Von Russland befreit, bis zum Ruin verwestlicht, von Krisen überrollt
Die Ukraine in den Zeiten von Corona - Teil 1
Anderthalb Jahre ist es her, dass der Schauspieler Wolodymyr Selenskyj, von seinem als Seifenoperkomik vorgetragenen Moralisieren über gute und vor allem schlechte Politik dazu gedrängt, echte Verantwortung zu übernehmen, seinen Entschluss verkündet hat, in die Politik zu gehen. Von der begeisterten und massenhaften Zustimmung der Bevölkerung, die ihn ins Präsidentenamt befördert und seiner neu gegründeten Partei "Diener des Volkes" die absolute Mehrheit im Parlament beschert hat, sind mittlerweile nur noch klägliche Reste verblieben.
Auch wenn er dieser Lage mit einem hysterisch schnellen Auswechseln des Regierungspersonals Herr zu werden versucht - die katastrophale Lage des Staats liegt nicht an der "mangelnden politischen Erfahrung" seiner ersten Regierungsgarnitur; sie liegt auch nicht am Generalübel der "Korruption", der Diagnose, mit der er seinen Wahlkampf bestritten und eine groß angelegte Säuberungsaktion in der herrschenden Klasse und ihrem Beamtenapparat in Auftrag gegeben hatte.
Es folgen noch die Kapitel:
II. Die Forderungen des IWF: Respekt vor den Regeln der Marktwirtschaft erzwingen!
III. Eigenheiten der ukrainischen Demokratie
IV. Krieg und Frieden im Donbass
V. "Westernization" der ukrainischen Armee
Es ist einfach so, dass Staat, Wirtschaft und Gesellschaft in der Ukraine im Zuge der Intensivbetreuung, die ihnen die USA und die EU in Sachen Russenfeindschaft, Verwirklichung von Marktwirtschaft und Demokratie seit dem Putsch vor sechs Jahren angedeihen lassen, zugrunde gehen. Der damals in Kiew an die Macht gebrachte fanatische Antirussismus spaltet die Gesellschaft und die politische Klasse in sich unversöhnlich gegenüberstehende Lager, die gleichwohl zu einem gesitteten demokratischen Miteinander aufgerufen sind; er zerstört mit der auftragsgemäß immer konsequenteren Kündigung der Kooperation mit Russland, von der die ukrainische Wirtschaft bis heute abhängig ist, die überkommenen Lebensgrundlagen der Nation. Die rasant wachsenden Schulden, mit denen der Staat wirtschaftet, spendieren IWF, Weltbank und andere Wohltäter, verlangen der Regierung als Preis für ihre guten Dienste in allerhöchster Not aber auch ultimativ "Reformen" ab, die den Krieg der verschiedenen Lager im Land gehörig anheizen. Neue Lebensgrundlagen stellen sich trotz der Ratschläge der besten Experten für erfolgreiche Haushaltskonsolidierung und Wachstum nicht ein. Das Volk passt sich an die neuen Lebensverhältnisse an und stirbt vor allem wegen Alkoholismus, HIV, Tuberkulose, Cholera und anderer Krankheiten durchschnittlich etliche Jahre früher; wer kann, sucht sein Glück im Ausland, sodass aus den 55 Millionen Bürgern der Ukraine zu Sowjetzeiten inzwischen offiziell 42 geworden sind.
Zu alldem kommt schließlich noch eine weitere Krisenlage: Die durch die Führer der westlichen Welt zu einem antirussischen Bollwerk hergerichtete und in ihrer ganzen staatlichen Existenz von deren Alimentierung abhängige Ukraine bekommt Trumps Desinteresse gegenüber ihrem heiligen Krieg zu spüren und kann sich angesichts der aufgemischten Weltlage auch nicht mehr sicher sein, wie viel die Protektion der europäischen Schutzmächte heute wert ist.
Kurz: Besser gerüstet für die Bewältigung der Corona-Pandemie könnte die Ukraine kaum sein.
