Von der deutschen Vergangenheitsbewältigung

Holocaust-Mahnmal in Berlin. Bild: K. Weisser / CC-BY-SA-2.0

Warum sie keinen Schlussstrich kennt

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Anfang Oktober 2020 einigen sich die Bundestagsparteien mit Ausnahme der AfD auf einen neuen "Meilenstein der deutschen Erinnerungskultur" in Form einer Berliner Gedenkstätte für die europäischen Opfer des NS-Vernichtungskriegs. Die FDP lässt wissen: "Erinnern kenne keinen Schlussstrich […]. ‚Jede Generation muss sich aufs Neue mit der Vergangenheit auseinandersetzen‘." Die Grünen mahnen, "dass der gruppenbezogene Hass sich heute in Europa und auch in Deutschland wieder breit macht". Nur die AfD opponiert und spricht von einem "Sündenstolz der Deutschen", einem "Erinnerungswahn" und fordert stattdessen einen Gedenkort für die Weltkriegspopfer auf genuin deutscher Seite.

Ungefähr zeitgleich löst ein anderes Denkmal auf öffentlichem Grund einen diplomatischen Vorgang aus. Aufgestellt Ende September vom Korea-Verband e.V. in Berlin-Mitte, erinnert eine Statue "an die über 200.000 Mädchen und Frauen aus 14 Ländern, die vom japanischen Militär [zwischen 1931 und 1945 …] im asiatisch-pazifischen Raum als sogenannte 'Trostfrauen' sexuell versklavt wurden".

Umgehend unterstreicht Japans Außenminister Toshimitsu in einem Videogespräch mit Heiko Maas die "aktuelle Störung der deutsch-japanischen Beziehungen" samt der Städtepartnerschaft Berlin-Tokio durch diese Erinnerung an ein historisches Kapitel, unter das seit einem Abkommen mit Seoul von 2015 ein "endgültiger und unwiderruflicher Schlussstrich gezogen" sei. (Die Statue sollte daher auf Anordnung des Bezirks bis zum 14. Oktober entfernt sein, darf aber, Stand Redaktionsschluss, vorläufig bis zu einer gerichtlichen Bewertung stehenbleiben.)

Analog zu einem Flügel der AfD verwahrt sich also auch die japanische Regierung gegen ein "Denkmal der Schande" im Herzen der deutschen Hauptstadt - was auf einer Linie liegt mit dem wiederholten trotzigen Totengebet von Tokioter Parlaments- und Kabinettsmitgliedern im Yasukuni-Schrein für die Seelen von 2,5 Mio. Kriegstoten, darunter 14 als sog. "Kriegsverbrecher der A-Klasse" Verurteilte (sowie gefallene Armee-Pferde). Auch der japanische Schulbuchstreit gehört hierher, weil dem vormaligen "Regierungschef [Abe …] die Darstellung der jüngeren japanischen Geschichte 'zu masochistisch' [erschien …]. Auf Basis solcher Bücher könne die japanische Jugend nicht lernen, ihr Land zu lieben."

Das dürften die neuen Rechten wiederum ähnlich sehen, wenngleich eine Leserstimme zur zitierten Meldung ein klares Dementi zum Ausdruck bringt: "Wenn Shinzo Abe recht hätte, würden wir Deutsche unser Land nicht lieben. Dies trifft aber in aller Regel nicht zu." Unterstützung und Ermutigung findet eine solche Vaterlandsliebe ganz prominent beim amtierenden Bundespräsidenten, der beständig und aktuell daran erinnert, "dass Demokratie nicht selbstverständlich ist […], dass uns unsere Vergangenheit Lehren aufgibt […]. Wir leben in einer Zeit, in der […] sogar völkisches Denken neue Verführungskraft entfaltet […]. Deshalb ist es wichtig, dass wir keinen Schlussstrich ziehen und nicht zurückfallen in das alte Verdrängen."

