Von der Einführung nationaler Grenzen zu Zeitzonen
Wenn es um die Kontrolle geht, werden Politiker kreativ
Offenbar besteht die Phantasie der Politiker gegenwärtig vornehmlich darin, die Freiheit im Netz möglichst schnell aus den unterschiedlichsten Motiven heraus zu beenden. Die virtuelle Welt des bislang grenzenlosen Cyberspace, die erst die Faszination ausgelöst hat, auf die sich der ECommerce stützt, soll nicht nur den Regeln der wirklichen Welt mit ihrer territorialen Gliederung wieder angepasst werden, was in einem seltsamen Widerstand gegenüber der wirtschaftlich verfolgten Globalisierung steht, sondern eigentlich soll die virtuelle Welt noch besser kontrolliert werden, als dies in der wirklichen Welt möglich ist. Jetzt denken die deutschen Politiker mit ihrer sprichwörtlichen Regelungskreativität auch noch über die Einführung von Zeitzonen im Cyberspace nach.
Wie bekannt geworden ist, denkt man, was ja ansonsten erfreulich ist, im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend über eine Novellierung der Jugendschutzgesetze nach. So sollen das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Öffentlichkeit (JÖSchG) und das Gesetz über die Verbreitung jugendgefährdender Schriften und Medieninhalte (GjS) in einem Gesetz zusammengefasst und an die technischen Entwicklungen der vergangenen Jahre angepasst werden.
Beispielsweise werde an ein Gesetz gedacht, das es verbietet, Kindern Spiele "zugänglich" zu machen, die für ihr Alter nicht vorgesehen sind. Große Frage wird natürlich sein, was zugänglich genauer bedeuten wird. Und große Frage wird auch sein, wie man gegen Anbieter im Netz vorgehen soll, die im Ausland derartige Spiele ohne deutsche Altersbeschränkung zugänglich machen. Besonders delikat aber ist der Gedanke an eine Einführung von Zeitzonen im Internet. Wenn die Kleinen wahrscheinlich im Bett sein werden, dann sollen erst die Inhalte zugänglich gemacht werden dürfen, die für sie nichts sind. Man wird davon ausgehen können, dass auch in den USA, in Korea, Japan oder wo auch immer die Contentanbieter die Vorhänge just dann schließen, wenn es in Deutschland Nacht wird. Vermutlich also gäbe es nur eine kleine Insel, für die die Zeitzone gilt, nämlich die auf deutschen Boden befindlichen Contentanbieter, die man wirklich zwingen kann. Oder man muss das gesamte deutsche Netz zu einem Staatsmedium machen, in dem alles blockiert wird, was dem Gesetz widerspricht oder vielleicht auch nur nicht da sein soll, auch wenn es nicht direkt verboten ist.
Man hätte meinen können, dass die Bundesregierung etwas vorsichtiger mit Schnellschüssen sein würde, wenn es darum geht, mit aller Macht und großer Geschwindigkeit die Deutschen ans Netz zu bringen, aber gleichzeitig selbst auf diesem Weg Fallen aufzustellen und Gruben anzulegen, um es nicht wahr werden zu lassen. Das letzte große Beispiel war bekanntlich der durchaus ernst gemeinte Vorschlag, doch künftig die private Nutzung der Computer an der Arbeitsstelle besteuern zu wollen. Da ist man dann doch schnell wieder davon abgekommen, weil das nicht nur die Durchsetzung des Internet behindert hätte, sondern auch zu einem irrsinnigen bürokratischen Aufwand und einer Überwachung am Arbeitsplatz geführt, die schlicht unsinnig gewesen wären.
Die aktuelle Idee mit der Einführung einer Zeitzone für nicht jugendfreie Angebote hat es natürlich mit einem anderen Thema zu tun, das schwierig zu lösen ist, keinesfalls aber mit einem Schnellschuss: Wie lässt sich nationales Recht im Internet durchsetzen? Ist alles ohne Probleme für Internetbenutzer auf ausländischen Servern zugänglich, wird nationales Recht unterminiert oder zu einem Zwei-Klassen-Recht, weil diejenigen, die einen Internetzugang haben, den Einschränkungen ausweichen können, während die Internet-Have-Nots gesetzestreu bleiben müssen. Auf der anderen Seite wird man nationales Recht nicht weltweit durchsetzen können. Wir wollen schließlich hier auch nicht das Rechtssystem von China, Saudi-Arabien oder Nordkorea. Also muss man auch rechtlich neue Wege beschreiten oder versuchen, die herkömmlichen Grundlagen der Rechtssysteme auch im Internet einzuführen. Und das Prinzip eines Rechtssystems ist ganz einfach: es endet oder beginnt dort, wo die Staatsgrenzen verlaufen.
