Von der spekulativen Medientheorie zur Netzkritik

Ausschnitte eines Vortrags von Geert Lovink am ICC, Tokyo, 19.12.96

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Geert Lovink liefert in diesem Text einen Aufriß der jüngeren Geistesgeschichte im Feld der Medientheorie der letzten 15 Jahre. "Helden der Postmoderne" wie Jean Baudrillard müssen in diesem Text Federn lassen, ebenso wie Stars der deutschen Medientheorie wie Norbert Bolz oder Friedrich Kittler. Doch Lovink kritisiert nicht um des Kritisierens willen, sondern versucht schlüssig nachzuweisen, inwiefern die Medientheorie bisher versagt hat, und wozu die via "Nettime" verbreitete Netzkritik angetreten ist.

Weitere Artikel zum Thema: Über Nettime, Pit Schultz im Gespräch mit Pauline Broeckman von "Mute".
Online Publishing I, die Nettime Mailinglist, von Armin Medosch.

Geert Lovink, Foto Manu Luksch

Arthur Kroker hat einmal gesagt, daß "Medien" nun "zu langsam" wären. Der Begriff ist der Kultur der Geschwindigkeit im Digitalzeitalter nicht mehr angemessen. "Medien" bezieht sich immer noch auf Information, Kommunikation, Black Box Modelle, und eben nicht auf die pure Weiterleitung, direkt in den Körper. Fast definitionsgemäß handeln die "Medien" von Schaltern, Filtern, technischen Einschränkungen, dummen Simulationen und herzlosen Repräsentationen. Indem sie sich auf bestimmte Sinne konzentrieren, benötigen sie immer noch Zugangs- und Selektionsmechanismen. Es gibt nur Teil-Medien. Wir sollten deshalb nach Begriffen Ausschau halten, die noch fließender sind, die alle Schnittstellen überschreiten können, geografische Bedingungen und menschliche Unvollkommenheiten. Das ist die ultimative spekulative Medientheorie, der Wunsch, das tatsächliche Objekt unserer Studien und Leidenschaft zurückzulassen und auf eine "Welt nach den Medien", wie es in einem der frühen Adilkno Texte hieß, zuzusteuern.

Diese Sichtweise definiert das Netz als "Medium, um alle Medien an ihr Ende zu führen", als das "Metamedium". Doch zum heutigen Zeitpunkt gibt es keine allgemeine Medientheorie. Der Cyberspace ist immer noch ein "work in progress", eine Baustelle. Wir sehen uns der Realisierung und damit dem Niedergang einer bestimmten Art von Medientheorie gegenüber, die zu Sätzen wie "die Medien sind zu langsam" führt. In diesem ideologischen Vakuum taucht eine zeitbezogenes unabhängiges Projekt auf, genannt "Netzkritik". Eine pragmatische Form des negativen Denkens, im Abklang einer Phase der spekulativen Medientheorie, welche "das Neue" zu definieren versucht hat.

Meine Generation, welche die intellektuelle Arena in den späten siebziger Jahren betreten hat, wurde Zeuge der Überlappung eines Marxismus in der Krise und des aufsteigenden Postmodernismus und wurde zwischen diesen beiden Mühlsteinen beinahe zermalmt. Der Schmutz von Punk war für coole Leute und akademische Denker immer noch zu politisch und existentialistisch. Die meisten Themen drehten sich um die Schriften von Louis Althusser, Antonio Gramsci und Michel Foucalt. Wir waren von den Fragen der Macht und der Ideologie besessen, jenseits der Historizität, des Humanismus und des tödlichen wirtschaftlichen Determinismus. Medien waren Teil der ideologischen Realität, doch sie füllten sie nicht aus. Wie andere Instanzen hatten sie ihre "relative Autonomie", ein Begriff, der nach einer tiefgreifenden Enthüllung klang. Und die Medien waren nicht nur repressiv sondern auch produktiv, wie Foucalt klargestellt hatte. Wo also die Macht lokalisieren, wenn sie nicht länger in den Regierungen und Führungsetagen der Unternehmen zu finden ist? So wurde Ideologie langsam identisch mit den Medien und den sich entwickelnden neuen Technologien.