Und auch mit Blick auf die rassistischen Vorfälle in den USA ergänzt Steinmeier: "Es reicht nicht aus, 'kein Rassist' zu sein. Wir müssen Antirassisten sein! Rassismus erfordert Gegenposition […] und - was immer am schwierigsten ist - Selbstkritik, Selbstüberprüfung."

"The Model Penitent"

Dieser Schwierigkeit einer selbstkritischen Überprüfung, deren Ende auch 75 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nicht abzusehen ist, nahm und nimmt sich Japan im Vergleich zu Deutschland offensichtlich nicht oder in ziemlich anderer Form an - ein Unterschied, der in journalistischen oder wissenschaftlichen Betrachtungen thematisiert wird. Dort spielt allerdings der vom Bundespräsidenten bemühte Zusammenhang zwischen der Erinnerung an die historische Schuld und der Verteidigung der freiheitlich-demokratischen Gegenwart eine untergeordnete Rolle. Es würde wohl auch keinem Publizisten ernsthaft einfallen, das heutige Japan der Verachtung von Menschenwürde und Parlamentarismus zu bezichtigen, weil es seine Vergangenheit, um mit der AfD zu sprechen, ohne oder mit geringem "Sündenstolz" und "Erinnerungswahn" bewältigt.

Stattdessen wird die deutsche Vergangenheitsbewältigung nicht als Beiwerk zu einem staatlichen Programm behandelt, sondern eher als eine verantwortungsethische Staatskunst für sich, der offenbar ein großer Wurf gelungen sei, den Japans Politik bisher verpasst habe. Einem akademischen Festredner soll laut Faz 2010 der Satz entfahren sein, "es [gebe] Länder in Europa, die uns um dieses Denkmal [das Holocaust-Mahnmal] beneiden".

Ein US-deutscher Wissenschaftler hat den Unterschieden im Gebrauch der nationalen Bußfertigkeit, engl.: penitence, eine längere Studie gewidmet (Thomas U. Berger: War, Guilt, and World Politics after World War II, New York 2012), die "Germany: The Model Penitent" bzw. "Japan: The Model Impenitent?" nennt und dies u.a. so begründet:

Weizsäcker even went so far as to suggest that […] not only should Germans today feel guilty for the crimes of the past, but that this guilt should itself be a source of national pride.

Thomas U. Berger, S. 35

Es mag ja sein, dass ein Bundespräsident, der 1985 das Kriegsende zum "Tag der Befreiung" und die Shoa für "beispiellos in der Geschichte" erklärt, den Patriotismus des Volks für diese Sicht vereinnahmen will. Aber ein staatliches Weiß-Warum und eine politische Grundlage wird diese Entfachung einer "attitude" doch wohl gehabt haben, die der US-Autor auf Deutsch "Sühnestolz" (ebd.) nennt.

Damit ein solches Gefühl sich einstellt, ist mehr gefordert als ein präsidialer Appell. Dazu später mehr. Von Stolz redet auch der Soziologe Jürgen Habermas, den er durch eine "große intellektuelle Leistung" gerechtfertigt sieht, die nach beschämenden Erfahrungen einen Patriotismus und eine Staatsmoral eigener Art hervorgebracht habe:

Die vorbehaltlose Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens ist die große intellektuelle Leistung unserer Nachkriegszeit, auf die gerade meine Generation stolz sein könnte […]. Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht entfremdet, ist ein Verfassungspatriotismus. Eine in Überzeugungen verankerte Bindung an universalistische Verfassungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der Deutschen erst nach - und durch - Auschwitz bilden können. Wer uns […] die Schamesröte über dieses Faktum austreiben will, […] zerstört die einzige verlässliche Basis unserer Bindung an den Westen.

Jürgen Habermas, Die Zeit 11.7.86

Auch hier steht einiges auf dem Kopf. Basis von Adenauers Westbindung war kein Schamgefühl, sondern mindestens das Interesse an der Restauration eines kapitalistischen Staats, für den sich die Demokratie als geeignete Herrschaftsform empfahl. Der Patriotismus entstammt auch nicht einer Überzeugtheit von "universalistischen Verfassungsprinzipien", sondern ist, um mit Hegel zu reden, "die Gesinnung, welche in den gewöhnlichen Lebensverhältnissen das Gemeinwesen als substantielle Grundlage zu wissen gewohnt ist" (§ 268 Rechtsphil.), setzt also staatliche Verhältnisse voraus, statt sie, wie Habermas wähnt, erst einzurichten.

