Von der "Mutter aller Katastrophen" zum globalen Kriegsalltag

Zur patriotischen Ruinenpolitik von "Nine/Eleven"

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Ohne den Kalten Krieg, was für einen Sinn hat es da, Amerikaner zu sein?

John Updike

Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts suchte Amerika nach einem neuen, veritablen Feind, der wieder jene "elektrisierende Kraft" (David Kennedy) spendet, aus einer diffusen Population von Konsumenten und Frustrierten eine große Nation zu schmieden. Die Suche blieb zunächst kärglich und auf viele uneingelöste Fantasien angewiesen, bis sich langsam herausschälte, dass feindliche und zugleich starke Nationen als echte Herausforderung Mangelware sind und "Terroristen", zumal in Form ethnisch, kulturell und religiös anderer Figuren, echte Anwärter für die Nachfolge sein könnten.

Zumindest so jedenfalls beschreibt Samuel Huntington den Prototypen des neuen amerikanischen Wunschfeindes. Der 11.September 2001 war dann die Initialzündung, ein hollywoodreifer 3D-Knaller, das patriotische Großereignis schlechthin, das Amerika endlich versichern sollte, dass God's Own Country noch nicht in ihre "posthistoire" versackt ist.

Mehr können uns Spin-Doctors nicht versprechen, wofür ein patriotisch konditioniertes Publikum zumindest während der Abendnachrichten heimlich bis unheimlich dankbar ist. Dabei wissen wir in helleren Minuten: In der Retrospektive entstehen und vergehen die meisten historischen Ereignisse rückstandsfrei. Das aufgeblasene Propagandaspektakel "Nine/Eleven" mit der erregtesten Einforderung patriotischer Gefühle, ultimativen Weltregulierungsgelüsten und martialischen Größenwahns wurde zum schlagendsten Beweis für die ideologische Abnutzung in Zeiten einer kurzlebigen Aufmerksamkeitskultur.

Bild: NOAA

Die Demontage patriotischer Aufrüstung

Wenn Amerika "patriot" buchstabiert, wird es brandgefährlich. Denn ob Rakete, ideologischer Gefühlsüberschwall oder die schneidige Ermächtigungsgrundlage zur Verdampfung von Bürgerrechten (Patriot Act soll verlängert werden), alles steckt in dieser Explosionsvokabel. Dass Patriotismus in dieser Welt ein schwelender Anachronismus ist, wird deutlich, wenn "Nine/Eleven" mit den gegenwärtigen, nicht länger mit Sprüchen zu konternden Zumutungen für den identitätstrunkenen Patriotismus verglichen wird.

Wenn China demnächst zur militärisch stärksten Nation wird, dürfte das für das Superior-Image Amerikas bzw. den amerikanischen Internationalismus mit der alten Mehr-Fronten-Sieg-Garantie der schwerere Schlag sein. Eine Nation vor dem Staatsbankrott und der ewigen Angst vor Rezessionen ist patriotisch nur noch durch Verdrängung bzw. Verschiebung der Handlungsfelder zu erreichen. Hand aufs patriotische Herz: Ohne Geld ist Patriotismus noch trübsinniger als ohnehin schon.

Ideologischer Betriebsstoff dieser Art hatte evolutionär seine Bedeutung, ohne dass darin je Menschheitsinteressen zu erkennen gewesen wären. Heute ist Patriotismus, selbst in seinen verbrauchsfreundlicheren Formen wie Verfassungspatriotismus, ein Unwort, das nationalstaatlich oder paradox verkrustet, was nur noch, wenn überhaupt, international zu lösen wäre.

Exkurs: Was wäre die Welt ohne Katastrophen?

Die Sintflutgeschichte um die Arche Noah macht klar, worum es in dieser Welt eigentlich geht: Untergang, Rettung, Vertrauen auf überirdische Hilfe und magisch-zwanghafte Rituale der Schicksalsbeherrschung, die sich selbst noch heute im vorgeblich zweckvollen Gebrauch der Technik erweisen.

So warf man nach "Nine/Eleven" die hybride Techno-Kriegsmaschine an, weil doch irgendwie gehandelt werden muss, wenn man schon nicht weiß wie. Ohne Katastrophen gäbe es keine Religionen, vermutlich keine Gesellschaften, kurz, eine solche Welt hätte mit unserer nichts, gar nichts zu tun. Die Katastrophe ist die Form der "conditio humana" schlechthin.