Als ich mich auf die sogenannten "neuen sozialen Bewegunge" einzulassen begann, wurde es klar, daß es nicht länger nützlich war, sich mit den Problemen der vorangegangenen Generation, der 68er, herumzuschlagen. Doch es war auch nicht völlig klar, ob wir die Elemente des neuen französischen Denkens wirklich benutzen konnten. Wir praktizierten keine "Mikropolitik". Wir wollten nicht nur ein Stück vom Kuchen, sondern die gesamte verdammte Bäckerei. Es war nicht genug, "ein Patchwork von Minderheiten" zu sein. Die radikalen Bewegungen hatten viel stärkere Sehnsüchte. Die Angst und der Zorn waren viel stärker, "no future" hallte uns in den Ohren, weniger Theorie, nur Aktion. Deleuze und GUattari wurden erst in den neunziger Jahren populär, nachdem sich alle diese Bewegungen in der Virtualität aufgelöst hatten, um als Popkulturen wiederzukehren, im Rap, Techno, Jungle.

Während der politischen und sozialen Zusammenstöße der achtziger Jahre wurden wir uns auch einer anderen gesellschaftlichen Veränderung bewußt. Wir wurden Zeuge der Explosion der Medienrealität. Ich studierte politische Wissenschaften und Massenkommunikation und ich erinnere mich, daß wir nie von Medien im Plural sprachen, sondern immer nur von "Massenmedien" als einem monolithischen Block. Unser Hauptbelang war die Veränderung der "öffentlichen Meinung". Die Bewegungen der frühen achtziger Jahre kritisierten die engen Definitionen des Politischen als solchem, positionierten sich aber selbst nicht innerhalb der Medienrealität. Die geheimnisvollen Gesetze der öffentlichen Meinung hatten mit Mentalitäten zu tun, mit Bewußtsein, Haltungen, einem semiotischen Prozeß, der mit aller Gewißheit soziale und politische Veränderungen bringen würde, ohne reformistische Kompromisse zu benötigen oder die eigene Marginalisierung als verbitterte, dogmatische Marxisten.

Die Zahl der Kanäle im Fernsehen, Radio und die wachsende Zugänglichkeit von Mikroelektronik und PcŽs in der Mitte derachtziger Jahre gaben uns einen besseren Zugang zu Medien und dadurch veränderte sich das Wesen des politischen Kampfes. Die Do-it-yourself Medien stärkten die Position der aufstrebenden Bewegungen, insbesondere bei den fortwährenden Versuchen, die Meinung der Journalisten in etablierten Medien zu beeinflussen, ohne völlig von ihnen abhängig zu sein. Für mich fiel der Aufstieg und die Erweiterung dieser Medienerfahrungen mit der Geburt der "Medientheorie" zusammen. Als meine direkte Beteiligung als Hausbesetzer und Umweltaktivist sich in eine Hinwendung zu der "Medienfrage" transformierte, entdeckte ich die damals gerade entstehende Medientheorie in Deutschland. Ich wurde sogar darin verwickelt, obwohl ich nicht mehr an der Universität war und alle akademischen Rituale abgelegt hatte, wie Fußnoten, Abstracts, Thesen, etc..

Es erscheint mir wichtig, einige der Grundzüge dieser Medientheorie darzustellen. Es besteht eine starke Vorliebe für "Stil". In ihren besten Momenten ist sie Techno-Poesie, brilliant in ihrer Suche nach neuen, historischen Mustern. Im schlechtesten Fall ist sie trockene, akademische Hermeneutik. Man nehme die Arbeiten von Heidegger, Carl Schmitt, Walter Benjamin, Ernst Jünger, Friedrich Nietzsche und J.W.Goethe, dippe sie in die Sauce der Medientechnologien, und würze sie mit einem Spritzer französische Philosophie, das ist das grundlegende Rezept. Diese postmoderne Medientheorie versucht implizit, ihrer 68er Vergangenheit zu entfliehen. Ebenso typisch ist die Zurückweisung rivalisierender Medientheorien. Sie stellt keine Querverbindungen zu existierenden Medientheorien her, wie "Massenkommunikation", oder "Kulturstudien", vielleicht mit Ausnahme McLuhans. Die Abneigung gegen soziale Wissenschaften bleibt ein Geheimnis. Die Verdammung der Frankfurter Schule gehört ebenso zum Standard. Medientheorie mag keine Ideologiekritik. Sie führt Medien auf die Essenz der Maschinenlogik zurück. Sie ist nicht länger an der Bedeutung ihrer Botschaft interessiert, die einmal als Propaganda bezeichnet worden war.