Der Europa-Korrespondent einer Zeitung aus Singapur, das Opfer der japanischen Expansion war, steuert schließlich auch einen nationalen Ertrag aus dem vermeintlichen Kunstgriff in Sachen Patriotismus bei: "The result is that, while any rearmament move by Japan immediately attracts unfavourable responses from its neighbours, the pressure on Germany is in the opposite direction." (Straits Times 10.2.14) Und er ergänzt: "In return for contrition [Reue], Germany was offered security, prosperity and full membership in the European community of nations. Germany now leads Europe in every respect." (Ebd. 3.3.14)

Diese Sicht aus dem Ausland verweist zumindest auf eine Reihe staatlicher Erfolge, lässt aber offen, inwieweit sie mit den "Lehren aus dunkler Vergangenheit" einher- oder aus ihnen hervorgehen. Außerdem: Wenn die Gegenleistung für staatliche Reue in Wachstum, Bündnispartnern, erwünschter Aufrüstung und schließlich in einer internationalen Führungsrolle besteht - warum haben die japanischen Nachkriegsregenten dann nicht ihrerseits einen solchen Erfolgsweg eingeschlagen?

Staatshagiographie

Dabei ist der unkritische, schönfärberische und überhöhende Umgang mit der eigenen Vergangenheit eigentlich der Normalfall, wie man ihn von Staaten so kennt. Sie bespiegeln und feiern sich gern in deren Licht und Tiefe, präsentieren darin ihrer Bevölkerung einen Grund zur Vaterlandsliebe und sich selbst dem Ausland gegenüber als respektgebietend.

Gelegentlich gehen sie auch, Beispiel Gebietsansprüche, zu Forderungen über, die sie angeblich aus eigener wie fremder Vergangenheit "historisch erworben" haben. Selbst Deutschland bezeichnet seinen kolonialen Vernichtungskrieg von 1904 bis 1908 gegen die afrikanischen Hereros und Namas erst 2016 nach langem Zögern als "Völkermord" und stellt dabei klar, "dass sich aus dieser historisch-politischen Verwendung des Begriffes keine Rechtsfolgen ergeben". Diese Vergangenheit ist also durchaus vergänglich, und der damalige Bundestagspräsident merkte überdies an, dass es um mehr geht als um bloßes Entschuldigen: "Wer vom Genozid an den Armeniern 1915 im Osmanischen Reich spreche" - um damit den "Sultan Erdogan" zu mäßigen -, "der müsse auch die Verbrechen des deutschen Militärs […] so bezeichnen."

Die Theorie der AfD und ihrer Anhänger, wonach "Hitler und die Nationalsozialisten nur ein Vogelschiss in 1000 Jahren deutscher Geschichte" gewesen seien (Gauland), liegt also durchaus auf Linie mit der üblichen Staatshagiographie. Und sie hat ihre Vorläufer in der bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigung, die einem Philosophen zufolge als ein "kollektives Beschweigen" (Hermann Lübbe) begann, weil das nationale Selbstbild mit einer "gebrochenen Geschichte" konfrontiert war, nachdem es die politischen Führer, denen die Nation über Jahre hinweg gefolgt war, vor Kriegsverbrecher-Tribunale gestellt und die örtlichen Amtspersonen zur Umerziehung einrücken sah.

1984, als Deutschland schon längst wieder wer war, versuchte eine Band namens "Böhse Onkelz" das lädierte Geschichtsbild ihrer Landsleute mit folgenden Versen zeitgemäß aufzuheitern:

Auch zwölf dunkle Jahre in Deiner Geschichte / macht unsere Verbundenheit zu Dir nicht zunichte / Es gibt kein Land frei von Dreck und Scherben / Wir sind hier geboren wir wollen hier sterben / Deutsche Frauen, Deutsches Bier / Schwarz-rot-gold, wir steh‘n zu dir.