Religionen versprechen praktische Katastrophenhermeneutik: Gott straft Euch! Aber später werdet ihr erlöst werden. Das ist eine faire Kalkulation, die vieles, mitunter sogar das Nichterträgliche, aushaltbar macht. Wenn die alte Deckungsmasse dieser Gleichung wegfällt, wird es komplizierter. Das Erdbeben von Lissabon führte zur massivsten Kritik an dem göttlich verabreichten Katastrophenparadigma der Kirche. Gott lässt sich als gütiger Vater nicht rechtfertigen, wenn er solche Vernichtungen zulässt. Ausgerechnet das Rotlichtviertel Lissabons, die Alfama, blieb seinerzeit stehen, was den Glauben an die göttliche Selektion erheblich ramponierte.

Seitdem hat man für Katastrophen keine guten Erklärungsmodelle bzw. Sedative mehr. Sie sind schlimm, aber können nicht elegant metaphysisch oder schicksalstechnisch wegerklärt werden. Philosophische Kategorien, etwa im Rahmen diverser Ethikkonzepte, sind viel zu allgemein, als dass sie überzeugende Hilfestellungen vermittelten. Insofern hat die Philosophie nicht die Nachfolge der Theologie angetreten, die sich an dieser Stelle als mächtiger erwiesen hat.

Konsequent ist die "Westboro Baptist Church", deren zentrales Dogma darin besteht, dass irdisches Unglück den Hass Gottes anzeige – sehr frei interpretiert nach Johannes 3,16:

Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.

Joh 3,16 EU

Das verleiht einen guten Einblick in den Fundamentalismus, der immer dann entsteht, wenn Menschen die so gnadenlose wie gnadenlos primitive Logik eines Dogmas gegenüber strukturell und/oder psychisch komplexeren Verarbeitungen von Unheil bevorzugen. Solche Regressionen bestimmten auch das kollektive Katastrophenmanagement im Anblick der brennenden Türme des WTC, was der fundamentalistischen Politik der Neocons geradewegs als der göttliche Fingerzeig erscheinen musste, dass sie schon immer Recht gehabt hatten.

Wo bitte geht's zur Wirklichkeit?

Das WTC-Ereignis konnte nie auf die Realitätsstufe gefahren werden, dass viele Menschen getötet wurden, weil die Rekonstruktion dieses Ereignisses (zu) viele Fragen offen lässt und erinnerungswürdige Lösungen zur Weltrettung, die großmundig von der Bush-Regierung angekündigt wurden, ausblieben. Insofern steht der "Weltschicksalstag" für das Prinzip einer multiplen Wahrheit, die eben nicht festgelegt werden kann.

Platoniker sind und bleiben die, die hinter dem Ereignis nach der endgültigen Wahrheit schürfen, wenn doch nur die Instrumentalisierung von Ereignissen zählt – selbst solchen, die nie stattgefunden haben. Die Wahrheitsbewegung des 11. September macht ihren guten Sinn vor allem in der Aufrechterhaltung des Wissens, dass es keine geschlossene Öffentlichkeit und sakrosankte Sachwalter der Wahrheit gibt. Doch auch mit griffigen Verschwörungsparolen wie "The decade's biggest scam" ist keine sichere Wahrheit zu erlangen, sondern vor allem die Erkenntnis, dass sich die Bedeutung solcher Großereignisse erst in der politisch überschießenden Tendenz einer fundamental zerstrittenen Öffentlichkeit erweist.

Ereignisse wie "Nine/Eleven" werden nicht ad acta gelegt, weil der Widerstreit politischer Interessen sich nicht mit einer Wahrheit begnügen kann. Wahrheit als Kategorie ist ohnehin viel zu grobschlächtig, um medial und politisch entfachte Ereignisse und ihre weit reichenden Verseuchungen von Zivilgesellschaften zu verstehen. Auch Verschwörungstheorien zielen auf mehr als nur die Aufklärung eines singulären Ereignisses. Es geht um das ewige Misstrauen gegen hegemoniale Staatsgelüste, unverhohlene ökonomische und politische Interessen und Machtmissbrauch vieler Sorten.

