Von der deutschen Vergangenheitsbewältigung
Seite 2: Staatshagiographie
Dabei ist der unkritische, schönfärberische und überhöhende Umgang mit der eigenen Vergangenheit eigentlich der Normalfall, wie man ihn von Staaten so kennt. Sie bespiegeln und feiern sich gern in deren Licht und Tiefe, präsentieren darin ihrer Bevölkerung einen Grund zur Vaterlandsliebe und sich selbst dem Ausland gegenüber als respektgebietend.
Gelegentlich gehen sie auch, Beispiel Gebietsansprüche, zu Forderungen über, die sie angeblich aus eigener wie fremder Vergangenheit "historisch erworben" haben. Selbst Deutschland bezeichnet seinen kolonialen Vernichtungskrieg von 1904 bis 1908 gegen die afrikanischen Hereros und Namas erst 2016 nach langem Zögern als "Völkermord" und stellt dabei klar, "dass sich aus dieser historisch-politischen Verwendung des Begriffes keine Rechtsfolgen ergeben". Diese Vergangenheit ist also durchaus vergänglich, und der damalige Bundestagspräsident merkte überdies an, dass es um mehr geht als um bloßes Entschuldigen: "Wer vom Genozid an den Armeniern 1915 im Osmanischen Reich spreche" - um damit den "Sultan Erdogan" zu mäßigen -, "der müsse auch die Verbrechen des deutschen Militärs […] so bezeichnen."
Die Theorie der AfD und ihrer Anhänger, wonach "Hitler und die Nationalsozialisten nur ein Vogelschiss in 1000 Jahren deutscher Geschichte" gewesen seien (Gauland), liegt also durchaus auf Linie mit der üblichen Staatshagiographie. Und sie hat ihre Vorläufer in der bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung, die einem Philosophen zufolge als ein "kollektives Beschweigen" (Hermann Lübbe) begann, weil das nationale Selbstbild mit einer "gebrochenen Geschichte" konfrontiert war, nachdem es die politischen Führer, denen die Nation über Jahre hinweg gefolgt war, vor Kriegsverbrecher-Tribunale gestellt und die örtlichen Amtspersonen zur Umerziehung einrücken sah.
1984, als Deutschland schon längst wieder wer war, versuchte eine Band namens "Böhse Onkelz" das lädierte Geschichtsbild ihrer Landsleute mit folgenden Versen zeitgemäß aufzuheitern:
Auch zwölf dunkle Jahre in Deiner Geschichte / macht unsere Verbundenheit zu Dir nicht zunichte / Es gibt kein Land frei von Dreck und Scherben / Wir sind hier geboren wir wollen hier sterben / Deutsche Frauen, Deutsches Bier / Schwarz-rot-gold, wir steh‘n zu dir.
Böhse Onkelz
Auf einer von den Fans solcher Reime weit entfernten Ebene tobte zwei Jahre später ein akademischer Streit, der dennoch einiges mit dem unfeinen Lied gemein hat. Der Autor Theo Wentzke schreibt dazu in der "jungen Welt":
Mit einem feinen Gespür dafür, wie nationale Moral und wirklicher Machtstatus der Nation zusammengehören, [haben] Gelehrte [wie Ernst Nolte, Michael Stürmer u.a.] erkannt, dass es zu Rang und Namen, die ihre Nation mittlerweile erobert hat, nicht mehr so recht passen will, dass [sie] ihre moralische Größe […] über ein Bekenntnis zur nationalen Schuld […] unter Beweis stellt. Und [Nolte] hat mit der Autorität seiner Wissenschaft im Rücken mutig die These in den Raum gestellt, dass die angeblich "singuläre Tat", der Holocaust, so singulär gar nicht war; […] so dass sich die Frage stellt, ob Auschwitz nicht besser als "die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der russischen Revolution" zu verstehen sei.