Böhse Onkelz

Auf einer von den Fans solcher Reime weit entfernten Ebene tobte zwei Jahre später ein akademischer Streit, der dennoch einiges mit dem unfeinen Lied gemein hat. Der Autor Theo Wentzke schreibt dazu in der "jungen Welt":

Mit einem feinen Gespür dafür, wie nationale Moral und wirklicher Machtstatus der Nation zusammengehören, [haben] Gelehrte [wie Ernst Nolte, Michael Stürmer u.a.] erkannt, dass es zu Rang und Namen, die ihre Nation mittlerweile erobert hat, nicht mehr so recht passen will, dass [sie] ihre moralische Größe […] über ein Bekenntnis zur nationalen Schuld […] unter Beweis stellt. Und [Nolte] hat mit der Autorität seiner Wissenschaft im Rücken mutig die These in den Raum gestellt, dass die angeblich "singuläre Tat", der Holocaust, so singulär gar nicht war; […] so dass sich die Frage stellt, ob Auschwitz nicht besser als "die aus Angst geborene Reaktion auf die Vernichtungsvorgänge der russischen Revolution" zu verstehen sei.

Theo Wentzke

Noltes Fragen, ob Hitler nicht eine "asiatische Tat" vollbrachte, ordnete Stürmer in die Reihe der Bemühungen ein, "Erneuerung des historischen Bewusstseins, Rückkehr in die kulturelle Überlieferung, Versprechen der Normalität" (Faz 25.4.86) zu erzielen. Auch Politiker, die wohl vor allem, sehen sich dafür zuständig, dass der nationale Zusammenhalt durch ein passendes Geschichtsbild bzw. durch seine nötige Revision gestärkt wird. So war das auch beim sächsischen Justizminister Steffen Heitmann, der Anfang der 1990er Jahre als möglicher Bundespräsident ins Gespräch kam und sich dafür mit folgenden Sentenzen empfahl:

Das Merkwürdige ist in der Bundesrepublik Deutschland, dass es ein paar Bereiche gibt, die sind tabuisiert, [obwohl das …] nicht unbedingt dem Empfinden der Mehrheit der Bürger entspricht […]. Ich glaube, dass der organisierte Tod von Millionen Juden in Gaskammern tatsächlich einmalig ist - so wie es viele historisch einmalige Vorgänge gibt. Wiederholungen gibt es in der Geschichte ohnehin nicht. Ich glaube aber nicht, dass daraus eine Sonderrolle Deutschlands abzuleiten ist bis ans Ende der Geschichte.

Steffen Heitmann, SZ 18.9.93

Mit der Wiedervereinigung 1990 sah Heitmann den Zeitpunkt gekommen, um den Jahren nach 1945 ein endgültiges Ende zu setzen, indem man die davor als "einmalig", also in dieser Hinsicht gleich mit allen historischen Ereignissen, einordnet. Diese "Begründung" versteht wohl der am besten, der auch nach dem vierten deutschen Bier noch klar ausführen kann, warum es mit dem nationalen "Büßergewand" auch mal rum sein muss.

Herr Heitmann ist bekanntlich nicht Präsident geworden, die "asiatische Tat" von Professor Nolte hat es nicht in die Geschichtsbücher der Mittelstufe geschafft, und auch den "Onkelz" sind später weniger böse Texte eingefallen. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung ist von einem Schlussstrich weiter entfernt als zu ihren Anfängen, und die Gründe dafür sollen jetzt kurz nachgezeichnet sowie an einigen Stellen mit der japanischen Version verglichen werden.

