermöglichen.

Sicher, auch die Konzert-Großkonzerne schreiben rote Zahlen, Live Nation beispielsweise hat im ersten Halbjahr 2020 bereits einen Verlust in Höhe von 452 Millionen Dollar gemeldet4, was wohl vor allem mit den weltweit 273 von Live Nation betriebenen, gepachteten und/oder exklusiv gebuchten Spielstätten5 zu tun hat, die in der Pandemie-Zeit weitgehend leerstehen und gigantische Kosten verursachen. CTS Eventim hat im gleichen Zeitraum nur Verluste in Höhe von 2,7 Millionen Euro notiert6 - und konnte im Geschäftsjahr 2019 ja noch einen satten Gewinn in Höhe von gut 230 Millionen Euro verbuchen7, verfügt also über eine üppig gefüllte "Kriegskasse", die der Konzern samt seinen Tochterfirmen auch während der Pandemie weiter eifrig zur europaweiten Übernahme von Konzertfirmen nutzt.

Hinzu kommt, dass Live Nation mit der Tochter Ticketmaster und CTS Eventim über die zwei weltgrößten Ticketingfirmen verfügen - dort wird seit einigen Jahren der eigentliche Profit im Konzertgeschäft gemacht. Live Nation hat beispielsweise im Jahr 2019 im eigentlichen Geschäft, bei den Konzerten, Verluste in Höhe von 53,46 Mio. US$ ausgewiesen, aber Gewinne in Höhe von 231,96 Mio. US$ im Ticketing und 330,27 Mio. US$ im Bereich "Sponsorship & Advertising" (mit einer sagenhaften Gewinnmarge von 56%).8 Bei CTS Eventim ist es ähnlich: 2019 betrug der Gewinn (EBITDA) aus dem Live-Sektor, der knapp 70% des Konzernumsatzes ausmacht, 65 Mio. €, der Gewinn (EBITDA) aus dem Ticketing dagegen 219,3 Mio. €.9 Noch interessanter ist ein Blick auf die Bruttomarge: Bei Konzerten beträgt sie 11,1%, beim Ticketing 60,5%!

Das Ticketing hat für beide Konzerne gerade in Zeiten der Pandemie einen riesigen Vorteil: Die Einnahmen aus den Ticketverkäufen für all die zigtausend verschobenen Konzerte liegen auf den Konten der Tickethändler - und das gilt für praktisch alle Ticketeinnahmen, also nicht nur für die der von den Konzernen selbst veranstalteten Konzerte.

Ein gigantischer Cashflow-Vorteil, insbesondere für den CTS Eventim-Konzern, der hierzulande geschätzt gut 80 Prozent aller Karten im Pop-, Rock- und Schlagerbereich verkauft und der von einer äußerst problematischen und umstrittenen gesetzlichen Regelung der CDU/CSU/SPD-Koalition profitiert, wonach die allermeisten Tickets für verschobene und abgesagte Konzerte wegen der Pandemie nicht etwa erstattet werden müssen, sondern bis zum 31.12.2021 in Gutscheine für andere Veranstaltungen umgetauscht werden können.10

Die Fans, häufig selbst von Arbeitslosigkeit oder Kurzarbeit betroffen, werden verpflichtet, den Konzert-Großkonzernen einen zinslosen Zwangs-Kredit zu geben, und sie laufen Gefahr, am Ende in die Röhre zu schauen, wenn das von ihnen gebuchte Konzert nicht stattfinden wird und sie gezwungen sind, irgendein anderes Konzert zu besuchen, an dem sie gar kein Interesse haben. Es kann sogar passieren, dass der Veranstalter in der Zwischenzeit insolvent und nicht mehr in der Lage ist, das Ersatzkonzert überhaupt stattfinden zu lassen oder den Gutschein einzulösen; einem Sicherungsfonds zugunsten der Ticketkäufer*innen, wie ihn die Grünen gefordert haben, haben sich CDU/CSU und SPD nämlich ausdrücklich verweigert, sie bürden das komplette Risiko ihres Gesetzes einseitig den Fans, den "Verbraucher*innen" auf.