I. Der Schuldenstaat zwischen drohendem Default und Erpressung des IWF
In der Krise schon vor der Corona-Krise
Zu Beginn des Jahres kommen Beratungen von Regierungsmitgliedern und Vertretern der Nationalbank an die Öffentlichkeit, in denen sich der Premierminister darüber auslässt, dass der Präsident null Ahnung von Wirtschaft hat, er selber aber auch nicht, was insofern nicht gut ist, weil es mit der Wirtschaft ziemlich den Bach runtergeht. Hontscharuk: "Selenskyj hat nur ein sehr schlichtes Verständnis der Wirtschaftsprozesse. Er versteht, dass es eine Zahlungsbilanz gibt. Die Zahlungsbilanz sieht sehr schlecht aus... Und für einen Präsidenten ergibt all das die Vorstellung, dass die Lage nicht unter Kontrolle ist. Wir verstehen es nicht, wir haben keine Pläne. Und wir haben ja wirklich keine... Das Wirtschaftswachstum wird niedrig sein ... und Behauptungen wie: ‚Diese Reformen geben der Wirtschaft den Todeskuss‘ oder ‚die Sorosjata1 sind gekommen und die Wirtschaft wächst weniger‘ werden folgen... Was den Haushalt angeht, ich weiß nicht, wie man das richtig machen soll. Es gibt keine Lösung." (112.ua, 15.1.20)
Diese für Führungspersönlichkeiten ungewöhnlichen Bekenntnisse zur eigenen Rat- und Hilflosigkeit beruhen darauf, dass der Haufen sogenannter "junger Reformer", der unter dem flotten Namen "Ze!Team" in die Kommandohöhen der Staatsmacht eingerückt ist, eben vom Gegenteil, nämlich fest davon überzeugt war, dass sie jetzt in der Ukraine endlich einmal alles richtig machen würden, sodass es mit der Wirtschaft unweigerlich aufwärtsgehen müsste. Ihr Programm hat, ganz nach den langjährigen Forderungen der Schutzmächte, darin bestanden, mit dem Grundübel "Korruption" aufzuräumen, unter dem die Nation angeblich leidet. Und zweitens sollten endlich energisch "Reformen" umgesetzt werden, die Her- und Zurichtung des ukrainischen Staatswesens nach dem Muster der erfolgreichen Veranstalter von Marktwirtschaft & Demokratie, was bislang an Unfähigkeit oder Widerstand des Amtsvorgängers Poroschenko und seiner Vorgänger gescheitert sein soll. Und ebendiese Überzeugung, dass man doch mit bestem Willen nichts als die westlichen Erfolgsrezepte befolgt hat, stellt die Mitkämpfer Selenskyjs vor das Rätsel, warum sie lauter bestürzende Tatsachen registrieren müssen.
Kurze Zeit später setzt der Chef die Regierungsmannschaft vor die Tür und zieht höchstpersönlich eine schonungslose Bilanz2:
Nach nur zwei Monaten des neuen Jahrs beläuft sich die Verfehlung der Haushaltsziele schon auf beinahe 16 Milliarden Griwna... Davon entfallen 13 auf Ausfälle bei den Zolleinnahmen... Man hat uns was von einem entschiedenen und kompromisslosen Kampf gegen den Schmuggel erzählt. Aber jetzt sieht es so aus, als ob der Schmuggel in diesem Kampf den Zoll ausgeknockt hat... Rückgang der Industrieproduktion um 5 %... Der Ruhm der Ukraine als Industrienation gerät langsam zu einer Rückblende. Wir riskieren beim Reden über unser industrielles Potential, dass die Leute bald sagen: ‚Das ist lange her, und es war nicht wahr‘... Bei den Gas- und Stromrechnungen gab es im Januar und Februar ein einziges Chaos... Manchmal waren sie geringer, manchmal nicht. Einige Leute sollten eine Gebühr für die Gaslieferung für einige Monate im voraus zahlen. Woanders wurden welchen, die überhaupt kein Gas beziehen, Preise berechnet... Unser nächstes Leiden ist die Lage der Bergleute und der Kohleförderung... In erster Linie geht es um die Löhne der Bergleute und den Verkauf ukrainischer Kohle. ... mehr als 11 Millionen Rentner. Leider gibt es keine klaren Auskünfte über die Anhebung der Renten... Ähnlich ist die Lage im Gesundheitssektor.