Auferstanden aus Ruinen

Deutsche Schüler lernen im Fach Geschichte die "vier D des Potsdamer Abkommens" kennen (Demilitarisierung, Denazifizierung, Demokratisierung und Dezentralisierung). Unter diesen Titeln wurde der völlige Bruch mit dem bis 1945 gültigen Staatsprogramm gefordert und die Übernahme aller Bedingungen verlangt, die die alliierten Sieger dem unterworfenen Kriegsgegner setzten. Ähnliches galt für Japan.

Für beide Länder eröffnete allerdings die neue Konstellation des Ost-West-Gegensatzes der 1950er Jahre und danach eine vielleicht unverhoffte, jedenfalls ziemlich beispiellose staatliche Renaissance. Für Japan erwies sich das von den USA in die Verfassung diktierte Verbot eigener Kriegsmittel geradezu als Vorteil. Wegen Eindämmung und roll back des sozialistischen Lagers hatte sich die Weltmacht Nr.1 mit ihrem vormaligen Feind verbündet und ihm eine Bestandsgarantie erteilt. Mit der im Rücken fielen zwar eine ökonomische und außenpolitische Unterordnung sowie finanzielle Lasten an, zugleich minimierten sich aber die Kosten einer eigenständigen Sicherheitspolitik und Japan stieg zu einem der Weltmarktführer auf.

Das deutsche Wirtschaftswunder beruhte ebenfalls auf der alliierten Konzession an den neugewonnenen Partner, seine Wirtschaftskraft in einer europäischen Gemeinschaft und auf dem Weltmarkt zu stärken - auch, und hier in gewisser Differenz zu Japan, um diese ökonomische Potenz für eine sicherheitspolitische Rolle nutzbar zu machen. Denn Westdeutschland war nun einmal der Frontstaat zu einem Kordon pro-sowjetischer Territorien. Er musste also, jetzt gänzlich im Unterschied zu Japan, zügig in ein Bündnis namens NATO aufgenommen, mit den Feinden von zehn Jahren zuvor versöhnt und auch schnell mit eigenen Kriegsmitteln ausgestattet werden. Und in dieser Konstellation machte Deutschland nicht nur gute Geschäfte, sondern recht bald auch wieder - Außenpolitik.

Stärker noch als in Japan wurde für deutsche Entscheidungsträger und ihre Wähler ersichtlich, dass diese neue Einordnung in ein Bündnis mächtiger Nationen, obwohl sie auch eine Unterordnung mit sich brachte, die unvergleichliche Alternative zu zurückliegenden und katastrophalen Alleingängen darstellte. Die wegen dieser Aussöhnung und Einbindung von den Kriegssiegern geforderte radikale Absage an ein Kapitel deutscher Geschichte und die Übernahme der alliierten Deutungen von Schuld und Verantwortung waren die ideologische Eintrittskarte in den nationalen Wiederaufstieg.

Darüber, und nicht wegen modellhafter Staatskunst, wurde das Bekenntnis zu den Verbrechen der deutschen Vergangenheit zu einer moralischen Größe eigener Art und zu einem auf breitem Konsens beruhenden Bestandteil des nationalen "Narrativs". Das Foto vom Kniefall Willy Brandts 1970 in Warschau erhielt als Ikone staatsmännischer Bußfertigkeit seinen Platz in den Geschichtsbüchern - und war der Sache nach nichts anderes als ein früher außenpolitischer Beitrag, Devise "Wandel durch Annäherung", zur Öffnung und zur schlussendlichen Abdankung des gegnerischen Ostblocks.

Den USA gelang also gegenüber Deutschland etwas, was dem formellen Sieger des Vietnamkriegs mit seinen nach Schätzung fünf Millionen Toten gegenüber Amerika versagt blieb - nämlich ein "dunkles Kapitel" im Geschichtsbuch des Gegners und einen Anlass zur Reue zu hinterlassen. Dies belegt erneut, wie sehr die Gründe für nationale Schuldeingeständnisse mit zwischenstaatlichen Kräfteverhältnissen zu tun haben. Was Japan betrifft, so war die Aussöhnung mit den vormaligen Feinden kein größerer Punkt auf der amerikanischen Agenda, mit den sozialistisch gewordenen Nachbarn schon gleich gar nicht. Die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Südkorea brauchte 20 Jahre, die sog. Normalisierung mit China begann nach 1972.

