Von der Wiege bis zur Bahre...

Auf dem Weg zur Totalerfassung des Menschen nimmt Österreich jetzt die Schüler ins Visier

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Wie man die junge Generation an Überwachung gewöhnt, zeigt sich neuerdings in Österreich. Mittels gesetzlich verordneter Bildungsevidenz, Pilotversuchen zum elektronischem Klassenbuch und zur Schülerchipkarte werden eine Unmenge persönlicher Daten erfasst. Datenschützer warnen vor der Totalkontrolle der Schüler und fordern Eltern auf, zumindest in Teilbereichen die Auskunft zu verweigern.

Bereits vor geraumer Zeit beschloss die rechtskonservative ÖVP-FPÖ-Koalition das Bildungsdokumentationsgesetz. Jetzt wird es ernst damit. Anfang Oktober 2003 soll die erste Echtdatenübermittlung für die sogenannte Bildungsevidenz anlaufen. Danach werden Schulen und andere Bildungseinrichtungen verpflichtet, Sozialversicherungsnummer, religiöses Bekenntnis, Informationen zu Bildungsverlauf, sonderpädagogischem Förderbedarf, Schulverweisen, Abbruch eines Lehrverhältnisses, etc. an das Unterrichtsministerium (BMBWK) weiter zu leiten. In weiterer Folge sollen die Daten auch an die Statistik Austria übermittelt werden.

Ein besonderes Problem stellt der Umgang mit der Sozialversicherungsnummer dar. "In Deutschland sorgte die österreichische Vorgangsweise für ungläubiges Kopfschütteln", erklärt Datenschützer Hans Zeger gegenüber Telepolis. "Dort wird nämlich sehr klar zwischen codierten und anonymisierten Daten unterschieden. In Österreich wurde lediglich pseudo-anonymisiert. Von einer echten Anonymisierung, wie sie für rein statistische Auswertungen üblich sein sollte, kann keine Rede sein." Kritisiert werden zudem die langen Aufbewahrungszeiten. "Damit bleiben die Daten lebenslang für beliebige Verwendungen verknüpfbar", so der ARGE Daten-Chef.

Auch bei den ermittelten Daten bleibt deren Nutzen für die Bildungspolitik unklar. Der inzwischen vorliegende detaillierte Datenkatalog hätte eher "neue Grauslichkeiten geliefert", sind sich Opposition und Datenschützer einig. Die Schülerüberwachung erfolge geradezu zwanghaft. "Jede Teilnahme an Schulveranstaltungen, inkl. deren Dauer, der in Anspruch genommenen Schulbetreuung werden lebenslang aufgezeichnet. Auch der Bezug von Schulfreifahrt und Schulbuch wird gespeichert."

Besonders genau scheint man es mit der Privatsphäre der Schüler von ministerieller Seite her nicht zu nehmen. So ist die Antwort die Zeger auf seine Frage, was denn nun genau unter "Schulbetreuung" aufgezeichnet würde, von den BMBWK-Experten erhielt, geradezu bizarr. Was genau dokumentiert werden solle, wurde nicht bekannt gegeben. Es gab lediglich den lapidaren Kommentar: "Man habe die Daten und es käme billiger sie aufzuheben, als sie wegzuwerfen."

Schüler programmieren eigene Überwachung

Doch damit noch nicht genug. Im Bundesland Kärnten startet mit Schulbeginn im Herbst ein Pilotprojekt mit einem "elektronischen Klassenbuch". Minutengenau lässt sich damit Kommen und Gehen der Schüler aufzeichnen. Die Werbeseite des Systems verspricht auch "diskrete" Nachschaumöglichkeit für Eltern. - Pech für notorische oder sporadische Schulschwänzer!

Besonders pikant an diesem Projekt: Es wurde von Schülern selbst programmiert und es gab so gar einen Preis im Rahmen des Cyberschool-Wettbewerbs dafür. "Hier wurde das Engagement und die Freude der jungen Leute am Programmieren eigentlich missbraucht. Man hätte wirklich andere Projekte etwa im Bereich politischer Bildung realisieren können", ärgert sich Zeger. Die verantwortlichen Lehrer, die dieses "Big Brother"-Projekt unkritisch unterstützt, vielleicht sogar angeregt hatten, kann er nicht verstehen.

Insgesamt scheint die Erziehung zum mündigen Bürger nicht das vorrangige Ziel der derzeitigen Bildungspolitik in Österreich zu sein. Die Tendenz geht eindeutig in Richtung Kontrolle und Forcierung konformen Verhaltens. Letztlich betrifft dies nicht nur Schüler sondern auch Lehrer und Eltern, die einer zunehmenden Beobachtung durch die "Obrigkeit" ausgesetzt werden.

Den Schulalltag durch technische Datenaufzeichnung zu konservieren, zu reglementieren und zu verwalten, führt zu einer Reduktion im persönlichen Verhalten, zu Anpassung und zum Vermeiden von Konfliktszenarien. Wichtige Lebenserfahrungen gehen verloren, weil niemand wissen kann, welche Daten zu welchen Zwecken irgendwann einmal ausgewertet und verwertet werden.

Hans Zeger

Dazu passt nur zu gut, dass in Wien die Einführung der Chipkarte munter voran schreitet. Zutritt zu Labors und anderen Schuleinrichtungen, Buchentleihung und Essensausgabe werden elektronische erfasst und überwacht. Pädagogische Argumente für diese Vorgangsweise gibt es nicht. Vielmehr heißt es, man wolle damit Diebstähle - etwa von Computerbestandteilen - verhindern. Die ARGE Daten kontert: "Tatsächlich gibt es wesentlich menschenwürdigere Sicherungsmaßnahmen. Der Schulverwaltung wird empfohlen, Anschauungsunterreicht an Wiener Universitäten zu nehmen, die sogar öffentlich zugängliche EDV-Anlagen anbieten und auf Chipkartenregistrierung verzichten können.

Die Wiener "Chipkarten"-Schule Spengergasse liefert bereits heute ein seltsames Bild. "Um zu demonstrieren, wie allgegenwärtig die Macht der Kontrolle ist, müssen alle Schüler ihren Ausweis sichtbar tragen. Schüler, die den Ausweis nicht offen tragen, werden nach Hause geschickt", berichten Medienvertreter.

Diesen de-facto Ausschluss vom Unterricht hält Zeger nicht rechtskonform. Insgesamt räumt er allen Auskunftsverweigerern bezüglich Erfassung von Bildungsevidenz-Daten und Chipkarten-Zwangsbeglückung gute Chancen in einem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof ein. Die ARGE Daten offeriert Betroffenen umfassende Unterstützung. Dennoch zögern viele Schüler und Eltern mit rechtlichen Schritten. Schließlich ist Anpassung angesagt und wer weiß, welchen Repressalien sie bei derart "aufmüpfigem Verhalten" dann ausgesetzt würden...