Zweitens gibt es einen massiven Unterschied zwischen staatlich betriebenen oder subventionierten Kulturinstitutionen auf der einen und den privatwirtschaftlichen Konzertveranstaltern auf der anderen Seite: Beide haben wirtschaftliche Verluste durch ausgefallene Veranstaltungen und mittlerweile wieder mögliche Konzerte mit stark reduzierten Teilnehmerzahlen zu konstatieren - bei den Kulturinstitutionen jedoch fängt der Staat (also Bund, Länder und Kommunen) diese Verluste komplett auf, die "freien" Veranstalter, Clubs, Venues und Kulturzentren dagegen stehen nach einem halben Jahr komplett ohne Einnahmen schlicht vor dem Nichts, zumal ein Ende des kulturellen (Teil-)Shutdowns nicht absehbar ist und man derzeit von mindestens einem weiteren halben Jahr mit entsprechenden Einschränkungen ausgehen muss, vermutlich sogar noch länger.

Letztlich werden Clubs und Venues erst dann wieder im alten Stil öffnen und erfolgreich betrieben werden können, wenn ein Impfstoff zur Verfügung steht - und wann immer der Impfstoff überhaupt zur Verfügung stehen mag, wird es laut dem Virologen und Impfexperten Klaus Stöhr "noch weitere Wochen bis Monate dauern, bis er die Hausarztpraxen erreicht".11 Mit einer flächendeckenden Impfung der Bevölkerung ist laut dem Infektiologen Clemens Wendtner "erst ab Mitte 2021" zu rechnen, "in der großen Breite wird eine Durchimpfung" laut Wendtner sogar "vermutlich erst 2022 erreicht sein".12

Wenn stimmt, was Berlins Kultursenator Klaus Lederer sagt, nämlich, "dass drinnen erst wieder gefeiert werden kann, wenn es einen Impfstoff oder ein Medikament gegen Covid-19 gibt", dann bedeutet das im Klartext, dass frühestens im späten Frühjahr, eher im Sommer 2021 überhaupt wieder Konzerte im Innenraum möglich sein können, eventuell sogar erst später - und dass die Clubkultur, wie wir sie kennen, also Tanzveranstaltungen zum Beispiel mit DJs, wohl sogar noch bis 2022 auf Eis gelegt sein wird. Eine deprimierende Perspektive für die gesamte Szene - für die Fans ebenso wie für Musiker*innen, Veranstalter*innen und Clubs und Venues. Und ob das dann überhaupt ein Konzertleben und eine Clubkultur sein wird, wie wir sie vor der Pandemie kannten, ist eine unbeantwortete Frage.

Drittens. Wir erleben außerdem eine massive Ungleichheit zwischen dem, was ich "museale Kultur" nennen möchte, und der aktuellen Zeitkultur. Mehr als 90 Prozent der offiziellen Kulturförderung hierzulande geht an die Institutionen und Akteure der musealen Kultur (was ich ausdrücklich nicht als polemischen Begriff verwende - ich bin erklärter "Fan" von Museen…), also an Philharmonien, Konzert- und Opernhäuser, Theater usw. .

Natürlich ist es wichtig, dass es jeder neuen Generation ermöglicht wird, den reichhaltigen Kulturschatz vergangener Zeiten kennenzulernen. Doch in Zeiten der Pandemie wächst die einseitige Bevorzugung der musealen Kultur gegenüber der Zeitkultur zu einem riesigen Problem: Wenn öffentlich subventionierte Häuser durch ausgefallene Aufführungen oder geringere Platzausnutzung finanzielle Engpässe aufweisen, steht die öffentliche Hand zur Defizitfinanzierung bereit, beispielsweise bei den Berliner Philharmonikern, die für 2020 mit einem Defizit von bis zu zehn Millionen Euro rechnen - Intendantin Andrea Zietzschmann konnte allerdings verkünden, ihr sei seitens der Geldgeber vom Bund wie vom Land bereits signalisiert worden, "dass dieses unverschuldet entstandene Minus im Rahmen der Corona-Hilfe ausgeglichen" werde.13

Von solchen weitgehenden und generellen Zusagen können die vielen Clubs, Venues und unabhängigen Konzert- und Tourneeveranstalter, die ja ebenfalls ein "unverschuldet entstandenes Minus" erdrückt, nur träumen. Was übrigens auch für die unabhängigen Konzertveranstalter im Klassik-Genre gilt - die Münchner Konzertveranstalterin Alexandra Schreyer hat über deren schwierige Lage dieser Tage ein beachtenswertes Interview gegeben.14.

