Von fröhlich verkündeten und traurig gescheiterten Hoffnungen

Verletzte und Verlassene auf den Feldern Afghanistans - Fünfter und letzter Teil

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Teil 4: Die Innenfeinde Afghanistans: Kriminalität, Korruption und bittere Armut

In diesem nicht gerade viel versprechendem Klima wurde die 9. Afghanistan-Konferenz am 5. Dezember 2011 in Bonn eröffnet. Die Konferenz mit 85 Staatsdelegationen, 15 Internationalen Organisation und circa 1.000 Delegierten hatte sich zum Ziel gesetzt, "die Zeit nach 2014" definieren und Afghanistan den Weg von der "Transition in die Transformation" zu ebnen:

Drei Themenbereiche (...) die Bonner Konferenz bestimmten: 1. die zivilen Aspekte des Prozesses der Verantwortungsübergabe an die afghanische Regierung bis 2014; 2. das langfristige Engagement der internationalen Gemeinschaft in Afghanistan nach 2014 und 3. der politische Prozess, der zu einer dauerhaften Stabilisierung des Landes führen soll.

Auswärtiges Amt

Wie schon erwähnt waren die nötigen Voraberfolge und positiven Voraussetzungen für eine erfolgreiche Konferenz sehr dünn gesät. Noch problematischer für eine Lösungsfindung mit dauerhaften Erfolgschancen ist die Tatsache, dass die "moderaten" Taliban zwar zum Verhandlungstisch eingeladen wurden, aber Mullah Mohammad Omar - laut dem früheren pakistanischem Geheimdienstchef Hamid Gul Anführer und Schlüsselperson im Rahmen der Friedensverhandlungen - die Teilnahme abgelehnt hatte.

Somit waren weichenstellende Ergebnisse kaum zu erreichen. Der Präsident Hamid Karzai seinerseits sagte noch Anfang Oktober, kurz nach dem Mord an dem ehemaligen (1992-1996) afghanischen Präsident Burhanuddin Rabbani durch die Taliban, dass Verhandlungen mit den Taliban unzweckmäßig seien, und dass über die Lösung der Probleme Afghanistans direkt mit Pakistan verhandelt werden sollte.

Hamid Karzai spricht auf der Münchner Sicherheitskonferenz (2009). Bild: Harald Dettenborn. Lizenz: CC-BY-3.0

Doch Pakistan war ebenfalls abwesend in Bonn, denn das Land hatte in letzter Minute entschieden, die Konferenz zu boykottieren. Diese Entscheidung kam als Reaktion auf die Bombardierung zweier Grenzposten durch Hubschrauber und Flugzeuge der NATO am 26. November. Dieser Angriff hatte 24 pakistanischen Soldaten das Leben gekostet und 13 wurden verletzt. Aufgrund der Schlüsselrolle Pakistans im afghanischen Konflikt bedeutete die Abwesenheit des Landes, dass im Rahmen des politischen Stabilisierung- und Friedensprozesses für die Region prinzipiell keine Fortschritte erzielt werden konnten.

Hamid Karzai mit Pakistans Premierminister Yusuf Raza Gillani (Juni 2011)

Parallel dazu beschuldigen die Amerikaner höchst offiziell den pakistanischen Geheimdienst (ISI), die Aufständischen des Haqqani Netzwerks zu unterstützen, welche mit den Taliban in Verbindung gebracht werden. Das Haqqani Netzwerk hatte im September 2011 für Aufmerksamkeit gesorgt, als mehrere seiner Anhänger die amerikanische Botschaft und das Hauptquartier der NATO in Kabul in einem großangelegten, koordinierten Angriff am helllichten Tag überfielen.

Die Unsicherheit, welche Richtung der Konflikt in geopolitischer Hinsicht noch nehmen würde, und dazu die offensichtliche Unbeständigkeit der politischen Allianzen wurden vom Präsidenten Hamid Karzai selbst noch verstärkt, als er Ende Oktober 2011 sagte, dass im Falle eines Krieges zwischen Pakistan und den USA, Afghanistan sich auf die Seite Pakistan schlagen würde. In diesem Zusammenhang darf auf ein in November 2010 von France24 ausgestrahltes Interview mit Hamid Gul, dem ehemaligen ISI-Chef, verwiesen werden, in dem er erstaunlich offen seine Unterstützung für die Taliban zum Ausdruck brachte: Denn die Taliban würden sich seiner Meinung nach "für die Verteidigung der zwei Säulen der Gesellschaft einsetzen: Glauben und Freiheit".