Das Haushaltsdefizit 2019 ist fünfmal größer ausgefallen als im vorhergehenden Jahr, die hoffnungsfroh deklarierten neuen Geldquellen sprudeln nicht; weder im Zoll, weil die Zollbeamten das dort eingesammelte Geld lieber nicht an den Finanzminister abführen, sondern weiterhin mit den Schmuggelbanden kooperieren, noch kommen die veranschlagten Einnahmen aus dem Privatisierungsprogramm zustande: "Wie immer sind im Haushalt die erwarteten Einkünfte aus der Privatisierung von Staatseigentum ausgeblieben." (UNIAN, 27.12.19) Die Industrie bleibt den versprochenen Aufschwung hartnäckig schuldig und schrumpft dahin. Der Versuch, die Gaspreise zu senken, die das Volk nicht zahlen kann, trifft auf Energieversorgungsunternehmen, die, selbst am Rande der Pleite, intelligente Lösungen für ihr Problem drohender Mindereinnahmen brauchen und finden: Sie schröpfen einfach das Volk. Arbeiter, Rentner und das Gesundheitswesen bekommen das Geld nicht, das Selenskyj ihnen zukommen lassen will, das im Haushalt aber nicht aufzufinden ist...
Ein Erfolg der "Öffnung" und der Assoziierung mit der EU
Das Objekt des entschiedenen Reformwillens der Regierung, die ukrainische Ökonomie, befindet sich im Zustand fortschreitender Degeneration, weil sie erst den Schock der Transformation über sich hat ergehen lassen müssen; dann hat der per Putsch durchgesetzte Lagerwechsel und der Krieg im Osten die Betriebe fast gänzlich von ihren arbeitsteiligen Beziehungen zu russischen Unternehmen abgeschnitten, und schließlich sind sie inzwischen der Konkurrenz vor allem des EU-Kapitals ausgesetzt, das dank des Assoziationsabkommens jetzt auch den ukrainischen Markt okkupiert. Die berühmte "Öffnung", die angeblich den Anschluss an die europäische Wohlstandszone bewirken sollte, führt zu nichts anderem als zur fortschreitenden Deindustrialisierung des Landes.3 Das ehemalige industrielle Schwergewicht der Sowjetökonomie - mit einem Potential von der Schwerindustrie bis hin zu Abteilungen der Raumfahrt-, Raketen- und Flugzeugindustrie - scheitert am Maßstab der Rentabilität. Dass der "Ruhm der Industrienation Ukraine" unter "Es war einmal" fällt, bestätigen auch die Buchhalter des IWF:
Die Ukraine gehört zu den 18 Ländern auf der Welt, deren Wirtschaftsleistung während der Periode von 1990 bis 2017 zurückgegangen ist, sie liegt auf dem fünftletzten Platz.
(112.ua, 10.3.20)
Das Privatisierungsprogramm, mit dem die Regierung sich nicht nur wachsende Haushaltsmittel beschaffen, sondern auch Auslandsinvestitionen attrahieren wollte, um ein Wachstum in Gang zu setzen, ist sowohl unter den Vorgängerregierungen wie unter Selenskyj gescheitert:4 Der größte Teil der Anlagen und Ausrüstungen ist nicht nur moralisch veraltet, sondern auch physisch verschlissen.5 Zwar wird ein großer Bestand an Betrieben in Staatsbesitz auf Kosten der Staatskasse aufrechterhalten, als notwendige Voraussetzung für das gesellschaftliche Überleben und die Geschäfte der Privaten, aber ohne dass sich dies "lohnt", sodass unter der marktwirtschaftlichen Rechnungsweise die Verschuldung der 48 größten Staatsbetriebe nach Angaben des IWF auf fast 20 Prozent des Bruttosozialprodukts wächst. Das Interesse auswärtiger Investoren am Erwerb ukrainischer Industriebetriebe, auf das sich die gesamten Hoffnungen der Regierenden wie auf ein Allheilmittel richten, fällt dementsprechend aus: Es ist nicht vorhanden.6
Diese in ihrer Reproduktion elementar gefährdete Gesellschaft bekommt es nun auch noch mit der Pandemie zu tun.