Theo Wentzke
Noltes Fragen, ob Hitler nicht eine "asiatische Tat" vollbrachte, ordnete Stürmer in die Reihe der Bemühungen ein, "Erneuerung des historischen Bewusstseins, Rückkehr in die kulturelle Überlieferung, Versprechen der Normalität" (Faz 25.4.86) zu erzielen. Auch Politiker, die wohl vor allem, sehen sich dafür zuständig, dass der nationale Zusammenhalt durch ein passendes Geschichtsbild bzw. durch seine nötige Revision gestärkt wird. So war das auch beim sächsischen Justizminister Steffen Heitmann, der Anfang der 1990er Jahre als möglicher Bundespräsident ins Gespräch kam und sich dafür mit folgenden Sentenzen empfahl:
Das Merkwürdige ist in der Bundesrepublik Deutschland, dass es ein paar Bereiche gibt, die sind tabuisiert, [obwohl das …] nicht unbedingt dem Empfinden der Mehrheit der Bürger entspricht […]. Ich glaube, dass der organisierte Tod von Millionen Juden in Gaskammern tatsächlich einmalig ist - so wie es viele historisch einmalige Vorgänge gibt. Wiederholungen gibt es in der Geschichte ohnehin nicht. Ich glaube aber nicht, dass daraus eine Sonderrolle Deutschlands abzuleiten ist bis ans Ende der Geschichte.
Steffen Heitmann, SZ 18.9.93
Mit der Wiedervereinigung 1990 sah Heitmann den Zeitpunkt gekommen, um den Jahren nach 1945 ein endgültiges Ende zu setzen, indem man die davor als "einmalig", also in dieser Hinsicht gleich mit allen historischen Ereignissen, einordnet. Diese "Begründung" versteht wohl der am besten, der auch nach dem vierten deutschen Bier noch klar ausführen kann, warum es mit dem nationalen "Büßergewand" auch mal rum sein muss.
Herr Heitmann ist bekanntlich nicht Präsident geworden, die "asiatische Tat" von Professor Nolte hat es nicht in die Geschichtsbücher der Mittelstufe geschafft, und auch den "Onkelz" sind später weniger böse Texte eingefallen. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung ist von einem Schlussstrich weiter entfernt als zu ihren Anfängen, und die Gründe dafür sollen jetzt kurz nachgezeichnet sowie an einigen Stellen mit der japanischen Version verglichen werden.
Auferstanden aus Ruinen
Deutsche Schüler lernen im Fach Geschichte die "vier D des Potsdamer Abkommens" kennen (Demilitarisierung, Denazifizierung, Demokratisierung und Dezentralisierung). Unter diesen Titeln wurde der völlige Bruch mit dem bis 1945 gültigen Staatsprogramm gefordert und die Übernahme aller Bedingungen verlangt, die die alliierten Sieger dem unterworfenen Kriegsgegner setzten. Ähnliches galt für Japan.
Für beide Länder eröffnete allerdings die neue Konstellation des Ost-West-Gegensatzes der 1950er Jahre und danach eine vielleicht unverhoffte, jedenfalls ziemlich beispiellose staatliche Renaissance. Für Japan erwies sich das von den USA in die Verfassung diktierte Verbot eigener Kriegsmittel geradezu als Vorteil. Wegen Eindämmung und roll back des sozialistischen Lagers hatte sich die Weltmacht Nr.1 mit ihrem vormaligen Feind verbündet und ihm eine Bestandsgarantie erteilt. Mit der im Rücken fielen zwar eine ökonomische und außenpolitische Unterordnung sowie finanzielle Lasten an, zugleich minimierten sich aber die Kosten einer eigenständigen Sicherheitspolitik und Japan stieg zu einem der Weltmarktführer auf.