Die Besatzung durch die Koalitionstruppen begreift er de facto als gescheitert. Seine Aussagen lassen unmissverständlich erkennen, dass Pakistan Afghanistan als sein Hinterland betrachtet. Die afghanische Bevölkerung ihrerseits betrachtet die ausländischen Truppen vorwiegend als Besatzungstruppen, aber die Bevölkerung ist nach Umfragen auch mehrheitlich der Auffassung, dass der Bürgerkrieg wieder aufflammen werden, sobald diese ausländischen Truppen das Land verlassen und die damit verbundene Sicherheitsgarantie nicht mehr gegeben ist.

Mit diesen Drohkulissen im Hintergrund kann man die im Bericht an den Bundestag festgehaltene Erfolgsbekundung der Diplomaten, wonach die Bonner Konferenz "politische und wirtschaftliche Voraussetzungen für den Frieden geschaffen" habe, schlecht mit der Realität vor Ort in Verbindung bringen.

Die Ergebnisse der Konferenz sind, objektiv gesehen, eher dürftig. Die Staaten der Koalition geben ihre Zusage, Afghanistan finanziell und militärisch bis 2024 zu unterstützen. Die Afghanische Regierung verpflichte sich zu einer pluralistischen Gesellschaft sowie dazu die Menschenrechte und insbesondere die Rechte der Frauen zu wahren. Der Kampf gegen die Korruption wird zur nationalen Priorität erhoben. Weiterhin bekennt sich das Schlussdokument zu den Maßnahmen, die während der letzten Konferenz in Kabul vereinbart wurden. Schließlich wird vereinbart, dass die Leistungen der ausländischen Gemeinschaft an gewisse Ergebnisse und Leistungen der afghanischen Regierung verknüpft werden, insbesondere im Rahmen des Kampfes gegen die Korruption und der Verfestigung des Rechtsstaats.

Aber ungeachtet dessen, ob die Kabuler Regierung ihre Verpflichtungen einhält oder nicht, werden die Geberländer wahrscheinlich dazu gezwungen werden, weiterhin zu zahlen, wenn eine gewisse Kontinuität aus übergeordneten geopolitischen Gründen für wünschenswert erachtet wird. Wie es der Reporter Matthias Gebauer vom Spiegel auf den Punkt brachte, muss sich der Westen im Grunde genommen auf "immense Zahlungen" vorbereiten, ohne im Geringsten sich des Ergebnisses sicher zu sein, denn die Zahlungen werden ganz nach dem Prinzip "zahlen und hoffen" erfolgen.

Wie die finanzielle Unterstützung erfolgen wird, soll im Sommer dieses Jahres in der Konferenz von Tokio entschieden werden, das wird sicherlich für reichlich Streit sorgen. Vorsorglich hat Hamid Karzai schon den Finanzierungsbedarf ab 2014 angemeldet: allein für das Militär und die Polizei werden mindestens 7,5 Milliarden Dollar veranschlagt.

Schnell Einsatztruppe der Afghanischen Polizei. Bild: U.S. Department of Defense

Dies bedeutet bestenfalls den Weiterbestand des aktuellen status quo und wahrscheinlich eine langsame Verschlechterung der Situation bis 2014. Schlimmstenfalls bedeutet es eine schnelle Verschlechterung der Situation aufgrund des Bestrebens der Gewaltakteure, sich vor dem Abzug der ausländischen Truppen in Position zu bringen.

Als schlechtes Omen könnte man die beiden schweren Selbstmordanschläge mit 60 Toten am 6. Dezember, einen Tag nach Beendigung der Bonner Konferenz, gegen die schiitische Minderheit in Kabul und in Mazar-i-Sharif werten. Die Verantwortung für diese Anschläge lehnten die Taliban zwar offiziell ab, aber die Lashkar-e-Janghvi al Almi bekannte sich zu den Anschlägen. Dabei handelt es sich um eine sunnitische Gruppe, die sich in Pakistan aufhält und sowohl Beziehungen zu Al-Qaeda als auch zu den pakistanischen Taliban unterhalten soll.

Das Wiederaufflammen der Gewalt, das sich hier zeigte, ist kein gutes Vorzeichen für die Zukunft des Landes und der Alltag der afghanischen Bevölkerung dürfte noch viele Jahre lang von "Angst und Unsicherheit" beherrscht werden, wie Sanjar Sohail der Chefredakteur der afghanischen überregionalen Tageszeitung 8 Sobh Daily dies formulierte.