Ähnlich sieht es für die Beschäftigten im hochsubventionierten Bereich der "musealen Kultur" aus: Intendant*innen wie fest angestellte Mitarbeiter*innen der Institutionen erhalten weiter ihre Gehälter oder Kurzarbeitszahlungen, und die freischaffenden, von staatlich subventionierten Häusern engagierten Musiker*innen, zum Beispiel Sänger*innen, die von Opernhäusern oder für klassische Konzertaufführungen gebucht wurden, erhalten für vor dem 15.3.2020 vereinbarte und dann wegen Corona abgesagte Engagements 60 Prozent der Nettogage, wenn diese unter 1.000 Euro lag, bzw. 40 Prozent bei einer höheren Gage (bis zu einer Obergrenze von 2.500 Euro).

Man muss sich natürlich fragen, warum freischaffende Musiker*innen hier gegenüber den festangestellten benachteiligt werden, die ja über ein deutlich höheres Kurzarbeitergeld verfügen, aber immerhin kam diese Regelung nach etlichen Protesten überhaupt zustande.

Und wieder gilt: von derartigen Regelungen können freischaffende Musiker*innen der Zeitkultur, also etwa im Pop, Rock oder Jazz, nur träumen, die erhalten für die vielen tausend abgesagten Konzerte der Coronära nämlich - nichts. Keinen Cent.

II. Wann und wie werden Konzerttourneen überhaupt wieder stattfinden können? Und wie ist die Situation von Konzertveranstalter*innen, Agenturen und Kulturarbeiter*innen?

Die Konzertsäle und Opernhäuser sind wieder geöffnet, die Salzburger Festspiele und das Berliner Musikfest fanden statt, wenn auch mit stark eingeschränkten Publikumszahlen - ist also wieder alles gut?

Hier entsteht ein merkwürdig irrationaler Eindruck, besonders, wenn sich Artikel darüber, dass "der Kulturbetrieb endlich wieder läuft", ausschließlich mit Spielorten der hochsubventionierten Klassik beschäftigen, also mit der Berliner oder der Kölner Philharmonie, mit dem Konzerthaus Dortmund oder dem Münchner Gasteig und den einschlägigen Opernhäusern. Die Walküre findet wieder statt, "O süßeste Wonne!", alles super für die Kulturelite, "Hojotoho! Hojotoho! Heiaha! Heiaha! Hojotoho! Heiaha!"

Dass sich keine dieser Aufführungen und keines der Konzerte mit drastisch reduziertem Publikum auch nur ansatzweise wirtschaftlich darstellen lässt, bleibt in den Feuilletons meist unerwähnt.

Wenn eine Tochterfirma der CTS Eventim AG in der vom Konzern langfristig gepachtete Berliner Waldbühne Auftritte von Roland Kaiser, Sido, Helge Schneider, Peter Maffay oder eine "Schlagernacht - Special Edition" mit den vom Berliner Senat für Freiluftveranstaltungen genehmigten 5.000 statt der dort sonst üblichen mehr als 20.000 Fans anbietet, hat das ja mit dem gewohnten Konzertbetrieb ebenso wenig zu tun wie das von der deutschen Dependance von Live Nation, dem weltgrößten Konzertveranstalter, im Düsseldorfer Stadion mit 13.000 Fans geplante Konzert von Bryan Adams, Sarah Connor und The BossHoss, das als "Renaissance der Livemusik" angekündigt worden war, ehe man sich gezwungen sah, die Veranstaltung "angesichts steigender Infektionszahlen und im Raum stehender, nachträglicher Kapazitätsbeschränkungen" in den Spätherbst zu verschieben; wann und ob das Konzert stattfinden wird, bleibt offen.

"Rechnen" würden sich all diese Veranstaltungen nicht wirklich - was für Großkonzerne wie CTS Eventim oder Live Nation nachrangig sein mag, für die kleinen und mittleren, (noch) unabhängigen Konzertveranstalter allerdings ein massives Problem darstellt.