Trotz Niklas Luhmanns Hinweisen auf die bessere Behandlung von Problemen durch "Zerlegung", gibt es Komplexitäten, die eben nicht zu reduzieren sind. Ganz im Gegenteil: 9/11 wurde ständig mit einer das Ereignis überragenden Komplexität aufgeladen. Prekärer als die offene Wahrheitsfrage erscheint die mediale Besetzbarkeit des Ereignisses. Politisch wurde es zur Allzweckwaffe, selbst solche Kriege zu führen, die wenig oder gar nichts mit dem Ereignis zu tun hatten.

Wenn in diesen Tagen behauptet wird, al-Qaida habe mit dem Anschlag das Trompetensignal für einen schmutzigen Krieg in den Bergen gegeben, um den USA wie weiland der Sowjet-Union einen nicht gewinnbaren Krieg aufzuzwingen, verändert das wenig am Szenario. Denn Kriegstreiber gibt es regelmäßig auf beiden Seiten, was hier zu Anklagen führte, George W. Bush und Osama bin Ladin seien letztlich nicht mehr als untergründige Doppelgänger im ewig gleichen Geiste.

"Nine/Eleven" war eine politische Bewährungsprobe, Stärke zu zeigen, die hier doch allein darin bestanden hätte, sich nicht auf die Kondition eines sinnlosen Guerilla-Kriegs einzulassen und noch weniger "die Mutter aller Schlachten" im Irak auszutragen, der mit dem bushistischen Leitmotiv des "Global War On Terrorism" in überhaupt keiner Beziehung stand. "Nine/Eleven" ist ein Zeichen des politischen Scheiterns, weil in einer regressiven Wendung antiquierter Machtpolitiker unmittelbar Stärke mit Krieg in eins gesetzt wird.

Hier haben wir "Komplexität" als (nicht nur ) rhetorische Waffe kennen gelernt, groteske Vernetzungsszenarien zu behaupten. Al-Qaida, Religion, Öl, Opium etc. werden in wildesten Mischungsverhältnissen auf diese Flamme gesetzt und jede Projektion darf sich im Schein ihrer Wahrheit erhitzen. "Nine/Eleven" hat - frei nach Baudrillard - nie stattgefunden, weil das Ereignis sofort enteignet, instrumentalisiert und politisiert wurde.

Letztlich hat keiner, hier sind sich Bushisten, Conspiracy-Freaks und Politiker aller Sorten gleich, es gewagt, die Interpretationsmaschine zu entschleunigen, es als tendenziell singuläre Provokation einiger Fanatiker in eine kleinere Schublade historisch bedingt memorabler Ereignisse einzusortieren. Denn spektakulärer als dieser Anschlag ist doch der Umstand, dass zehn Jahre nicht gereicht haben, ein vergleichbares Ereignis zu präsentieren, obwohl doch Terroristen wie Terrorbekämpfer einmütig und fast im Chor intonierten, die Apokalypse oder ihre unmittelbaren Vorläufer würden nur so vom Himmel purzeln.

Wer jene Erregungskurven kennen lernte, weiß nun besser denn je, dass im Angesicht eines Ereignisses wenig über dessen Wirksamkeiten oder gar, wenn es denn überhaupt gesucht wird, historische Bedeutung zu sagen ist. Die großspurig angekündigten Taten der Bush-Regierung dümpelten so vor sich hin (War on terror - Business as usual), um schließlich nur noch zwischen Lüge und Farce zu oszillieren.

Nach dem ewig einstürzenden WTC wurde der Präsident in der Bomber-Jacke, der einen leckeren Plastiktruthahn zum patriotischen Soldaten-Thanksgiving Fest präsentiert, zur nächsten entscheidenden Kriegsikone. Unmittelbar hinter dieser Fake-Nummer, in der der Plastikpatriotismus zum Slapstick wird, beginnt dann bereits das Reich professioneller Komik: "South Park" thematisierte so rotzfrech wie wunderbar paradox den Vorschlag der alten Bush-Männer, nun endlich auch den Himmel zu bomben, weil Saddam Hussein wegen einer schwulen Affäre mit Satan aus der Hölle geflogen sei und im Himmel nukleare Anschläge auf die USA plane. Wirklichkeit ist eine zu hohe Kunst, als dass man sie politischen Dilettanten oder schlecht geölten spin-doctors überlassen darf.