Während die einen noch überlegen, wie sie mit Filtern, freiwillig auf denen eigenen Computern oder zwanghaft auf den Servern der Provider bzw. denen der Contentanbieter installiert das Unliebsame aussperren oder die nationale Rechtssprechung auch für die eigenen Bürger im Internet durchsetzen können, denken andere über die Aufhebung der Anonymität nach, was schließlich auch eine gute Möglichkeit wäre, die Bürger im Netz zu kontrollieren. Ungeliebt ist jedenfalls das anarchische Internet, was just eben zunächst zu einem explosiven Anwachsen der Internetnutzer geführt hat, nachdem das in sich verwobene WorldWideWeb mit den leicht zu bedienenden Browsern aufgekommen war. Vieles stand einem zu jeder Zeit an jedem Ort, der etwas ins Netz stellte, offen. Das war und ist noch immer die Verführung.
Das Netz war - und ist es noch immer weitgehend - ein globales Informations- und Kommunikationsmedium, das viele der in den wirklichen Welt bestehenden Grenzen übersprang und überspringt, das ganz neue Möglichkeiten für die einzelnen Menschen, für Organisationen und Unternehmen eröffnete, einer Demokratisierung der Medienlandschaft einleitete, zu ganz neuen, jenseits der geografischen Verankerungen stattfindenden Gemeinschaften oder auch nur kurzzeitigen Verbindungen führte, aber auch bislang ungeahnte kommerzielle Möglichkeiten anbot: eine Befreiung also ähnlich der Öffnung der Mauer. Symbolischerweise entstand das Web denn auch ungefähr in dieser Zeit. Und man braucht nur beobachten, wie fasziniert Kinder sind, wenn sie zum ersten Mal entdecken, was sie alles im Web machen und was sie dort erhalten können. Und natürlich ist dort, wo sich nicht nur die kommerzielle und staatliche Akteure betätigen können, sondern wo alle Menschen ihren Ausdruck finden und ihren Bedürfnissen nachgehen können, auch viel Unsinn, Abseitiges oder auch Unschönes zu finden.
Noch nicht lange ist es her, da hat sich die am Internet interessierte Wirtschaft vornehmlich dadurch hervorgetan, dass sie die Ideologie des "Hands off" propagierte - wohl wissend, das erst das anarchische Netz die Grundlage für eine kommerzielle Ausbeute darstellen kann. Davon ist heute kaum mehr die Rede, nachdem der Boom in die Phase der Ernüchterung eingetreten und die alten wirtschaftlichen Mächte, allen voran die Musikindustrie, gemerkt haben, dass durch das Web neue Konkurrenz, vielleicht auch eine neue Ordnung entsteht, was Eigentum, Distribution und Gewinn angeht. Heute wird hingegen der starke Staat verlangt, wenn es um die Aufrechterhaltung der Besitzverhältnisse geht. Überdies praktiziert man auch in der Wirtschaft bereits mit neuen Grenzziehungen, denn Werbung, Marketing und sogar Verkauf wäre möglicherweise profitabler zu organisieren, wenn dabei die kulturellen Unterschiede berücksichtigt werden können, die noch immer, wenn auch vielleicht immer weniger geografisch verankert sind.
Aber wieder zurück zu den Vorstellungen deutscher Ministerinnen, zumindest zu denen, die im Hause geduldet werden. Jugendschutz heißt, heruntergebrochen, altersbedingte Sperre des Zugangs zu bestimmten Angeboten. In der wirklichen Welt lässt sich das Alter schätzen und nachprüfen, indem ein Ausweis verlangt wird. Im Cyberspace? Das also ist ein Problem - das freilich auch in der wirklichen Welt nicht fehlerlos regelbar ist.
Neben den Raumzonen, die durch geografische Identifizierung der Benutzer bei den Anbietern und entsprechenden Filtern bei den Anbietern oder auch bei Internetprovidern selbst eingeführt werden können, gibt es die Möglichkeit, Zugangskontrollen einzuführen, die freilich immer austricksbar sind, wenn man nicht die wirklichen ID-Dokumente abrufen kann. Man kann auch innerhalb eines Rechtsgebiets erzwingen, dass alle Angebote, von privaten Homepages bis hin zu Portalen, nach Alter eingestuft werden, so dass Eltern oder Erziehungsberechtigte beispielsweise dafür sorgen könnten, dass die von Kindern benutzten Computer mit Filtern für diese Inhalte ausgestattet sind. Da treten viele Fehler auf, umgehen lässt sich das auch, schließlich ist gerade für Jugendliche das Verbotene interessanter als das Erlaubte. Für Angebote, die im Ausland angeboten werden, wird man eine solche Einstufung wohl nicht durchsetzen können.