Zentral in dieser Theorie ist die Definition von Medien als technischen Medien. Das sollte als polemische Geste gesehen werden, um alle Referenzen an einen ökonomischen, politischen, sozialen oder sogar kulturellen Kontext zu beseitigen. Zuerst und vor allem sollen Medien in der Sprache der Technik, der Sprache der Technologie selbst beschrieben werden. Seltsam genug, ist dies doch der genaue Ausdruck des weiteren Aufstiegs der Medien zu einer autonomen Realität, des Sieges der Ideologie über alle anderen Instanzen. Wenn die Medien zu fließen beginnen (und "immateriell" werden) müssen sie zunächst die Querverbindungen zum Journalismus, den Sozialwissenschaften, den Ideen von Fortschritt und Aufklärung, der Staatspropaganda, der öffentlichen Meinung, dies alles kappen, um ein Werkzeug der Erziehung und Unterhaltung der Menschen zu werden. Von diesem Punkt an sind Medien nur mehr ein Nebenprodukt des Militärischen, die auf grundlegende Art mit dem Krieg der Wahrnehmung zu tun haben. Der Rest ist Rauschen.

Für diese Denker ist es essentiell, daß sie das "Neue" in den Begriffen des Alten vorstellen müssen. Sie müssen fortwährend das "Neue" ausrufen und das Alte verdammen, während sie zugleich die Verbindung zu den traditionellen Disziplinen offenhalten. Deshalb findet ein permanentes Oszillieren zwischen dem Neuen und dem Alten statt, die beide in die Theorie inkorporiert werden müssen. Ebenso charakteristisch ist eine Melancholische Haltung gegenüber der alten Terminologie und den Quellen, verbunden mit einer tiefen philosophischen Begeisterung für das Neue. Doch niemals auf eine wirklich futuristische Art. Die Zerstörung des Alten erscheint in diesem Kontext als eine fremde Anwandlung. Als post-politische Intellektuelle, ist es für die meisten von ihnen schwierig, Propheten zu werden, Visionäre oder zumindest Propagandisten des Neuen. Sie können nicht so leicht in Verkaufsagenten von Siemens oder Philips verwandelt werden. Stattdessen bleibt die sorgfältige Erforschung des Neuen in den Begriffen des Alten ihre Aufgabe. Ihr Erfolg besteht darin, dies der konservativen aber aufgeklärten kulturellen Elite zu präsentieren.

Die Medientheorie der achtziger Jahre ist in Essenz eine Philosophie des Endes. Sie arbeitet sich zu ihrem Höhepunkt im Jahr 1989 vor. Sie beschäftigt sich kontemplativ mit dem Ende (des Sozialen, Historischen, Ideologischen, etc.), doch auf Grund der Verweigerung, radikal modern zu sein, ist sie nicht bereit, ihren eigenen ideologischen Rahmen hinter sich zu lassen, der in der Zeit von 68 bis 89 geformt worden war. Wie bei vielen Intellektuellen der selben Generation scheint es unmöglich zu sein, den Fall der Mauer 89 ins eigene ästhetische Programm zu integrieren. Viele von ihnen möchten mit dem Osten nichts zu tun haben und er erscheint ihnen nur wie ein atavistischer, störender Faktor, nur ein weiteres Zeichen der vor sich gehenden Desintegration und Fragmentation. Technologie ist vor allem Hardware. Sie hat keine User, die mit ihr auf produktive Art herumspielen. Deshalb kann auch die Popkultur so leicht ignoriert werden. Die Hardware ist die alles vorantreibende Kraft, nicht Menschen, und schon gar nicht die Osteuropäer. Dieser technologische Determinismus erscheint beinahe marxistisch, doch genau das passiert, wenn die Theorie die Kategorien des Subjektiven verneint.