"If a Japanese prime minister were to […] go to Nanjing to fall on his knees […] would this be the end of the story? Would Japan become a friend of Korea and China? Would the territorial disputes be over?", fragt daher der oben zitierte Korrespondent der "Straits Times" mit gewissem Recht, weil nach Lage der Interessensgegensätze vor Ort eine Räson für japanische Kniefälle nicht abzusehen ist. Umgekehrt hat die deutsche Reumütigkeit keines der maßgeblichen Staatsinteressen behindert. Deutschland verdankt z.B. dem Ende des Kalten Krieges nicht nur fünf weitere Bundesländer, sondern auch noch doppelt so viele neue Partnerstaaten in der NATO und/oder der EU, die früher zur gegnerischen Peripherie gehörten.

Und seine Politiker reichen schon seit Jahrzehnten ihren amerikanischen, französischen oder griechischen Amtskollegen auf Soldatenfriedhöfen wie an Gedenkstätten deutscher Schuld die Hände, während sich Japans Premier Abe wegen seiner Totenehrung im "Yasukuni-Schrein" noch 2013 von US-Vizepräsident Biden eine Rüge einhandelt. Eine staatliche Karriere dieser Art ist also allemal angetan, den Patriotismus der großen Mehrheit mit dem "deutschen Sonderweg" seiner Betätigung zu versöhnen und, wie von Weizäcker und Habermas erwünscht, sogar mit Stolz zu erfüllen.

"A special German mission"

Das staatsmoralische Projekt der deutschen Vergangenheitsbewältigung begründet nicht die Räson dieser Nation, sondern gehört ihrem Überbau an, der ihr dienen und sie adeln soll. Dieses instrumentelle Verhältnis, das viele Patrioten für den eigenen Laden gerne in Abrede stellen, leuchtet ihnen gleichwohl schnell ein, wenn es um ausländische Staatswesen geht. Meldungen wie diese - "The Xinhua news agency slammed Japan for denying history, unlike Germany which has 'faced up squarely to the past and made sincere apologies'" (Straits Times 27.2.14) oder "South Korean President Ms Park called on Japan to follow Germany in repenting of its past wrongs so that the two countries can move forward" (AFP 1.3.14) - dechiffriert ein deutscher Leser unschwer als den chinesischen oder koreanischen Versuch, aus dem Vergleich von Japan mit Deutschland politisches Kapital zu schlagen. Dies gegebenenfalls abzubiegen sind "wir" den ermordeten Juden schuldig:

"Xi will Holocaust instrumentalisieren" (taz 26.2.14) "In Berlin wird erzählt, dass China bei der Vorbereitung des Staatsbesuchs die Idee eingebracht habe, das Holocaust-Mahnmal zu besuchen. Das hat das deutsche Protokoll jedoch abbiegen können: Nichts wäre unangenehmer als ein chinesischer Staatspräsident, der das Gedenken an die ermordeten Juden Europas benutzt, um den Japanern Lektionen in Sachen Vergangenheitsbewältigung zu erteilen." (FR 28.3.14)

"Wir" dagegen benutzen da gar nichts, sondern folgen den Pflichten aus "unserer" Vergangenheit: "Germany's Nazi and Communist pasts are no excuse for ducking [sich drücken] international duties, Mr. Gauck said. […] Germany could not grant itself some kind of privileged abstention [Enthaltung], hiding behind history." (NYT 1.2.14)

Ein wenig rennt diese Befürchtung des dritten hier zitierten Bundespräsidenten auf der 50. Münchner Wehrkundetagung offene Türen ein. Denn dass "die Lehren der Geschichte" nicht für deutsche Zurückhaltung, sondern umgekehrt für eine aktive Einmischung in die internationale Ordnungsstiftung sprechen, diese Neubestimmung wurde spätestens von der damaligen rot-grünen Bundesregierung anlässlich der Auflösung Jugoslawiens und der deutschen Beteiligung am Kosovo-Krieg selbstbewusst vollzogen, als Joschka Fischer das Bombardement mit "Nie wieder Auschwitz!" legitimierte. Eine Sicht aus dem Ausland tut auch hier ein wenig Wahrheit kund: "By the late 1990s, the lessons of history had been reinterpreted in favour of a special German mission to prevent genocide in Europe." (Brendan Simms, irischer Historiker: From the Kohl to the Fischer Doctrine, 2003)

