Von hysterischen Philosophen und bescheidenen Frauen

Jean-Jacques Rousseau und Stéphanie Félicité de Genlis

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelte Max Scheler eine Philosophie, die auf der Achtung vor dem Wert der anderen Menschen aufbaute, und er trat der katholischen Kirche bei. Eines Tages wurde er von Studierenden bei einem Bordellbesuch ertappt und gefragt, wie eine solche Konsultation denn mit seinen Moralvorstellungen zusammenpasse. Er gab darauf die berühmte Antwort, ein Wegweiser müsse nicht dorthin gehen, wohin er zeige. Gilt für alle Verkehrszeichen.

Freilich ist Max Scheler nicht der einzige und erst recht nicht der prominenteste, bei dem Leben und Lehre nicht immer zur Deckung kommen. Bei den ganz großen Klassikern neigen wir dazu, solche Diskrepanzen zu verdrängen. Das zeigen zum Beispiel in diesem Jahr die Feiern zum 300sten Geburtstages von Jean-Jacques Rousseau.

Portrait der Madame de Genlis von Jacques-Antoine-Marie Lemoine. Bild: Public Domain

Die Berliner Bibliothek für Bildungsgeschichte etwa veranstaltete einen Kongress, der Rousseaus Bildungsromans Emile als "ein sakrales Ereignis" feierte und "Rousseaus Polito-Pädagogik" als staatstragende "Zähmung der Leidenschaften" verherrlichte. Auf einem Kongress der Frankfurter Universität wurde Rousseaus Kritik an der "pathologischen Gesellschaft" gedacht. Die Liste der Beispiele ließe sich beliebig verlängern. Denn Rouesseau gilt als einer der Wegbereiter der Französischen Revolution, war anerkannter Aufklärer, Inspiration nicht nur für Kant, und seine Idealisierung der Natur wirkt bei jedem Waldspaziergang bis in unsere Zeit. Rousseau kennt man einfach.

Unbekannt dagegen bleibt, was zu all dem Rousseaus fünf Kinder gesagt hätten, die der große Pädagoge bekanntlich im Waisenhaus ablieferte, ohne sich jemals um sie zu kümmern, auch wenn das damals hieß, dass diese Kinder nicht alt werden würden. Dafür hat er sich schon zu Lebzeiten sehr verteidigen müssen, denn dass dieses Vorgehen in der damaligen Zeit üblich und die Einstufung von Kindern als besseren Haustieren normal gewesen sei, stimmt nicht wirklich. Vor allem für einen Pädagogen ist ein solcher Schachzug doch ambivalent. Da hilft auch seine Argumentation als früher Feminist wenig, der in finanziell kritischer Lage nur seine Frau nicht mit den Kindern habe belasten wollen.

Als Rousseau den ersten Preis eines akademischen Preisausschreibens gewinnt, ändert sich die finanzielle Lage des Haushalts Rousseau. Mit seinem Du contrat social, einer zusätzlichen Komödie und einer Oper verdient Rousseau so viel, dass es für eine eigene Wohnung reicht. Das dritte Kind kommt ins Findelhaus. Vielleicht zu seinem Glück - denn so bleibt es wenigstens vor Rousseaus legendären Launen verschont, unter denen selbst sein Freund und Gönner, der schottische Aufklärungsphilosoph David Hume, zu leiden hatte. Vom Ende dieser Freundschaft in einem durch Rousseau provozierten Eklat ist zu lesen unter dem vielsagenden Titel "Der Kluge und das Biest".

Rousseau im Double-bind

Rousseau konnte so profan fluchen, dass es jede Sakralität verschlug; seine aufbrausende Leidenschaft hatte er nicht immer im Griff; und wenn er von sozialen Pathologien sprach, kannte er sie offenbar nicht zuletzt auch von sich selbst. Oft legte er sich wie aus Prinzip mit allen an. Als er in Frankreich den italienischen Musikstil vor dem französischen ansiedelt, erhängt das französische Opernorchester eine Puppe von ihm, und ausgerechnet Diderot zu eröffnen, wie unnütz und unmoralisch das Theater ist, vertiefte die entsprechende Freundschaft nicht.

Vereinzelt wurde argumentiert, dass Rousseaus von Kindheit an geschädigte Harnblase Grund für seine chronische Gereiztheit gewesen sei. Dass er im Laufe seiner Sozialisation immer wieder und viel geschlagen wurde, mutet wie ein weiterer Grund für spätere Affekte an, allerdings hat er selbst diese Erfahrung dann u.a. in eine gewisse Schwäche fürs Geschlagenwerden als Erwachsener und damit in positive Lüste überführt. Vielleicht hatte Rousseaus größtes Problem auch mit etwas zu tun, was Mitte des 20. Jahrhunderts als psychologisches Gift für jede Art von Erziehung entdeckt wurde: mit dem Double-bind. Ein solcher liegt vor, wenn eine Autoritäts- oder Respektperson auf verschiedenen Ebenen gegensätzliche Botschaften kommuniziert (etwa die Mutter, die ihr Kind anschreit, es solle nicht so laut sein). Der Adressat bleibt verwirrt zurück und darf nicht einmal nachfragen, wie das denn gemeint war, um nicht mehr Informationen der gleichen Art zu provozieren.