"Nine/Eleven" resized

Am 11.September 2001 wurde endgültig das Medium zur Massage. Endlos eingeriebene Zerstörungsbilder erreichten uns, als könne das Bild seine eigene Interpretation gleich mit besorgen. Dabei ist katastrophentechnisch "Nine/Eleven" eine - wenn auch schreckliche - Miniatur gegenüber strukturellen Katastrophen wie Fukushima, die sich aus der Unnatur der Sache heraus der Eingrenzung entziehen.

Kontaminationen sind eine Schreckensform, die gerade im Blick auf das menschliche Wahrnehmungssystem schwerer zu kontern sind. In der haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince kamen im Januar 2010 bei einem Erdbeben ca. 316.000 Menschen um das Leben. Ist es zynisch, die Trauerarbeit, aber auch die praktischen Hilfen hier, mit denen in New York zu vergleichen, wo etwa 3.000 Opfer gezählt wurden?

Katastrophen kann man numerisch nicht verrechnen, wenngleich die Rede von 140.000 zivilen Opfern in Afghanistan und im Irak im Zuge kriegerischer Auseinandersetzungen die Betroffenheiten und Verschuldungszuweisungen verschiebt. Und auch der Schrecken in Haiti ist im Vergleich zu "Nine/Eleven" nicht einfach nur zahlenmäßig größer. Port-au-Prince macht im eigentlichen Sinne sprachlos. Hier gibt es nur das verbrauchte Interpretationsmuster "Schicksal", vor allem aber das Elend hinterher, das vielleicht noch schlimmer als die Katastrophe ist. Der durch nichts oder wenig zu konternde Schrecken ist für Wesen, die die Welt konstruieren und interpretieren müssen, der Schrecken par excellence.

Im Blick auf diese und ähnliche Katastrophen und die durch das Ereignis selbst ausgelösten kann "Nine/Eleven" nicht länger so wie in den ersten Tagen und Wochen des amerikanischen Schocks reklamieren, als einzigartig dazustehen. Als Medienkapitel lohnt es sich indes, dieses Ereignis aufzuheben, weil es die Verführbarkeit des Menschen durch politische Stimmungsmache und medialen Hype so eindringlich markiert, wie es unseren geläufigen planen Aufklärungsdiskursen so gar nicht einleuchten wollte und will. Sind wir doch alle Medienkompetente!

Ausgebliebene Apokalypse

Als mediales Großspektakel war "Nine/Eleven" ein aufregendes Kapitel, das uns in vermeintlich längst vergangene Zeiten der Massenpsychologie zurückführte. Herauszufiltern wäre die Botschaft, dass man Ereignisse gegen den semantischen Overkill so vergeltungshungriger wie identitätsschwacher Politiker schützen sollte. Anderenfalls landet man keinen Steinwurf weit entfernt bei unseren konservativen bis reaktionären Bibelfreunden, die hinter jedem Orkan, Tsunami und was die beste aller möglichen Welten so im Übrigen noch an Überraschungen bietet, die Apokalypse wittern, wenn sie nicht gar behaupten, dieses Großereignis gleich kalendergerecht berechnen zu können. Das erinnert an jene seltsamen "Träume, in denen man den Weltuntergang mitmacht und nach dessen Ende aus einem Kellerloch herauskriecht" (Theodor W. Adorno, Minima Moralia).

Nach der augenscheinlich ausgebliebenen Apokalypse gilt: Politik bleibt weitgehend so irrational wie Börsenkurse, was zugleich die Frage beantworten mag, ob die herrschende Politik weiter ihre Zuständigkeit für das Weltelend in dieser und anderen Formen reklamieren darf. Für die Patrioten sind von diesem herunter dimensionierten Ereignis Geschichten von Polizisten, Feuerwehrleuten und Putzmännern, die Menschenleben retteten, und ähnliche Heldentaten übrig geblieben. Die Originalbilder verkümmerten zu Geschichten, die das Ereignis melodramatisch verkleistern, das weiland die Boulevardpresse noch geifernd dämonisierte, bis hin zu idiotischen Dunkelwolkenbildern, in denen auch Nichtsatanisten den Teufel erkannten (We're goin' after Satan).