Tatsache ist: Konzerte der Zeitkultur werden in den nächsten Monaten kaum stattfinden. Allein schon, weil das internationale Tourneegeschäft derzeit und in absehbarer Zeit daniederliegt, und der größte Teil der hierzulande stattfindenden Konzerte wird nun einmal von internationalen Acts bestritten.

Zum einen gibt es nach wie vor Einreisebeschränkungen, von denen niemand weiß, wann sie enden: Musiker*innen aus den USA dürfen aktuell und, wenn man die Pandemie-Entwicklung im Trump-Amerika näher betrachtet, sicher noch eine ganze Weile nicht nach Europa einreisen. Hinzu kommen unterschiedliche und je nach Ausbrechen von neuen Pandemieherden ständig wechselnde Quarantäneregelungen.

Aktuell verlangt die britische Regierung beispielsweise für Reisende, die in den 14 Tagen vor ihrer Einreise nach Großbritannien Länder wie Belgien, Frankreich, die Niederlande, Österreich oder die Schweiz besucht haben, eine 14tägige Quarantäne. Und die Bundesregierung führt derzeit unter anderem die Regionen Genf, Prag und Wien sowie die Länder Belgien und Frankreich (mit Ausnahme der Region Grand-Est) als Risikogebiete, was bedeutet, dass auf Reisende, die sich in den letzten 14 Tagen in diesen Gebieten aufgehalten haben, eine "Pflicht zur Absonderung" (sprich: Quarantäne) zukommt.

Dies sind nur zwei Beispiele, die verdeutlichen, dass Tourneen innerhalb Europas derzeit und perspektivisch de facto unmöglich sind - jedenfalls, solange sie die klassischen und für die Durchführung von Tourneen essentiellen Städte wie London, Amsterdam, Berlin, Brüssel oder Paris tangieren, aber auch Städte wie Prag und Wien, die ebenfalls Stationen vieler internationaler Touren sind.

Hinzu kommt der regionale Flickenteppich von nationalen und regionalen Corona-Verordnungen, der die Organisation von Tourneen unnötig erschwert; natürlich ist es sinnvoll, wenn die Verantwortlichen bei sich neu entwickelnden Corona-Hotspots Vorsicht walten lassen und strenge Auflagen machen - ansonsten sollte allerdings bundesweit eine gewisse Einheitlichkeit der Regeln herrschen.

Wenn man dann noch berücksichtigt, dass Europatourneen größerer internationaler Acts einen Vorlauf von mindestens einem Jahr benötigen und selbst kleinere Clubtourneen mindestens sechs Monate im Voraus gebucht werden, weiß man, dass bis mindestens Sommer 2021 keine internationalen Bands und Musiker*innen hierzulande auf Tour sein werden - vereinzelte Ausnahmen werden diese Regel bestätigen. Die großen US-Acts haben ihre Europatourneen bereits auf 2022 verschoben.

Dies hat für das deutsche Konzertwesen dramatische Folgen. Wenn keine internationalen Acts touren, fehlen Tourveranstaltern, örtlichen Konzertveranstaltern, aber auch den Venues, also den Konzerthallen und Clubs, die Konzerte, die ihr Überleben überhaupt ermöglichen. Keine Shows, keine Einnahmen. Die Konzertbranche kämpft tatsächlich um ihre Existenz, und nicht wenige Konzertfirmen und Mitarbeiter*innen sind bereits in den Abgrund gestürzt:

• Sowohl renommierte größere als auch einige kleinere Tourneeveranstalter und Agenturen mussten bereits ihre Firmen auflösen; andere haben ihre Büroräume aufgegeben und mussten viele Mitarbeiter*innen entlassen. Wie ernst die Lage ist, zeigt, dass eine der weltgrößten Agenturen, die amerikanische Paradigm Talent Agency, in den letzten Monaten 180 Mitarbeiter*innen entlassen hat15; Paradigm vertritt Hunderte von Musiker*innen und Bands, u.a. Superstars wie a-ha, Coldplay, Billie Eilish, Herbie Hancock, Lorde, Randy Newman und Ed Sheeran, aber auch Acts wie Billy Bragg, Bon Iver, Chuck D, diplo, FKA twigs, Flying Lotus, Sigur Rós, Stormzy oder Stromae und die hierzulande bekannten Calexico und Mighty Oaks.16