Zwei Methoden werden benutzt. Auf der einen Seite praktizieren sie die faszinierende "Medienarchäologie" (wie in den Arbeiten von Werner Künze, Siegfried Zielinski, Bernhard Siegert, Cristoph Asendorf und Erkki Huhtamo). Beispiele dessen können auch in Paul Virilios "Krieg und Kino", Friedrich Kittlers "Grammophon, Film, Schreibmaschine" und Avital Ronells "The Telephone Book" gefunden werden.
Auf der anderen Seite gibt es die Tradition der Hermeneutik, der Theorie, des essay als solchem, was sehr leicht benutzt werden kann, um Spekulatives über die zukünftigen Möglichkeiten von Medien zu Papier zu bringen, Etymologie mit technologischen Vorhersagen kombinierend. Doch es kann auch in Richtung einer historischen Anthropoligie gehen (Dietmar Kamper, Peter Sloterdijk, etc.) oder innerhalb der Grenzen der akademischen Literaturwissenschaft bleiben (Hans-Ulrich Gumbrecht, Jochen Hörisch, etc.). Und dann gibt es noch die Hardliner-Wissenschaftler mit literarischen Ambitionen, wie Otto Roessler, Heinz von Förster und Oswald Wiener. Es ist unmöglich hier eine Übersicht zu geben. 99% von all dem wurde auch nicht (ins Englische) übersetzt, doch das ist eine andere Geschichte.

Ein entscheidender Begriff, wenn wir uns mit dieser Medientheorie befassen wollen, scheint für mich der der Ästhetik zu sein. Die Medientheorie weist die klassische Definition der Ästhetik, wie sie von Kunsthistorikern benutzt wird (ein Satz von Regeln zur Beurteilung des Kunstwerks) zurück und schafft eine neue, die sich auf die technologische Determiniertheit der Wahrnehmung konzentriert. Diese Deutung von Ästhetik ist beinahe militärisch. Sie ist technisch, weil sie ganz von den Werkzeugen bestimmt wird, die wir benutzen. Es gibt keine Ästhetik mehr neben oder jenseits des Technischen.

Alle diese Denker waren bis zum Ende der achtziger Jahre relativ unbekannt. Doch das veränderte sich, als die westlichen Gesellschaften durch eine narkotische Phase der intensiven Spekulation gingen - in Anlagefonds und Währungen, in Immobilien, in Kunst und ... in der Theorie. Das ereignete sich genau rund um das so bedeutende Jahr 1989. Wir sehen, wie die akademische Theorie aus ihren engen Kreisen ausbricht und Allianzen mit der Kunstszene und der entstehenden Medienkunst schließt, die bis dahin vor allem Videokunst gewesen war.

In dieser von Spekulationen dominierten Periode erlebten wir auch das langsame Wachsen der Cyberkultur, der Virtual Reality, von Multimedia und Computernetzen. Bis in die späten achtziger Jahre gab es das alles nur gerüchteweise, man konnte darüber in Büchern von William Gibson und anderen Cyberpunk-Autoren lesen. Das änderte sich jedoch plötzlich, als 1989 Visionäre die Szene betraten, wie Steward Brand, Timothy Leary, Jaron Lanier und Howard Rheingold. Mit einer gewissen Verzögerung erreichten ihre Konzepte und Schlagworte auch Europa und in den frühen 90zigern wurde die Medientheorie immer populärer. Historiker und Philosophie-Professoren wurden über nacht zu gefeierten Stars der Kunstwelt, dann schließlich Ratgeber für Marketing, gepriesen für ihre in die Tiefe gehende Sicht der "Essenz" der digitalen Technologien.