Das deutsche Wirtschaftswunder beruhte ebenfalls auf der alliierten Konzession an den neugewonnenen Partner, seine Wirtschaftskraft in einer europäischen Gemeinschaft und auf dem Weltmarkt zu stärken - auch, und hier in gewisser Differenz zu Japan, um diese ökonomische Potenz für eine sicherheitspolitische Rolle nutzbar zu machen. Denn Westdeutschland war nun einmal der Frontstaat zu einem Kordon pro-sowjetischer Territorien. Er musste also, jetzt gänzlich im Unterschied zu Japan, zügig in ein Bündnis namens NATO aufgenommen, mit den Feinden von zehn Jahren zuvor versöhnt und auch schnell mit eigenen Kriegsmitteln ausgestattet werden. Und in dieser Konstellation machte Deutschland nicht nur gute Geschäfte, sondern recht bald auch wieder - Außenpolitik.
Stärker noch als in Japan wurde für deutsche Entscheidungsträger und ihre Wähler ersichtlich, dass diese neue Einordnung in ein Bündnis mächtiger Nationen, obwohl sie auch eine Unterordnung mit sich brachte, die unvergleichliche Alternative zu zurückliegenden und katastrophalen Alleingängen darstellte. Die wegen dieser Aussöhnung und Einbindung von den Kriegssiegern geforderte radikale Absage an ein Kapitel deutscher Geschichte und die Übernahme der alliierten Deutungen von Schuld und Verantwortung waren die ideologische Eintrittskarte in den nationalen Wiederaufstieg.
Darüber, und nicht wegen modellhafter Staatskunst, wurde das Bekenntnis zu den Verbrechen der deutschen Vergangenheit zu einer moralischen Größe eigener Art und zu einem auf breitem Konsens beruhenden Bestandteil des nationalen "Narrativs". Das Foto vom Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau erhielt als Ikone staatsmännischer Bußfertigkeit seinen Platz in den Geschichtsbüchern - und war der Sache nach nichts anderes als ein früher außenpolitischer Beitrag, Devise "Wandel durch Annäherung", zur Öffnung und zur schlussendlichen Abdankung des gegnerischen Ostblocks.
Den USA gelang also gegenüber Deutschland etwas, was dem formellen Sieger des Vietnamkriegs mit seinen nach Schätzung fünf Millionen Toten gegenüber Amerika versagt blieb - nämlich ein "dunkles Kapitel" im Geschichtsbuch des Gegners und einen Anlass zur Reue zu hinterlassen. Dies belegt erneut, wie sehr die Gründe für nationale Schuldeingeständnisse mit zwischenstaatlichen Kräfteverhältnissen zu tun haben. Was Japan betrifft, so war die Aussöhnung mit den vormaligen Feinden kein größerer Punkt auf der amerikanischen Agenda, mit den sozialistisch gewordenen Nachbarn schon gleich gar nicht. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Südkorea brauchte 20 Jahre, die sog. Normalisierung mit China begann nach 1972.
"If a Japanese prime minister were to […] go to Nanjing to fall on his knees […] would this be the end of the story? Would Japan become a friend of Korea and China? Would the territorial disputes be over?", fragt daher der oben zitierte Korrespondent der "Straits Times" mit gewissem Recht, weil nach Lage der Interessensgegensätze vor Ort eine Räson für japanische Kniefälle nicht abzusehen ist. Umgekehrt hat die deutsche Reumütigkeit keines der maßgeblichen Staatsinteressen behindert. Deutschland verdankt z.B. dem Ende des Kalten Krieges nicht nur fünf weitere Bundesländer, sondern auch noch doppelt so viele neue Partnerstaaten in der NATO und/oder der EU, die früher zur gegnerischen Peripherie gehörten.
Und seine Politiker reichen schon seit Jahrzehnten ihren amerikanischen, französischen oder griechischen Amtskollegen auf Soldatenfriedhöfen wie an Gedenkstätten deutscher Schuld die Hände, während sich Japans Premier Abe wegen seiner Totenehrung im "Yasukuni-Schrein" noch 2013 von US-Vizepräsident Biden eine Rüge einhandelt. Eine staatliche Karriere dieser Art ist also allemal angetan, den Patriotismus der großen Mehrheit mit dem "deutschen Sonderweg" seiner Betätigung zu versöhnen und, wie von Weizäcker und Habermas erwünscht, sogar mit Stolz zu erfüllen.