• Renommierte hiesige Indie-Agenten leben von Hartz IV oder machen Umschulungen z.B. zum Pizzabäcker (ob das angesichts ähnlicher Probleme in der Gastronomie eine kluge Entscheidung ist, bleibt dahingestellt…)

• Die etwa 700.000 soloselbständigen Kulturarbeiter*innen - also zum Beispiel Bühnenarbeiter*innen, Stagehands, Securities, Roadies, Catering-Kräfte, Tourmanager*innen, Busfahrer*innen oder Ton-, Licht- und Backline-Techniker*innen - erfahren praktisch keine Unterstützung und müssen sich mit Hartz-IV durchschlagen. Je länger der Konzert-Shutdown im Bereich der Zeitkultur andauert, desto mehr dieser Kulturarbeiter*innen werden sich andere Jobs suchen müssen und in Zukunft der Konzertszene nicht mehr zur Verfügung stehen und somit das Veranstalten von Konzerten erschweren, wenn nicht unmöglich machen.

• Etliche unabhängige kleinere und mittlere Konzertveranstalter mussten bereits aufgeben oder sehen das Fortbestehen ihrer Firmen über den Jahreswechsel hinaus in Gefahr.

• Die meisten Venues und Clubs ringen um ihre Existenz und werden weitere Monate ohne Veranstaltungen nicht durchhalten.

Ich gehe davon aus, dass etwa 25 bis 30 Prozent der unabhängigen örtlichen Konzertveranstalter, Tourneeveranstalter, Clubs und Venues einen längeren Konzert-Shutdown nicht überleben werden. Schon die bisherigen sechs Monate ohne Konzerte sind für die gesamte Branche desaströs.

Und bisherige Hilfen, etwa für die Clubs und Venues, werden leider häufig nach intransparenten Kriterien vergeben, falls es sie überhaupt gibt: In Berlin existieren umfangreiche Hilfen für Clubs und Venues, in Hamburg hat die Kulturbehörde einen Schutzschirm aufgespannt und fördert die Club- und Venueszene mittels eines "Live-Concert Accounts" - während in vielen Bundesländern laut "LiveKomm"17 gar keine Clubförderung existiert, etwa in Baden-Württemberg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen.

Doch selbst da, wo es Hilfen für Clubs und Venues gibt, bestehen massive Probleme: Die staatlichen Finanzspritzen sind in der Regel viel zu gering dosiert, wie Pamela Schobeß, Vorsitzende der Berliner Clubcommission, betont:

"Wenn wir ehrlich sind, sind wir im Grunde eigentlich alle insolvent oder zumindest die meisten von uns, weil wir keine Rücklagen haben."18

Und Nanette Fleig vom legendären Berliner Club SO36 berichtet von einem anderen Problem: Schon früh in der Corona-Krise sammelte der Club Spenden, um die monatlichen 23.000 Euro Fixkosten zu stemmen. Genau wegen der paar Tausend Euro Spenden hat das SO36 aber keinen Euro der später aufgelegten Sonderhilfe des Senats erhalten.19 Generell fallen Clubs, die auf Sparflamme ihre Arbeit wieder aufgenommen oder Spenden gesammelt haben und entsprechend buchhalterisch "deckungsbeitragsfreie" Umsätze verzeichnen können, just wegen dieser meist marginalen Umsatzsteigerungen aus der staatlichen Förderung heraus, werden also dafür bestraft, aktiv zu sein und sich gegen das Corona-Desaster zu stemmen.

David Süß, einer der Betreiber des renommierten Münchner Clubs Harry Klein, stellt fest:20

"Die Clubs sind genauso wichtig wie die Staatsoper. Entweder lässt man uns hopsgehen, oder die Solidargemeinschaft entscheidet, dass Branchen wie unsere Entschädigungen bekommen, bis wir wieder öffnen."

Wenn nicht rasche und substantielle Hilfe geleistet wird, wird die reichhaltige Konzert- und Clubszene, wie wir sie kennen und schätzen, im Jahr 2021 schlicht nicht mehr existieren. Damit ist die sowieso durch die Imperiengeschäfte der Großkonzerne im Konzertbereich bereits ausgehöhlte kulturelle Vielfalt unserer Gesellschaft so stark in Gefahr wie vermutlich noch nie in der Geschichte.