Und weil das so ist, scheint ein Vorschlag dahin zu gehen, das Internet wie das Fernsehen regeln zu wollen, freilich das Fernsehen, wie es dies bald einmal gewesen sein wird - und schon gar nicht mehr ist. Vermutlich ist die Überlegung relativ schlicht: Fernsehübertragungen finden regional statt - lassen wir doch einmal die Satelliten weg -, also sind Kinder und Jugendliche, wenn auch nicht am Wochenende, relativ früh im Bett. Auch das sagt ja bekanntlich noch nichts, wenn sie einen Fernseher im eigenen Zimmer haben. Wenn sie dann auch noch in der Lage sind herauszufinden, wie sich die Verschlüsselung des Bezahlfernsehens knacken lässt (was sicherlich wieder ein Argument für eine stärkere Regulierung ist), so sind diejenigen, die genug Energie aufbringen, wohl auch imstande, den von den Eltern oder Lehrern eingebauten Filter mit dem Jugendschutzprogramm zu umgehen. Deswegen also die Zeit, um doch möglich viele zumindest der jüngeren Kinder von Inhalten fernhalten zu können, die sie nichts angehen.
Vor 22 Uhr braucht da heute gar nicht mehr anfangen. Einmal davon abgesehen, ob eine derartige zeitliche Einschränkung des Zugangs für die Erwachsenen überhaupt rechtlich durchsetzbar sein wird, werden die Anbieter, die nur Nachts zwischen 23 und 5 Uhr oder zu anderen Zeiten bestimmte Inhalte im Netz anbieten dürfen, während alle anderen wie immer 24 Stunden lang geöffnet haben, schnell mal ins Ausland auswandern. Und kann man Massenmedien wie das Fernsehen noch relativ einfach zu Auflagen zwingen, so würde das Internet schon sehr viel schwerer fallen, denn da müsste doch auch jeder Besitzer einer noch so schäbigen Homepage tagsüber die beanstandeten Inhalte "ausschalten". Um das nicht nur zu kontrollieren, sondern auch durchzusetzen, müssten selbstverständlich Angebote von kostenlosen Homepages, für deren Benutzung keine nachprüfbare Identität verlangt wird, verboten werden. Alles ein wenig kompliziert und ein rechtliches Minenfeld. Wie also ließe sich noch eine Zeitzone für den Zugang zu Inhalten für die Bürger eines Landes im Internetzeitalter durchsetzen?
Es gibt die "französische" Variante, alle ausländischen Anbieter dazu zu zwingen, Filter mit einer Zeituhr zu installieren, die durch geografische Identifizierung der Benutzer die Bürger eines Landes blockieren. Hier müssten vermutlich viele Prozesse geführt werden, wobei wahrscheinlich nur die Unternehmen, die auch in Deutschland eine Vertretung haben, zu Wohlverhalten gezwungen werden könnten. Wie aber würde das mit dem Besitzer einer Webseite in Australien, Chile, Afghanistan oder wo auch immer aussehen, ganz egal, ob er Pornographie, Gewaltspiele oder rassistische Texte anbietet, solange die in diesem Land nicht verboten sind?
Eine andere Variante wäre, die Internetprovider in einem Land dazu zu zwingen, solche Filter für die Bürger des Landes auf ihren Servern zu installieren, die aber einer bestimmten Zeit den Zugang zu tagsüber gesperrten Inhalten freigeben. Das wäre sicher eine Möglichkeit, die Arbeitslosigkeit ein wenig zu reduzieren, weil dann Heerscharen von Kontrolleuren im Netz herumsurfen müssten, um alle neue Seiten zu indizieren. Oder das geschieht automatisch mit Programmen, deren Fehlerrate bekanntlich ziemlich hoch ist. Das wäre zumindest der Versuch, die nationalen Grenzen weitgehend auch im Internet abzubilden, wenn man den Zugriff auf Anonymisierer und Provider im Ausland verbieten und internationale Provider dazu zwingen würde, deutschen Bürgern geografisch lokalisierbare IP-Nummern zu geben. Allerdings würde eine solche Nationalisierung des Internet auch bedeuten, dass Menschen, die keine deutschen Staatsbürger sind, ebenfalls nicht auf die gesperrten Inhalte zugreifen können, wenn sie sich in Deutschland aufhalten. Das Netz jedenfalls würde zerfallen in System von Inseln, deren Verbindungen durch technische Kontrollen gesichert sind. Vielleicht kann man sich für den Jugendschutz doch noch etwas anderes einfallen lassen ...