Ein gutes Beispiel gibt der deutsche Medienphilosoph Norbert Bolz. In den frühen achtziger Jahren war er Professor an der Freien Universität Berlin und gab Unterricht über Walter Benjamin, Theodor Adorno oder Carl Schmitt. Er arbeitete mit Professor Jakob Taubes zusammen und war besonders an Religionsgeschichte interessiert. Das war die Phase des Diskurses, könnte man sagen. Nachdem er mit Kittler zusammentraf, schloß er sich der Kasseler Forschungsgruppe an, welche richtungsweisend für die deutsche Medientheorie wurde. Dies führte zu seinem Buch "Theorie der Neuen Medien", in dem er Richard Wagners Gesamtkunstwerk, Walter Benjamins Medientheorie und die Schriften von Marshall McLuhan verband. Das bewegt sich immer noch im rahmen einer sehr akademischen Arbeitsweise: Die beiden Elemente zusammenzuführen, die ich zuvor erwähnt hatte, die Medienarchäologie auf der einen Seite und die philosophische Hermeneutik auf der anderen. Doch dann veränderte er sich. Er begann plötzlich über Chaostheorie zu schreiben, Hypertext und Multimedia. Er stürzte sich in eine Richtung der wahrlich spekulativen Medientheorie. Schließlich nahm er einen Posten als Professor für Design in Essen an und publiziert nun über Design, Werbung und Marketingstrategien.

Das ist natürlich nur ein Beispiel. Doch wir sprechen hier von einem allgemeinen Trend in der Gesellschaft, der mit der "Emanzipation" oder dem "Coming Out" der Medienrealität in Zusammenhang steht. Dieser Trend ist verbunden mit den konzeptuellen Aspekten des elektronischen Raums, genannt Cyberspace, für den Konzepte im ersten Stadium von sehr großer Bedeutung sind, um aus den Konzepten später Produkte entwickeln zu können. Deshalb können wir die spekulative Medientheorie nicht allein auf einer wissenschaftlichen Ebene beurteilen. Wir müssen ihren Einfluß auf den Informations-Kapitalismus in seiner frühen Phase untersuchen, als Cyberspace nicht mehr als ein Gerücht war, gut für literarisches Phantasien, aber noch lange nicht wirklich in die Gesellschaft integriert. Für die Entwickler von Software, Multimedia und Computersystemen ist es essentiell, mit den richtigen Metaphern zu arbeiten. Und diese Metaphern liefert nicht die Technologie, die Hardware als solche. Es ist die Aufgabe kreativer Intellektueller, diese Metaphern zu entwickeln. An diesem Punkt spielt spekulative Medientheorie eine so entscheidende Rolle.

Es wäre nur allzu leicht, bestimmte Autoren dafür anzuklagen, daß sie sich an die Industrie verkauft hätten, und das mit einer schnellen Analyse einer Zeit zu verbinden, die erst 5 oder 10 Jahre her ist. Ich war ebenfalls in spekulative Medientheorie verwickelt, vielleicht nicht als akademischer sondern als frei-flottierender Intellektueller. Ich war zu der Zeit arbeitslos, war Redakteur des Magazins Mediamatic und Mitglied der Gruppe Adilkno, der "Foundation for the Advancement of Illegal Knowledge". Wir hatten eine Menge Spaß, indem wir sogenannte "Unidentified Theory Objects", die UTOŽs, schrieben, die später im Buch "Medienarchiv" zusammengeführt wurden. Man könnte das als eine Phase der "Fröhlichen Medientheorie" bezeichnen, in der wir Konzepte wie "Wetware", den "Datendandy", die "Souveränen Medien" oder "das Extra-Mediale" erfanden, letzteres ein Raum oder Zustand außerhalb der Medienrealität. Vielleicht verkörpert Adilkno die purste und spekulativste Form des Denkens, von keinerlei akademischen oder journalistischen Regeln behindert und zensiert.

Der Golfkrieg im jahr 1991 war ein erstes Zeichen, daß diese Form von Theorie zu Ende ging. Die Ideen von William Gibson, die anfangs Science Fiction gewesen waren, wurden plötzlich nur zu real. "Die Zukunft findet jetzt statt", und ab diesem Zeitpunkt mußten wir diese Bücher als konzeptuelle Computerhandbücher (wieder)lesen und nicht als fiktive Geschichten über eine mögliche Zukunft.