Die Corona-Krise
Die Obrigkeit schickt ihr Volk zu großen Teilen in die Quarantäne, allerdings hat aufgrund der nur spärlichen marktwirtschaftlichen Benützung "ungefähr die Hälfte der Ukrainer keine für die gesamte Quarantäne-Periode ausreichenden Ersparnisse" (UNIAN, 4.4.20). Dazu kommt, dass die Überweisungen der zahlreichen Arbeitsemigranten und damit der Unterhalt ihrer Familien entfallen,7 denn dank der nationalen Seuchenpolitik der europäischen Staaten werden mehr als 1,5 Millionen Arbeitsemigranten in ihre Heimat zurückgescheucht, die ihnen schon vorher keine Gelegenheit geboten hat, sich zu ernähren - deshalb sind sie ja gegangen -, und die tut das unter den heutigen Bedingungen noch viel weniger;8 schließlich sind auch die verbliebenen heimischen Arbeitsplätze gefährdet:
Die Hälfte der ukrainischen Unternehmen würde eine längere Quarantäne nicht überleben ... während 29 Prozent den Betrieb schon eingestellt haben (typisch für das Kleingewerbe). 51 Prozent der Unternehmen können nur einen Monat überleben, ohne bankrottzugehen.
(UNIAN, 3.4.20)
Die Regierung setzt ein Programm zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit in die Welt - "Armut mit Arbeit. Wie die Regierung 500 000 Arbeitsplätze schaffen will und wie viel sie bezahlen wird" (strana.ua, 23.4.20) - wobei Selenskyj wie schon großen historischen Vorbildern die Autobahnen einfallen:
Ich schlage vor, dass die Regierung einen eigenen Mechanismus entwickelt, um Millionen zusätzlicher Jobs in der Ukraine zu schaffen... Tausende Kilometer neuer Straßen und Infrastruktur-Objekte werden den nötigen Anstoß für die wirtschaftliche Entwicklung und die Entstehung neuer Jobs geben.
(president.gov.ua, 1.4.20)
Bei der Ankündigung bleibt es aber, weil der Haushalt die Finanzmittel für die geplanten Hungerlöhne nicht hergibt.
Der Präsident erklärt seinem Volk die neue "Aufgabe zu überleben": "Was jetzt ansteht, ist nicht Bequemlichkeit, sondern Überleben. Wir haben Brot, Butter, Milch, Getreide..." (112.ua, 17.4.20), und er kommt nicht von ungefähr auf Brot und Butter, weil in seinem Land, das mit die fruchtbarsten und größten Landwirtschaftsgebiete weltweit besitzt, die Lebensmittelversorgung nicht mehr garantiert ist: Der Export der Agrarprodukte ist zum gewichtigsten Beschaffer von Devisen geraten - "40 Prozent der Devisenerträge werden durch Agrarexporte generiert" (112.ua, 9.4.20). Obwohl die Regierung damit droht, notfalls Exportverbote zu verhängen, werden wachsende Mengen ausgeführt - "hard currency"-Devisenerträge sind ja in der Krise nötiger denn je;9 und weil dann auch noch Nachbarländer Exportstopps für Lebensmittel verhängen, wird die elementare Versorgung nicht nur durch rapide steigende Preise, sondern auch durch sinkende Mengen gefährdet.
Der neue Premierminister führt Quarantänebestimmungen ein, erklärt aber gleich dazu, dass sowohl der ukrainische Staat als auch sein Volk sich das verlangte social distancing eigentlich nicht leisten können:
Der Stillstand eines bedeutenden Teils der nationalen Wirtschaft kann nicht für länger andauern... Die Leute müssen Geld verdienen, die Wirtschaft muss loslegen. Die Ukraine ist auch kein reiches Land, das es sich leisten kann, sechs Monate lang untätig zu bleiben, zu Hause zu sitzen und Fernsehen zu schauen... Die Regierung hat die Liste der Aktivitäten verlängert, die während der Quarantäne stattfinden dürfen, unter anderem der Verkauf von Autoersatzteilen, Geflügelzucht und der Betrieb aller Arten von Finanzinstituten, einschließlich von Pfandhäusern und Genossenschaftsbanken.