Die westliche Strategie in Afghanistan hat drei Schwachpunkte. Erstens: Die Unsicherheitsfaktoren, die der afghanischen Regierung zugeordnet werden können, haben bis heute einen erfolgreichen Aufbau des Landes und einen dauerhaften Frieden verhindert. Zweitens: Die nachgewiesenen Verbindungen zwischen den Aufständischen und Interessengruppen in Pakistan sind wichtige Verkomplizierungs- und Destabilisierungsfaktoren. Drittens: Die politische Hybris der amerikanischen Kriegserklärung von 2001 hat den Widerstand und die möglichen Auswirkungen der Operation für die Region völlig unterschätzt und somit auch nicht dafür Rechnung getragen, dass "Exit-Strategien" vorbereitet und implementiert werden können, für den - nun eingetretenen - Fall, dass der Konflikt im Laufe der Jahre härter wird.

Die Rückkehr der Afghanistan-Konferenz nach Bonn ist symbolisch und symptomatisch für die Entwicklung des Landes. Nach all den Jahren des erhofften Wiederaufbaus, in Wahrheit Jahre des Krieges, ist eine dauerhafte Lösung, die nur politisch und am Verhandlungstisch gefunden werden kann, nicht in Sicht. Damit dürften viele Illusionen und Hoffnungen verflossen sein, denn "Bonn 2011" sieht "Bonn 2001" erstaunlich ähnlich - mit dem großen Unterschied, dass die Gewalt seit der Konferenz im Jahre 2001 enorm zugenommen hat.

Der Auslöser des Krieges, Osama Bin Laden, wurde zwar in Pakistan aufgespürt und von einem amerikanischen Kommando auf der Stelle exekutiert, so dass US-Präsident Barack Obama, Nachfolger von Georges W. Bush, sich am 1. Mai 2011 an die amerikanische Nation mit den Worten "Justice has been done" wenden konnte. Die Toten und Verletzten der Anschläge auf das World Trade Center wurde seinem Verständnis nach auf eine Art gerächt, aber die Situation in Afghanistan - und in der Region - hat sich um keinen Deut verbessert. Der Spiegel-Korrespondent Hasnain Kazim stellte Ende Dezember lapidar fest: "Zehn vertane Jahre. (...) Erreicht wurde nichts"

Der Krieg hat sich verselbständigt

Die Taliban, weit davon entfernt dezimiert oder erheblich geschwächt zu sein, könnten sogar bald als Sieger aus der Auseinandersetzung hervortreten, wozu sie sich selbst ja schon längst offiziell erklärt haben. Das wirft die Frage auf, ob und inwiefern sie als "geopolitische Sherpas" Islamabads dienen könnten, und welche Auswirkung dies auf die Region haben wird. Zusätzlich zu dieser schon komplexen Situation muss nun auch die "iranische Unbekannte" einkalkuliert werden. Die Spannungen zwischen dem Westen und diesem Land, an der Grenze zu Afghanistan im Osten und zum Irak im Westen, könnten sich - und genau danach sieht es im Moment aus - graduell zum offenen Konflikt weiterentwickeln.

Der "Fortschrittsbericht Afghanistan" der Bundesregierung "zur Unterrichtung des Deutschen Bundestags" nach der Bonner Konferenz blickt, die Realität verleugnend, voller Zuversicht in die Zukunft und meint beinahe blühende Landschaften am Hindukusch erkennen zu können: "Nach dieser ersten, insgesamt erfolgreichen Phase des Wiederaufbaus des afghanischen Staates" sei "der Trend einer sich von Jahr zu Jahr verschlechternden Sicherheitslage [...] vorerst gebrochen" - obgleich "die Zahl der zivilen Opfer [...] 2011 zugenommen (hat)". Es sei "bei allen Beteiligten eine durchgehend konstruktive Grundhaltung spürbar (gewesen)".

Bürogebäude in Kabul. Bild: Jim Kelly. Lizenz: CC-BY-2.0

"Wir erkennen die afghanische Wirklichkeit nicht an, und deshalb werden wir dort scheitern", so die Aussage eines ranghohen Polizeibeamten, der am Hindukusch im Einsatz war. Diese Aussage sollte als Mahnung an die Politik verstanden werden. In einem Punkt darf man jedoch dem Verfasser des "Fortschrittsbericht Afghanistan" uneingeschränkt zustimmen:

Bei der Beurteilung der Sicherheitslage kommt es sehr darauf an, was genau betrachtet wird.