Es ist schockierend zu sehen, daß Theorien in der Tat wahr werden können. Die Krise der Intellektuellen, das Ende der Ideologie und das Ende der großen Erzählungen hatte indirekt die Macht des Diskurses in Frage gestellt. Höchst erfolgreiche Exportprodukte aus Paris, nicht mehr. Doch die Macht des Schreibens war (noch) nicht (ganz) geschwunden. Ideale können in der Gesellschaft verwirklicht werden, trotz der endgültigen Niederlage der Intellektuellen und ihrer politischen Macht nach 1989. Im Augenblick sehen wir uns dem Triumph des neuen konzeptuellen Ingenieurs gegenüber (der Philosoph mit der Maus), der mit den verschiedensten existierenden intellektuellen Werkzeugen arbeitet, mit der gesamten verfügbaren Kreativität und den neuesten Technologien. Zugleich sind die Intellektuellen alten Stils zutiefst frustriert über den Verlust ihres Einflusses auf die globale Gesellschaft und ihre Medien.

Während des Golfkriegs waren zwei unserer Helden, Jean Baudrillard und Paul Virilio, plötzlich überall in den Medien zu sehen. Es schien, als ob ihr ganzes Programm, ihr ganzes Denken plötzlich an die Oberfläche gekommen und zur Instant-Realität geworden wäre. Doch diese Realität war von einer sehr verstörenden Art. Sie war eine Epiphanie der Geschwindigkeit und der Simulation, ihrer wahren Essenz? War das Live-Fernsehen in Bestform? Es war auch für sie eine Schock und der Golfkrieg wurde auch zu einem Wendepunkt in ihrem Schreiben.

Während einige Denker noch kommerzieller und konzeptueller wurden, wurden andere, wie Baudrillard und Virilio, mehr oder weniger pessimistisch, man könnte beinahe sagen "melancholisch". Eine Wandlung ereignete sich: Einige Medientheoretiker vollzogen eine Metamorphose hin zu professionellen "Kulturoptimisten", andere, mit dem selben Hintergrund, zeigten ihr echt verzweifeltes, manchmal zynisches Gesicht, wurden "Kulturpessimisten" der alten Schule. Einige schrieben sogar die Texte der linken Frankfurter Schule um und inkorporierten sie in eine zutiefst von Vorurteilen geprägte Anti-Medien, Anti-Computer Philosophie.
Adorno/Horkheimers Analyse der Kulturindustrie wurde schrittweise zu einem programmatischen Text für all jene, die auf Popkultur herabblicken, sie als "Trash", "Junk" und "Pulp" verdammen. Das führte zu einem offenen Konflikt zwischen experimenteller Medienästhetik und hoher Kunst.

Wir sehen hier eine deutliche Absetzbewegung zwischen Leuten, die sich auf die neuen Technologien einlassen und anderen, die ihre Konsequenzen von außerhalb kritisieren und uns vor der bevorstehenden Apokalypse warnen (vom fatalen Börsencrash an der Wall Street zum bevorstehenden "Zeitalter der Dunkelheit"). Eine wirkliche Auseinandersetzung hat bis jetzt noch nicht stattgefunden. Die ganze Aufmerksamkeit ist (immer noch) auf Paris gerichtet. Viele unserer Helden sind in der Zwischenzeit gestorben. Das defensive Kilma, das heute unter den Intellektuellen herrscht, läßt es unwahrscheinlich erscheinen, daß ein fruchtbare Debatte über die Natur der Neuen Medien und Technologien stattfinden wird. Es scheint eine wachsende Kritik an Baudrillard und Virilio für ihren Pessimismus zu geben. Dem gegenüber vertritt Pierre Levy die entgegengesetzte Position und tritt mit einem noch nie gehörten Verkaufsgerede auf, digitale Technologien als die Lösung aller unserer Probleme präsentierend.

Dasselbe könnte über die Rolle von Medienkunst gesagt werden. Man könnte eine ähnliche Chronologie zusammenstellen, von der Zeit im Untergrund, durch eine Phase der Experimente hin zu einer engen Anbindung an den kommerziellen Bereich. Orte wie die Ars Electronica in Linz, das Intercommunication Centre in Tokyo und das Zentrum für Kunst- und Medientechnologie in Karlsruhe sind zu echten Institutionen geworden, mit satten Budgets, eindrucksvollen Bauten und einem Selbstverständnis als "Museen der Zukunft". Das sind nur einige von vielen Anzeichen, daß die Phase der Spekulation und der Einführung ihrem Ende zugeht. Nun, da sie nicht länger in der Randzone einer Avantgarde stehen, wandern die Neuen Medien ins Zentrum der Gesellschaft und sehen sich den laufenden politischen und kulturellen Konflikten von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Im Rahmen dieser Veränderung müssen wir den Aufstieg der Netzkritik positionieren.