(Schmyhal, UNIAN, 4.4.20)
Elementare Freiheitsrechte wie der Gang ins Pfandhaus bleiben wegen massenhafter Armut erhalten, während sich aus demselben schlichten Grund einzelne Quarantänemaßnahmen nicht durchhalten lassen; die Sperrung der offenen Bauernmärkte schließt die Bevölkerung von deren - im Vergleich zu den Supermarktketten - billigeren Lebensmitteln aus und provoziert auch Proteste der Bauern; die Sperrung des öffentlichen Verkehrswesens wird durch einige Bürgermeister wieder aufgehoben, weil sonst das Krankenhauspersonal nicht zu seinen Arbeitsplätzen kommt. Die Ausbreitung der Seuche fällt dann auch noch aufs Glücklichste mit der Eröffnung der 2. Etappe einer Reform des Gesundheitswesens am 1. April zusammen, einer Reform, die sich der Herstellung von mehr "Effizienz", genauer: mehr "Kostenersparnis", verschrieben hat. Aus der Idee, die aus der realsozialistischen Vergangenheit ererbte kostenlose Gesundheitsversorgung durch eine aus Abzügen vom Lohn finanzierte Versicherung zu ersetzen, ist nie etwas geworden, weil die Einkommen der meisten Ukrainer das nicht hergeben, manche Kliniken überstanden diese Versuche nicht, das Personal verschwand in großer Zahl im Ausland. Die staatliche Zuständigkeit wurde unter dem Titel der "Dezentralisierung" erfolgreich auf die unteren staatlichen Ebenen verschoben, sodass deren "mangelhafte Finanzierung" der Gesundheitseinrichtungen wiederum "durch direkte formelle und informelle Zahlungen von Patienten und deren Familien kompensiert [wird]. Mittlerweile machen diese 43,4 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben in der Ukraine aus." (Ukraine-Analysen Nr. 106, 11.9.12)
Auswärtige Berater missverstehen diese Verschiebung einer Not auf die andere gerne als Paradefall der in der Ukraine endemischen Korruption.
Die jetzige Etappe der unter Selenskyjs Vorgänger Poroschenko beschlossenen Reform soll die Gesundheitseinrichtungen mit einer Rechenweise nach dem Prinzip "Das Geld folgt den Patienten"10 finanzieren, die aktuell zu einer grandiosen "Unterfinanzierung" führt:
50 000 Angestellte im Gesundheitswesen könnten aufgrund des neuen Finanzierungsmechanismus arbeitslos werden. Ebenso werden 2020 an die tausend Krankenhäuser weniger Finanzmittel erhalten als 2019, und 332 medizinischen Einrichtungen droht die Schließung. Bei Notfallmedizin, interdisziplinären Krankenhäusern, onkologischen Zentren, Krankenhäusern für Veteranen, den meisten Kinderkliniken, psychiatrischen Einrichtungen und solchen für Tuberkulose-Patienten besteht das Risiko der Unterfinanzierung."
(President spoke about complaints that he received from health workers, 112.ua, 4.5.20)
Angesichts dieser Auswirkungen der immerhin unter ihm in Kraft gesetzten "zweiten Reformstufe" kommen dem Präsidenten persönlich gewisse Zweifel am Nutzen dieser Reform, ebenso dem neuen Gesundheitsminister11:
Das ist keine Optimierung. Man muss die Dinge beim Namen nennen. Das ist ein Abbau. Das ist ein banaler Abbau medizinischer Mitarbeiter. Die Konsequenzen werden, wenn wir das nicht jetzt stoppen, folgende sein: Mindestens bekommen wir in zwei bis drei Jahren eine Erhöhung der Tuberkulose-Rate um 30 Prozent. Wir bekommen eine erhöhte Sterblichkeit durch Tuberkulose und einen Abbau der medizinischen Mitarbeiter, der nach Tausenden zählen wird.