Wenn die diesjährige Jubiläumsadresse von Präsident Barack Obama lautet "Wir werden nie vergessen", bedient das – vermutlich mit äußerst verhaltenem Glauben - die patriotische Hoffnung, noch einmal als moralische Schicksalsgemeinschaft so zusammenzuwachsen, wie es angeblich in den ersten Tagen und Wochen nach dem 11.September geschah. So schwach wie die mit Denkverboten behaftete Erinnerungskultur blieb, waren im Übrigen auch die künstlerisch-cineastischen Versuche, aus dem Ereignis Kapital zu schlagen. Auch wenn Nicolas Cage die Hauptrolle spielt (World Trade Center, Oliver Stone, 2006), bleibt die bemühte Nachdramatisierung ein schwacher Aufguss gegenüber dem Live-Event. Das war bereits so künstlich aufgeladen worden, dass hier jede Fiktionalisierung zu spät kam.

Wenn die Projektionsfläche nur groß genug ist, sind Menschen fast zu jedem Glauben bereit. Als Perversion in einem sehr wörtlichen Sinne bleibt die Eignung dieses Ereignisses für zahllose Protagonisten und Agenturen, die je eigene Katastrophenverwertung zu finden. Wäre es nicht in moralisch verordneter Deutung eine Katastrophe, hätten es Zyniker als einen Glücksfall bezeichnen müssen, so viele politische, kulturelle, psychologische Anknüpfungsweisen zuzulassen wie wenige Ereignisse der letzten Jahrzehnte es boten (Auszug aus der bevorstehenden Veröffentlichung von Armageddon Ltd., 1998, skyscraper digital publishing).

Jede politische Wünschbarkeit konnte bedient werden. Selbst die Künstler wie etwa Karlheinz Stockhausen durften ob der vermeintlichen Erhabenheit der Bilder endlich mal wieder staunen, wo doch sonst nur der dicke Teppich der Vernissagenlangeweile auf sie wartet (Terroranschläge als größtes Kunstwerk bezeichnet). Für die inzwischen wieder verrauchten Neocons, von denen einige wie Dick Cheney glauben, ihre biografische Apologetik eigener Großtaten würde noch irgend jemanden interessieren, war der 11. September die Beschwörung, dass Geschichte wieder einen Sinn macht, ja diese Geschichte geradewegs dem eigenen Geist in die Hände spielt.

Politische Ruinen - Ruinen der Politik

"Nine/Eleven" hat Kriege zunächst wieder en vogue gemacht. Der wahre Friedensbringer ist nicht die Einsicht, sondern das mit oder ohne Öl versickernde Geld. Dabei haben sich einige Bauernregeln scheinbar widerlegen lassen: Weder sind gewonnene Kriege das große Geschäft für den Sieger, wenn angeblich mehr als drei Billionen Dollar die leeren Haushaltskassen noch leerer als leer machen. Noch weiß man inzwischen überhaupt noch zu sagen, was als Sieg gilt. Der postmoderne Krieg sickert so formlos in Zivilgesellschaften ein, dass die Frontlinien tradierter Begriffe völlig entwertet werden.

Insofern hat sich die Parole der Bush-Krieger "enduring freedom" in nicht vorhergesehener Weise bestätigt und gegen sich selbst gerichtet. Diese Art von Freiheit kann unbezahlbar werden, wenn sie nur zum Preis ewiger Kriege zu haben ist. Bush II. wurde zwar die Gnade der verfassungsmäßigen Abdankung nach der zweiten Amtszeit gewährt. Seine Hinterlassenschaften an sämtlichen Orten seines globalen Wirkens sind dagegen längst nicht entsorgt. Ein zwischenzeitlich verloren gegangenes Wissen, dass Kriege grundsätzlich, von gelegentlichen Tyrannenbefreiungen abgesehen, ein atavistisches Konfliktlösungsinstrument in einer national nicht zu markierenden Weltgesellschaft sind, mag nun langsam wieder dämmern.

Auch der blindeste Patriot wird nicht länger wie zuvor behaupten, die Taliban seien besiegt und Afghanistan eine blühende Demokratie. Die zum Jubiläum passende Abrechnung mit Osama bin Laden reichte dagegen nicht einmal mehr symbolisch aus, die politisch blass gewordenen Botschaften des Antiterror-Kampfs wieder aufzurüsten. Der von Freunden und Feinden gemeinsam angerührte Glanzlack des "Terrorfürsten", der lässig alle Boshaftigkeiten seit Menschengedenken überbietet, war längst im Verlauf der Dekade abgeblättert. Die Erschießung eines unbewaffneten älteren Mannes durch die Navy Seals bzw. deren ominöses "Team Six" war nur die neuerliche Bekräftigung Amerikas, justizförmige Lösungen nach wie vor auszuschlagen. "Es stand nie zur Debatte, ihn gefangen zu nehmen. Niemand wollte Gefangene", soll ein beteiligter Offizier gesagt haben.