Netzkritik, wie Pit Schultz und ich sie definiert haben, möchte nicht die Außenseiterperspektive einnehmen. Sie positioniert sich innerhalb des Netzes, innerhalb der Software und der Kabel. Auf der anderen Seite ist sie keine Werbung für irgendeine der Technologien der Visionäre. Sie ist Teil einer größeren Bewegung für den Zugang zu allen Medien und ihrem Inhalt. Netzkritik versucht Kriterien für die Politik, Ästhetik, Ökonomie und Architektur von Multimedia und Computernetzen zu formulieren. Das ist notwendig, wenn wir über die Phase des Hype hinausgelangen und nicht notwendigerweise auf Skeptizismus zurückfallen wollen. Zu aller erst müssen wir die Begriffe klären, welche die meisten von uns verwenden. Sicherlich könnte es einige Parallelen zu Genres geben, die mit alten Medien zu tun haben, wie Literaturkritik, Buchbesprechungen, Filmkritik, den Entwicklungslinien des eigenen Mediums folgend.

Wir sollten die Qualität des Cyber-Diskurses anheben, jenseits von Verkaufsargumenten, jenseits allzu leicht aufzuführender Einwände und selbstverständlich jenseits der frühen Spekulationen. Einer der Orte für die Netzkritik ist die Mailing List Nettime, die ebenso ein soziales Netzwerk ist, in dem sich Medienaktivisten, Theoretiker, Programmierer und Netzkünstler treffen. Diese Gruppe entstand im Frühling 95 und hielt ihr erstes Meeting während der Biennale von Venedig ab. Sie verbindet radikale Kritik mit der Schaffung von unabhängigen Computernetzen und Netzprojekten. Aber wir können ebenso das Magazin Mute in London nehmen, das einen ähnlichen Standpunkt einnimmt. Wichtige Quellen sind das Buch "Data Trash" von Arthur Kroker und Michael Weinstein (indem sie den Gedankengang über die "virtuelle Klasse" entwickelten), Hakim BeyŽs "Temporary Autonmous Zone", die Arbeiten von Critical Art Ensemble und Mark DeryŽs "Escape Velocity". Der am stärksten kontroverse Beitrag bis jetzt war "Die kalifornische Ideologie" von Richard Barbrook und Andy Cameron, eine wahrlich europäische (oder britische) Kritik am Magazin Wired aus einer radikalen und zugleich sozialdemokratischen Perspektive.

All das sind erste Versuche, die versteckten ideologischen Prämissen der "virtuellen Klasse" zu beschreiben, wie sie sich um das Magazin Wired gruppiert. Doch es wurde schnell klar, daß wir mehr tun sollten, als den neoliberalen Hippie-Kapitalismus zu kritisieren. Wir sollten zu analysieren versuchen, warum diese Ideologie bei der weltweiten Gruppe junger weißer Männer so gut ankommt. Wir sollten uns mit ihrer Faszination für Technologie auseinandersetzen. Woher kommt diese Sehnsucht, ein verdrahtetes Leben zu führen (the desire to be wired)? Selbstverständlich wäre es viel zu einfach, das nur auf andere zu projezieren, einen anti-amerikanischen Standpunkt einzunehmen und mit einer veralteten europäischen Wahrheit oder Moral daherzukommen. Das sollte ein Europäisch-Amerikanischer Dialog sein und wir versuchen, darin so viele Leute wie möglich einzubeziehen, aus so vielen Ländern wie irgendwie möglich, ohne vortäuschen zu wollen, wir wären "global". Es gibt keine europäische Alternative zur amerikanischen Cyberkultur und wir hoffen, daß es nie eine geben wird. Es ist unklug, alles Böse auf Kalifornien zu projezieren, oder gar auf die Kalifornier. Stattdessen erscheint es wesentlich wichtiger, die jeweils eigene virtuelle Klasse zu studieren, das Monopol nebenan, die vielfältigen Versuche der staatlichen Autoritäten, das Netz zu regulieren und zu zensieren.