(Nowoje Wremja, 25.4.20)
Das Gesundheitsministerium muss dann auch noch feststellen, dass das medizinische Personal ein Fünftel aller Covid-19-Infizierten ausmacht, "wir haben eine der weltweit höchsten Infektionsraten bei medizinischem Personal" (Rfe/rl, 30.4.20), weil es an der notwendigen Schutzausrüstung mangelt. Und der Präsident, der die Moral des Personals mit einer 300-prozentigen Lohnerhöhung ehren will, macht sich zur Lach- bzw. Hass-Nummer, weil das Geld - wie fast immer bei seinen Versprechungen - nicht eintrifft.12
Ein Haushalt ohne Geld
Das Rezept der westlichen Länder, Geld in die Gesellschaft zu pumpen, um das Überleben der ökonomischen Subjekte zu retten, ist in der Ukraine nicht zu machen, weil schon im "normalen" Haushalt zugesagte Gelder immer wieder nicht vorhanden waren. Die jetzige Haushaltspolitik versucht sich wieder an der Aufgabe, durch die Plünderung der Regionen mit Hilfe einer enormen Verlagerung der Steuereinnahmen von den Regionen zur Zentrale sowie durch Appelle an die Betriebe Geld einzutreiben:
Die Unternehmen werden dem Haushalt nicht 1,5 Milliarden USD, sondern 2,5 Milliarden übertragen müssen... Es gibt Zweifel, ob dieser Betrag zustande kommen kann.
(112.ua, 15.4.20)
In beiden Fällen herrschen nämlich begründete Zweifel daran, ob die Betreffenden der Anweisung überhaupt Folge leisten; auf dem Land müssten dann alle möglichen Einrichtungen geschlossen werden. Daher werden solche Beschlüsse auch teilweise widerrufen, oder es bleibt bei folgenlosen Ankündigungen. Im Resultat wird der Haushalt laufend geändert, weil in der gesamten parlamentarischen Haushaltsberatung nichts anderes als ein Krieg ums Geld geführt wird, zwischen der Obrigkeit, den Regionen und den mächtigen Wirtschaftssubjekten. Mit der Zusage von Geldern, deren Zuteilung dann gar nicht stattfindet, einem Haushalt, der zum großen Teil fiktiv bleibt, entlarven die Regierenden selbst ihre Pose einer energischen Krisenbekämpfungspolitik als Schein: Der neue Premier Schmyhal verkündet die Einrichtung eines Stabilisierungsfonds und wofür er alles verwandt werden soll, während noch überhaupt nicht feststeht, ob dieser Fonds überhaupt zustande kommt, d.h. wer ihn überhaupt füllt.13
Schließlich - und das wissen irgendwie auch alle - steht und fällt der Schein eines staatlichen Haushalts, einer finanziellen Bewirtschaftung der Gesellschaft durch den Staat mit der Genehmigung neuen Kredits durch den IWF, d.h. ohne den ist der ganze Haushalt sowieso Makulatur,14 denn es sind allein die IWF-Kredite, die seit 2014 verhindern, dass die Ukraine offiziell den Staatsbankrott erklären muss.
Die Staatsgewalt in der Schuldenfalle
In Gestalt seiner Stand-by-Abkommen stiftet der IWF seit Jahren so viel an staatlicher Zahlungsfähigkeit, dass die Ukraine die Bedienung und Tilgung der Schulden zu leisten imstande ist und sich auf die Weise als Schuldner eine gewisse Geschäftsfähigkeit erhält, sodass sie auch auf dem Finanzmarkt Kredite aufnehmen kann. Diese Rettungsaktionen verknüpft der IWF wie üblich mit einem Regime, das den Schuldner auf solides Haushalten und konsequentes Reformieren verpflichtet. Weil er dabei regelmäßig auf eine Mischung aus Unwillen und Unfähigkeit der ukrainischen Regierenden stößt, den Auflagen nachzukommen, und auch aufgrund der Tatsache, dass sich der neue Staatschef im Wahlkampf Sympathien mit Äußerungen der Art erworben hat, der IWF solle sich seine Vereinbarungen in den Arsch stecken, befinden es die Herren des internationalen Kredits für erforderlich, die nötige Einsicht in die kapitalistische Notwendigkeit auf brachialem Weg herzustellen: Sie setzen erst einmal die Auszahlung der im Rahmen des Abkommens zugesagten Kredittranche aus und neue Verhandlungen an, um die Herrschaft in Kiew spüren zu lassen, wie teuer Unbotmäßigkeit gegenüber dem IWF werden kann.
