Von der "Afghanisierung" des Krieges
Was hat die Nato in den letzten zwanzig Jahren in Afghanistan erreicht? Die Antwort ist bitter: Praktisch nichts
Nach zwei Jahrzehnten soll der längste Krieg der amerikanischen Geschichte beendet werden. Vor wenigen Wochen verkündete Joe Biden den vollständigen Abzug seiner Truppen aus Afghanistan. Als Stichtag nannte er ein symbolträchtiges Datum, den 11. September 2021. Nun ist klar, dass die rund 3.500 verbliebenen Truppen - die genaue Anzahl ist aufgrund der Intransparenz des Pentagons praktisch unbekannt - noch in diesem Monat abziehen sollen.
Der Luftwaffenstützpunkt Bagram, Dreh- und Angelpunkt des US-Krieges im Land, wurde von den Amerikanern bereits verlassen - in einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Anscheinend wurden die afghanischen Alliierten über den Abzug aus der Basis nicht in Kenntnis gesetzt.
Ein Ende des Krieges am Hindukusch ist allerdings nicht in Sicht. Trotz des US-Taliban-Deals, der im Frühling 2020 im Golfemirat Katar unterzeichnet wurde, haben sich die Kampfhandlungen sogar intensiviert. Seit Mai wurden über 100 Distrikte von den Taliban erobert.
Während sich die internationalen Truppen aus den meisten Gefechten heraushalten, ist eine zunehmende "Afghanisierung" des Krieges zu beobachten, sprich, Afghanen töten Afghanen. Wie gewohnt, sind die meisten Opfer Zivilisten. Laut den Vereinten Nationen wurden zwischen Januar und März 2021 mindestens 1,783 afghanische Zivilisten oder verletzt.
Währenddessen liefen die innerafghanischen Gespräche zwischen den Taliban und der afghanischen Regierung von Präsident Ashraf Ghani alles andere als erfolgreich ab. Ein Grund hierfür ist auch der nahezu vollkommene Ausschluss der afghanischen Zivilgesellschaft sowie Menschen- oder Frauenrechtlern.
Taliban-Führer, Warlords oder korrupte Politiker lassen ihren Egos freien Lauf
Stattdessen sind es Taliban-Führer, Warlords oder korrupte Politiker, die in erster Linie ihren Egos freien Lauf lassen. Warum es zu solchen Zuständen überhaupt erst gekommen ist, darf nicht vergessen werden. Immerhin war es die westliche Staatengemeinschaft, die im Laufe ihrer "Demokratisierungsmission" viele der genannten Akteure hofiert hat.
Es ist unwahrscheinlich, dass sich dieser Umstand innerhalb weniger Wochen ändern wird. Umso vorhersehbarer ist eine Fortführung des "längsten Krieges", der für viele Afghanen ohnehin nur die eine Seite der Medaille darstellt. In Afghanistan herrscht nämlich nicht "erst" seit zwanzig Jahren Krieg, sondern seit vier Jahrzehnten. Ein Rückblick in die Vergangenheit könnte auch verdeutlichen, welche Szenarien nach dem Abzug eintreten könnten.
1989 verließ der letzte sowjetische Soldat Afghanistan. Die kommunistische Diktatur von Mohammad Najibullah in Kabul konnte sich allerdings drei weitere Jahre halten. Sowjetische Militär- und Geheimdienstberater verblieben in Kabul, während regierungsfreundliche Milizen zunehmend an Einfluss gewannen. Gestürzt wurde die Regierung erst, nachdem der Geldfluss aus Moskau gestoppt wurde und die Mudschaheddin-Rebellen daraufhin die Hauptstadt erobern konnten.
Neu gegründete Milizen
Ähnliche Entwicklungen sind auch gegenwärtig in Afghanistan zu beobachten. In mehreren Regionen des Landes marschierten mehrere Milizen auf, die in den letzten Wochen gegründet wurden, u.a. mit Hilfe der afghanischen Regierung sowie des Geheimdienstes NDS.
Türkische Drohnen
Dass Washington seine Verbündeten in Kabul vollkommen fallen lassen wird, ist unwahrscheinlich. Weiteres Kriegsgerät, darunter etwa bewaffnete Drohnen, sollen eine Einnahme Kabuls durch die Taliban verhindern. Hierfür sollen einigen Berichten zufolge auch Hunderte von weiteren ausländischen Truppen zuständig sein. Andere Akteure wie das Nato-Mitglied Türkei, das den Kabuler Flughafen nach dem Abzug sichern will, spielen ebenfalls mit.
Einigen Beobachtern zufolge kamen sogar bereits türkische Drohnen, die von der afghanischen Armee benutzt wurden, in den letzten Tagen zum Einsatz. Hierbei handelt es sich allerdings weiterhin um keine gesicherten Informationen. Eine derartige türkische Einmischung in den Afghanistan-Krieg wäre allerdings alles andere als undenkbar. Immerhin wird das US-Vakuum früher oder später von regionalen Staaten eingenommen werden.
Ob es dieses Vakuum tatsächlich geben wird, muss sich noch zeigen. Ein Kontingent von Nato-Truppen wird wohl in der Kabul verbleiben, um etwa ausländische Botschaften zu sichern. Präsent sind auch Söldner, afghanische CIA-Milizen und anderweitiges "Sicherheitspersonal", das in diesen Tagen rekrutiert wird. Dass die westlichen Botschaften sich nicht mehr sicher fühlen, wurde erst vor Kurzem abermals deutlich.
Die australische Botschaft wird demnächst nämlich ihre Pforten schließen und abziehen. Die Taliban reagierten auf die Nachricht und garantieren einen "sicheren Abzug". Währenddessen müssen die meisten Afghanen weiterhin durch den Krieg leiden.
Von Emran Feroz erscheint demnächst das Buch Der längste Krieg. 20 Jahre War on Terror im Westendverlag.