Diese "Reinterpretation" der NS-Geschichte ist der bleibende Grund dafür, dass unter sie kein Schlussstrich gezogen wird. Die "deutschen Spezialaufträge" ergeben sich zwar aus sehr gegenwärtigen politökonomischen Interessen und Weisen, ihnen internationale Geltung zu verschaffen. Aber warum sollten deutsche Politiker auf eine Errungenschaft verzichten, die sie sich parallel zu ihrem tatsächlichen Machtgewinn verschafft haben und die darin besteht, diesem bei Bedarf eine genuine ideologische Rechtfertigung beizufügen?

Wenn das heutige Deutschland den größten Binnenmarkt der Welt anführt, geht dies sehr erfolgreich mit der Selbstdarstellung einher, dass es als geläuterte Nation zu dieser verantwortungsvollen Position auch legitimiert und befähigt ist. Weil der Nachfolger von Kaiserreich und Führerstaat sein Geschichtsbild in der beschriebenen Weise nach innen und außen konsolidiert und etabliert hat, blamieren sich Protestplakate z.B. in Athen, die Kanzlerin Merkel mit Hitler-Bärtchen zeigen, weil sie den Griechen in Namen der EU Vorschriften macht, wie von selbst. Und ihr geschichtsbewusster Gefolgsmann gibt Nachhilfestunden und klärt darüber auf, welchem Staatsmann es heute korrekterweise anzukleben ist: "Schäuble wollte Berliner Schülern die Ukraine-Krise erklären" und "vergleicht Putins Vorgehen mit Hitlers" (Die Welt 31.3.14).

Steinmeiers Aufruf zum Antirassismus (s.o.) beinhaltet nicht von ungefähr den Hinweis auf entsprechende Vorgänge in den USA, weil dem missliebigen Amtskollegen Trump damit eine moralisch hochstehende Abfuhr erteilt werden kann. Was den deutschen Parteienstreit betrifft, so findet der Verweis auf unzureichende Distanz zur braunen Vergangenheit gerne Verwendung als Ersatz von Kritik. Eine solche stellt sich den Populisten gegenüber der Sache nach so recht nicht ein, wenn und weil der Patriotismus den Konkurrenten um die Staatsämter weitgehend gemeinsam ist.

Bei Steinmeiers Mahnungen, die alle maßgeblichen Parteien mit Einschränkungen bei der AfD teilen, kommt noch ein anderes, nicht unwichtiges Moment hinzu. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung wird ihrer erfolgreichen Karriere zum Trotz - oder auch wegen ihr - die Zäsur im nationalen Stolz nicht ganz los, den manche Patrioten als gebrochen verspüren. Dieser Widerspruch will also staatlich betreut werden, wenn nötig auch repressiv, damit er keine Formen annimmt, die nach innen und außen dem etablierten Selbstbild schaden könnten.

P.S. zur Antifa

Im Instrumentalismus des deutschen Umgangs mit den "dunklen Jahren" entdecken linksdemokratische und andere Kritiker oft Halbherzigkeit, Vorwand und Heuchelei, manchmal sogar einen ewig-gestrigen Drang. Demokratische Politiker sind jedoch von der moralischen Lauterkeit ihrer Grundhaltungen so überzeugt, dass sie in deren berechnendem Einsatz dazu gar keinen Gegensatz erblicken.

Wer sich also für einen besseren und eigentlichen Antifaschismus einsetzt, dem kann es passieren, dass sein Bemühen gegebenenfalls auch zur Pflege des offiziellen einen Beitrag leistet.