Mit vollem Erfolg: Es entwickelt sich eine kleine Schuldenkrise. Zur Bedienung bzw. Tilgung der fälligen Altkredite sieht sich die Ukraine auf den Finanzmarkt verwiesen und findet in Zeiten von Null- und Negativzinsen glatt Investoren, die sich für ihren Mut, sich auf ein "hochriskantes"15 Gebiet zu begeben und ukrainische Schuldtitel zu kaufen, mit einer hohen - zeitweilig der weltweit höchsten - Verzinsung belohnen lassen. Das kleine Folgeproblem: Durch die Bedienung der Altschulden wächst die Gesamtverschuldung mit neuer Geschwindigkeit:
Wir mussten ungefähr 100 Millionen Dollar aufs Jahr mehr zahlen, um einen solchen ‚Ersatz‘ von IWF-Kredit durch teure Privatkredite zu bedienen. Aber das Problem der Bedienung öffentlicher Schulden wird sich der Ukraine im nächsten Jahr genauso akut stellen.
(Ukraine-IMF cooperation: Myths and reality, 112.ua, 16.12.19)
- und es fragt sich, wie sich der Staat jemals wieder dieser Lasten entledigen können soll:
Am 15. Oktober hat das Finanzministerium wieder Regierungsbonds für eine Gesamtsumme von 45 Millionen USD platziert mit einem Rückzahlungsdatum vom 15. Januar und 30. September 2020 sowie vom 29. September 2021... Von Januar bis September 2019 hat das Finanzministerium schon 194.8 Milliarden UAH (7,7 Milliarden USD), 3,8 Milliarden USD und 189 Millionen Euro aufgenommen! Wer wird warum diese riesigen und sehr teuren Schulden zahlen?" (112.ua, 18.10.20) "Die Hontscharuk-Regierung hat eine Pyramide von Staatsanleihen aufgebaut, aus der es fast unmöglich ist, wieder herauszukommen.
(112.ua, 6.3.20)
Vervollständigt wird dieses unschöne Szenario dann durch eine durch den Einbruch von Corona ausgelöste heftige Kapitalflucht: "Unter dem Eindruck der Doppelkrise von fallenden Ölpreisen und Coronavirus riet die US-Investmentbank Morgan Stanley vor einigen Tagen ihren Kunden, ‚die Ukraine zu verkaufen und Ägypten zu kaufen‘." (Junge Welt, 24.3.20) Es entfaltet sich ein Kampf aller Parteien um im Land verfügbare Dollars, die inflationserfahrenen Bürger stürmen die Banken, und die Reserven der Nationalbank schwinden. Die Nationalbank findet keine Käufer mehr für neue Obligationen und Bonds, während die Ukraine im zweiten Quartal Auslandsanleihen in Höhe von 5,5 Milliarden US-Dollar zurückzahlen muss. Aber der IWF lässt sich Zeit.
Die Kritik an der Nationalbank wächst, dass sie in der Krise mit dem Verkauf ihrer Dollars die Abwertung der Griwna zu bremsen versucht, anstatt sie zur Bekämpfung der Pandemie einzusetzen; und überhaupt wird deren Währungs- und Zinspolitik nach Maßgabe der IWF-Richtlinien als Grund des Niedergangs ausgemacht. Der Standpunkt, dass es besser sei, den Default zu erklären, um die Schulden und das IWF-Regime loszuwerden, gewinnt immer mehr Zuspruch - sodass Selenskyj seine Sprecherin schon mit höchstem Pathos unter Berufung auf die zu rettenden Menschenleben vor solchen Kalkulationen warnen lässt.16
Peter Decker ist Redakteur der politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt, in dessen aktueller Ausgabe der vollständige Artikel ebenfalls nachzulesen ist.