Der vorgezogene Endkampf "Gut gegen Böse" bleibt damit als hoch dubioser Schlussakt in Erinnerung. Für eine Politik und Kultur der eitlen Selbstversicherung und nationalen Hybris, die sehr viel raffiniertere Widersacher als al-Qaida bekämpfen müsste, mag das als Andenken reichen. Besser wäre es, die Erinnerung an die damalige Regression und verlogene Panikmache, an die Momente kollektiven Wahns zum Trademark dieses Ereignisses zu machen.

Eine Politik der Gefühle, die auch in weniger brisanten Entscheidungsbereichen so selbstverständlich ist, dass wir sie oft nicht einmal sehen, ist ein Zeichen für fundamentale demokratische Schwächen. Demokratie sollte heißen, weder von der Agitation der anderen, noch von der eigenen Erkenntnisschwäche sich irritieren zu lassen. Es gibt weiterhin viele kleine "Nine/Elevens", die sich weniger spektakulär im alltäglichen Politik-Zirkus vollziehen, aber das ewig gleiche Prinzip buchstabieren: Ein Problem wird monokausal auf ein medial aufgeblasenes Ereignis zurückgefahren, um die Agenda zu legitimieren, die längst schon in der Schublade lag.

Als einige "looters" im August 2011 in London Randale machten und Shops plünderten, bestand die redundante Ikonografie der britischen Nachrichtensender vornehmlich nur noch aus brennenden Häusern und dem Bild einer Frau, die aus dem Fenster springt. Die Bildrhetorik sprach eindeutig für die Neuauflage des großen Brandes von London im Jahre 1666. Die schneidige Justiz, die sich auf die öffentlichen Pranger dank CCTV verlassen konnte, vollzog sich im Schatten der Legitimation dieser Bilder. Die Totalbedrohung des Gemeinwesens, die hier in artifizieller Panik inszeniert wurde, fand zu keiner Zeit ein Pendant in der "wirklichen Wirklichkeit".

Wer heute behauptet, die damaligen Anschläge wären ein Akt des Staatsterrors gewesen, mag übersehen, dass der Begriff des Politischen viel perfider ist und sich der Ereignisse bedient, wie sie fallen, ohne sie selbst auslösen zu müssen. Ja mehr: Der Wunsch als Vater des militanten Gedankens reicht völlig aus. Krieg ist die Fortsetzung der patriotischen Projektion mit anderen Mitteln.

Die Bush-Regierung hatte schon vor dem WTC-Anschlag erklärt, dass das Irak-Problem militärisch "resoluter" gelöst werden müsse. Dabei war der 11.September und der paranoide Terrordiskurs schon vor dem Angriff auf den Irak so abgenutzt (Nichts als die Wahrheit oder Onkel Powells Märchenstunde?), dass die politisch wirre "creatio ex nihilo" völlig ausreichte, diese Mutter aller Schlachten zu schlagen.

Politik als projektives Handeln von Stimmungsdemokratien gehört auf die Couch. Und das gilt unabhängig davon, ob der Weltfrieden mal wieder gerettet werden muss oder der perverseste Börsenkapitalismus auf die vorgeblich mächtigen Bollwerke einer handlungsunwilligen Politik stößt.

Nehmen wir also "Nine/Eleven" als Memento, dass der grassierende Politikbegriff im Mark marode ist und Selbstinszenierungsspektakel der Macher und Macherinnen keinen Glauben mehr verdienen. Ob die gerade noch vom United States Department of Homeland Security ausgegebenen Terrorwarnungen berechtigt sind oder nur zum Jubiläum ein altes Leitmotiv in Erinnerung bringen, muss weiterhin jeder - wie immer - mit seiner persönlichen Katastrophenbereitschaft abmachen.

Der Unterschied zur Wettervorhersage ist nicht kategorial, bis auf ein Moment: Die Propheten des Regens sind nach langen Jahrhunderten vergeblicher Weissagungen inzwischen kognitiv besser gerüstet als die Heimatschützer, deren ständige Ampelwarnungen auf blanken Nerven spielen, bis man schließlich auch schon dann "rot" sieht, wenn ausgerechnet im Osten die Sonne aufgeht.