Von der "Mutter aller Katastrophen" zum globalen Kriegsalltag

Zur patriotischen Ruinenpolitik von "Nine/Eleven"

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Ohne den Kalten Krieg, was für einen Sinn hat es da, Amerikaner zu sein?

John Updike

Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts suchte Amerika nach einem neuen, veritablen Feind, der wieder jene "elektrisierende Kraft" (David Kennedy) spendet, aus einer diffusen Population von Konsumenten und Frustrierten eine große Nation zu schmieden. Die Suche blieb zunächst kärglich und auf viele uneingelöste Fantasien angewiesen, bis sich langsam herausschälte, dass feindliche und zugleich starke Nationen als echte Herausforderung Mangelware sind und "Terroristen", zumal in Form ethnisch, kulturell und religiös anderer Figuren, echte Anwärter für die Nachfolge sein könnten.

Zumindest so jedenfalls beschreibt Samuel Huntington den Prototypen des neuen amerikanischen Wunschfeindes. Der 11.September 2001 war dann die Initialzündung, ein hollywoodreifer 3D-Knaller, das patriotische Großereignis schlechthin, das Amerika endlich versichern sollte, dass God's Own Country noch nicht in ihre "posthistoire" versackt ist.

Mehr können uns Spin-Doctors nicht versprechen, wofür ein patriotisch konditioniertes Publikum zumindest während der Abendnachrichten heimlich bis unheimlich dankbar ist. Dabei wissen wir in helleren Minuten: In der Retrospektive entstehen und vergehen die meisten historischen Ereignisse rückstandsfrei. Das aufgeblasene Propagandaspektakel "Nine/Eleven" mit der erregtesten Einforderung patriotischer Gefühle, ultimativen Weltregulierungsgelüsten und martialischen Größenwahns wurde zum schlagendsten Beweis für die ideologische Abnutzung in Zeiten einer kurzlebigen Aufmerksamkeitskultur.

Bild: NOAA

Die Demontage patriotischer Aufrüstung

Wenn Amerika "patriot" buchstabiert, wird es brandgefährlich. Denn ob Rakete, ideologischer Gefühlsüberschwall oder die schneidige Ermächtigungsgrundlage zur Verdampfung von Bürgerrechten (Patriot Act soll verlängert werden), alles steckt in dieser Explosionsvokabel. Dass Patriotismus in dieser Welt ein schwelender Anachronismus ist, wird deutlich, wenn "Nine/Eleven" mit den gegenwärtigen, nicht länger mit Sprüchen zu konternden Zumutungen für den identitätstrunkenen Patriotismus verglichen wird.

Wenn China demnächst zur militärisch stärksten Nation wird, dürfte das für das Superior-Image Amerikas bzw. den amerikanischen Internationalismus mit der alten Mehr-Fronten-Sieg-Garantie der schwerere Schlag sein. Eine Nation vor dem Staatsbankrott und der ewigen Angst vor Rezessionen ist patriotisch nur noch durch Verdrängung bzw. Verschiebung der Handlungsfelder zu erreichen. Hand aufs patriotische Herz: Ohne Geld ist Patriotismus noch trübsinniger als ohnehin schon.

Ideologischer Betriebsstoff dieser Art hatte evolutionär seine Bedeutung, ohne dass darin je Menschheitsinteressen zu erkennen gewesen wären. Heute ist Patriotismus, selbst in seinen verbrauchsfreundlicheren Formen wie Verfassungspatriotismus, ein Unwort, das nationalstaatlich oder paradox verkrustet, was nur noch, wenn überhaupt, international zu lösen wäre.

Exkurs: Was wäre die Welt ohne Katastrophen?

Die Sintflutgeschichte um die Arche Noah macht klar, worum es in dieser Welt eigentlich geht: Untergang, Rettung, Vertrauen auf überirdische Hilfe und magisch-zwanghafte Rituale der Schicksalsbeherrschung, die sich selbst noch heute im vorgeblich zweckvollen Gebrauch der Technik erweisen.

So warf man nach "Nine/Eleven" die hybride Techno-Kriegsmaschine an, weil doch irgendwie gehandelt werden muss, wenn man schon nicht weiß wie. Ohne Katastrophen gäbe es keine Religionen, vermutlich keine Gesellschaften, kurz, eine solche Welt hätte mit unserer nichts, gar nichts zu tun. Die Katastrophe ist die Form der "conditio humana" schlechthin.

Religionen versprechen praktische Katastrophenhermeneutik: Gott straft Euch! Aber später werdet ihr erlöst werden. Das ist eine faire Kalkulation, die vieles, mitunter sogar das Nichterträgliche, aushaltbar macht. Wenn die alte Deckungsmasse dieser Gleichung wegfällt, wird es komplizierter. Das Erdbeben von Lissabon führte zur massivsten Kritik an dem göttlich verabreichten Katastrophenparadigma der Kirche. Gott lässt sich als gütiger Vater nicht rechtfertigen, wenn er solche Vernichtungen zulässt. Ausgerechnet das Rotlichtviertel Lissabons, die Alfama, blieb seinerzeit stehen, was den Glauben an die göttliche Selektion erheblich ramponierte.

Seitdem hat man für Katastrophen keine guten Erklärungsmodelle bzw. Sedative mehr. Sie sind schlimm, aber können nicht elegant metaphysisch oder schicksalstechnisch wegerklärt werden. Philosophische Kategorien, etwa im Rahmen diverser Ethikkonzepte, sind viel zu allgemein, als dass sie überzeugende Hilfestellungen vermittelten. Insofern hat die Philosophie nicht die Nachfolge der Theologie angetreten, die sich an dieser Stelle als mächtiger erwiesen hat.

Konsequent ist die "Westboro Baptist Church", deren zentrales Dogma darin besteht, dass irdisches Unglück den Hass Gottes anzeige – sehr frei interpretiert nach Johannes 3,16:

Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.

Joh 3,16 EU

Das verleiht einen guten Einblick in den Fundamentalismus, der immer dann entsteht, wenn Menschen die so gnadenlose wie gnadenlos primitive Logik eines Dogmas gegenüber strukturell und/oder psychisch komplexeren Verarbeitungen von Unheil bevorzugen. Solche Regressionen bestimmten auch das kollektive Katastrophenmanagement im Anblick der brennenden Türme des WTC, was der fundamentalistischen Politik der Neocons geradewegs als der göttliche Fingerzeig erscheinen musste, dass sie schon immer Recht gehabt hatten.