Zur Zeit werden auf Nettime die Grundzüge einer "politischen Ökonomie des Netzes" diskutiert, zu einer Zeit in der wir die brutale Kommerzialisierung und staatliche Regulierung der Netze erleben, welche den Grundstock legen, um die Netze zu wahren Massenmedien zu machen. Im Sinn der Adilkno-Aussage, "die Zukunft kann nicht jeden Tag stattfinden", macht Netzkritik keine Vorhersagen über die Zukunft, versucht aber verschiedene kritische Ansätze über die gegenwart herzustellen. Ihr Ziel ist es, funktionierende Modell zu entwickeln und sie zu implementieren, bevor andere kommen und alles übernehmen. Es ist sehr wichtig, de Fehler der vorangegangenen Generationen nicht zu wiederholen. Politik und Ästhetik können nicht länger getrennte Wege gehen. Viele politische Aktivisten suchen nach Möglichkeiten, digitale Ästhetik in ihre Arbeit einzuführen, während zugleich die Künstler mit dem Status ihrer sehr isolierten Position dieser so sehr experimentellen Medienkunst unglücklich sind.

Es ist eine gefährliche Versuchung, Netzkritik als eine globale Angelegenheit zu beschreiben. Die meisten von uns sind Europäer. Es ists chon schwer genug, einige unabhängige Wege des Austauschs zwischen Ost und West in Europa herzustellen. Zum Unterschied von der immer noch sehr nach Westen gerichteten Medientheorie, versuchen wir explizit, Personen und Projekte aus Osteuropa miteinzubeziehen. Folglich entstanden Projekte wie die Next 5 Minutes Konferenzen, "Press Now", und das V2_East Netzwerk. Ungeachtet der Tatsache, daß das Internet möglicherweise wirklich ein globales Medium ist, sind die in ihm repräsentierten Kulturen immer noch sehr stark auf ihre jeweiligen Landessprachen und auf getrennte Nutzergruppen gestützt.

Es genügt nicht, über Copyright und Zensur zu sprechen. Es genügt nicht, über den Machtzuwachs großer Telekommunikationsunternehmen zu klagen. Und es genügt auch nicht, über die wachsende Kluft zwischend den "Information Rich" und den "Information Poor" Beschwerde zu führen. Am wichtigsten erscheint es mir, arbeitsfähige Modelle zu entwickeln, Graswurzelinitiativen, die vor Ort verwirklicht werden können. Zum Beispiel: Öffentlicher Zugang zum Netz, dein eigener Domain-Name, freie Inhalte, oder die Einbeziehung noch nicht angeschlossener Länder. Netzkritk bedeutet auch Spaß, besonders dann, wenn unsere eigene Sehnsucht des Verdrahtetseins zum Ausdruck kommt, wenn wir uns aus eigenem Willen mit anderen Leuten und Kulturen verbinden und wenn wir uns schließlich treffen, von Angesicht zu Angesicht, oder "von Brust zu Brust" wie Hakim Bey sagt. Netzkritik sollte nicht als Ideologie oder Glaubenssystem enden. Oder um es diesen Zeiten angemessener zu formulieren: Netzkritik sollte nicht zum identititätsstiftenden Lebensstil oder zur Mode verkommen. Dann wäre es wieder Zeit zu verschwinden, in die Dunkelheit des Cyberspace, zu beschleunigen, zu verlangsamen, in multiplen, hybriden Welten.

Zuerst publiziert auf "Nettime".
Aus dem Englischen übersetzt von Armin Medosch

Weitere Artikel zum Thema: Über Nettime, Pit Schultz im Gespräch mit Pauline von "Mute".
Online Publishing I, die Nettime Mailinglist, von Armin Medosch.

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Print: Adilkno, Cracking the Movement, Autonomedia, New York, 1994 Adilkno, The Media Archive, Autonomedia, New York, 1997 Please contact: p.o.box 10591, NL 1001 EN Amsterdam, tel/fax ++ 31 20 6203297 or geert@xs4all.nl