Wie fast jeder Double-bind, so beginnt auch derjenige Rousseaus zu Hause, also im eigenen Psychohaushalt und der dazugehörigen Philosophie: Rousseau zufolge sind alle Menschen von Natur aus frei und haben sich mit entsprechendem Respekt und ohne irgendwelche Standesdünkel zu begegnen. Soziale Unterschiede und unterschiedliche Mengen an Besitz würden Menschen nur von sich selbst und von seinesgleichen entfremden. Am besten, der dünkelhafte Einzelwille ginge ganz auf in einem Allgemeinen Willen, geprägt vom Gesetz wechselseitigen Wohlwollens.

Nun ist, denkt Rousseau weiter, wer diesen Zusammenhang durchschaut hat, zunächst als einziger frei in einer Welt voller Sozialsklaven, voller von der Natur entfremdeter Menschen. Wer diese Bedauernswerten über ihren Zustand aufklärt und ihnen dadurch den Ausgang daraus ermöglicht, verdient ihren ganz besonderen Respekt und müsste darum also ein philosophischer und gesellschaftlicher Superstar sein. Den Zeitgenossen Rousseaus bleibt also nur die Wahl zwischen zwei Übeln: Entweder sie nehmen Rousseaus Botschaft ernst und behandeln ihn als Gleichen unter Gleichen, dann ist er wütend, weil ihm die gebührliche Anerkennung versagt wird. Oder sie zelebrieren ihn als Meisterdenker, dann ist er ebenfalls wütend, weil sie seine Philosophie nicht ernst nehmen.

Flucht in die Verkleidung

Vielleicht weil ihm die Menschen also ständig Unrecht tun, verfällt er allmählich in eine Art Verfolgungswahn und nimmt an, alles, was um ihn herum geschehe, diene seiner Demütigung. Ein Ausweg aus diesem Teufelskreis beschreitet er höchstens ab und an, indem er getarnt auftritt, so wie er zum Beispiel auf der Flucht schon einmal einige Zeit als vermeintlicher Armenier. Oder er gibt sich scheu, aber auch das birgt ambivalente Gefahren…

Eben dies nämlich auch passiert, und zwar unter Beteiligung der damals noch jungen Stéphanie Félicité de Genlis, einer äußerst vielseitig (heute würde man sagen: interdisziplinär) begabten Französin, die als Harfenistin ebenso glänzte wie als Schriftstellerin und - später dann - als Konkurrentin von Rousseau auf dem Gebiet der Erziehungswissenschaft. Gerade die Engländer waren ihr dankbar dafür, dass sie menschenfreundliche pädagogische Maximen verkündete, ohne sie mit den philosophischen Überspanntheiten des schwierigen Stars zu verbrämen. Ihre kritische Distanz zu Rousseau verdankt sie einer Erfahrung, die in ihren Memoiren festgehalten sind und hier in der Folge erstmals seit 1825 in deutscher Bearbeitung wiedergegeben werden.

Die Genlis schreibt im zweiten Band ihrer zehnbändigen Memoiren, sie habe im Vorfeld schon viel von Rousseau gehört, der sich damals vor allem als Komponist einen Namen gemacht und damit auch Gluck Konkurrenz gemacht hatte. Die Genlis, selbst berühmte Harfenistin, ließ ihren Mann oft wissen, wie sehr sie sich wünschte, Rousseau kennen zu lernen, aber der nahm weder Besuche an, noch erstattete er welche.

Eines Tages jedoch eröffnet ein Bekannter der Eheleute Genlis der Gräfin, dass ihr Mann einen Schauspieler mit der Rolle Rousseaus beauftragen und sie besuchen lassen wolle. Da solche Verkleidungsspiele damals in der Gesellschaft an der Tagesordnung waren, ist die Genlis begeistert und geht mit vollem Diensteifer auf eine bald eintreffende Nachricht ein, nach der sie Rousseau angeblich gerne auf der Harfe spielen hören und im Hause antreffen würde. Sie stellte sich einen als Philosophen verkleideten Mann als etwas höchst Komisches vor und wurde nicht enttäuscht: Der kastanienbraune Rock dieses Herrn, die gleichfarbigen Strümpfe, die kleine Stutzperücke, sein ganzer Anstand und Anzug waren ihr unendlich komisch. Glücklicherweise sprach man auch nur von nicht zu ernsten Dingen, denn die Genlis kämpfte das ganze Gespräch über mit dem Lachen. Der Schauspieler bewies Geist und nahm keinen Anstoß an der fast unfeinen guten Laune und der fast anstößigen Plauderlaune seiner Gastgeberin. Er nannte sie darum originell und sie fand, dass er seine Rolle mit bewundernswerter Natürlichkeit spielte, wenn auch für einen Rousseau zu gutmütig, nachsichtig und heiter.

Als er ging, versprach er, am nächsten Tag wiederzukommen. Als er fort war, lachte sie lauthals, bis sich herausstellte, dass es der echte Rousseau gewesen war, der eben das Haus verlassen hatte. Dann lachen die anderen. Doch die Geschichte war damit noch nicht zu Ende. Mehr dazu im zweiten Teil.