Vor dem Ende der Sommeroffensive: Wie kampffähig ist die Ukraine noch?
Kiew zieht nun auch kranke Männer ein. Wie Russland wirbt die Ukraine zudem Ausländer an. Was das bedeutet und warum eine Debatte über Verluste drängt. Ein Telepolis-Leitartikel.
Eines der umstrittensten Themen in der Debatte um den laufenden Krieg in der Ukraine ist die Frage, wie viele Soldaten auf Seite der russischen Angreifer einerseits und der ukrainischen Verteidiger andererseits ihr Leben verloren haben.
Angesichts der entweder noch schleppend verlaufenden oder bereits gescheiterten Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte beginnt nun auch im Land selbst eine Diskussion über die Zahl der Gefallenen – allen staatlichen Versuchen zum Trotz, diese zu unterbinden.
Seit dem Angriff Russlands Ende Februar des vergangenen Jahres werden in der Ukraine immer wieder Zahlen über gefallene gegnerische Soldaten genannt.
Dieser propagandistische Umgang mit dem Thema gipfelte im August dieses Jahres in der bemerkenswerten Behauptung des ukrainischen Generalstabs, seit Beginn der Kampfhandlungen seien gut 246.000 Russen bei Gefechten getötet worden, 500 allein am Vortag.
Solche Meldungen werden von der westlichen Presse weitgehend unkritisch übernommen. Dabei liegen die wirklichen Fragen auf der Hand: Wie realistisch sind diese Zahlen? Und vor allem: Wie steht es eigentlich um die ukrainische Seite?
Eine Teilantwort lieferte kürzlich das ukrainische Nachrichtenportal tsn.ua. In der Oblast Poltawa seien von 100 Personen, die im vergangenen Herbst zum Wehrdienst eingezogen wurden, nur noch zehn bis 20 im Dienst. "Der Rest ist tot, verwundet oder kampfunfähig", schrieb die Seite, die zur ukrainischen Mediengruppe 1 + 1 gehört.
80 bis 90 Prozent? Rechnet man diese Zahl hoch, wären auf ukrainischer Seite während des gesamten Krieges auf Basis der Gesamttruppenstärke hoch, wären zwischen 400.000 und 450.000 Soldaten betroffen.
Das ist natürlich eine hypothetische Zahl. Aber die ukrainische Seite trägt mit ihrem beharrlichen Schweigen und der Behinderung einer freien Berichterstattung zu Spekulationen bei.
Dass die Russen dies propagandistisch ausnutzen, ist nicht verwunderlich. Denn die Unsicherheit in der Ukraine ist groß. Und Russland heizt die Propaganda mit martialischen Propagandafilmen an, in denen ukrainische Soldaten zur Kapitulation aufgerufen werden.
Infizierte und psychisch Kranke an die Front
Zudem gibt es weitere Anzeichen dafür, dass die Ukraine für die Gegenoffensive und den darüber hinausgehenden Kampf gegen die russische Invasion personell alles andere als gut aufgestellt ist.
Am 25. August änderte das ukrainische Verteidigungsministerium die militärmedizinischen Richtlinien. Es wurde eine Liste von Krankheiten zusammengestellt, die fortan nun nicht mehr zum Ausschluss vom Wehrdienst führen.
Damit wird die Rekrutierung von bisher dienstuntauglichen Personen erleichtert. Dazu gehören Männer mit Hepatitis, asymptomatischem HIV und psychischen Erkrankungen.
Von solchen Entwicklungen hört und liest man hierzulande wenig. Ebenso wie über eine andere Trends, die Rückschlüsse auf eine schwindende ukrainische Kampfkraft zulässt.
Schon relativ zu Beginn des Krieges hatten ukrainische Rekrutierungsversuche in mehreren afrikanischen Staaten für Kritik gesorgt. Eine Sprecherin der nigerianischen Außenministerin, Francisca Omayuli, sagte damals, Nigeria werde seinen Bürgern nicht erlauben, sich freiwillig als Söldner zu melden.
Auch die senegalesische Regierung äußerte damals ihren Unmut über die Versuche der ukrainischen Regierung, Söldner im Land anzuwerben. Das senegalesische Außenministerium zeigte sich damals überrascht, dass die ukrainische Botschaft in Dakar auf ihrer Facebook-Seite einen Aufruf an ausländische Bürger veröffentlicht hatte, sich der Verteidigung der Ukraine anzuschließen.
In einer Erklärung kritisierte die senegalesische Regierung dieses Vorgehen und warnte ihre Bürger, dass die Rekrutierung von Freiwilligen, Söldnern oder ausländischen Kämpfern auf senegalesischem Boden illegal sei.
Aber auch Russland versucht, weltweit Kämpfer zu rekrutieren. Erst vor zwei Wochen wurden in Kuba Personen festgenommen, die versucht haben sollen, junge Männer für den russischen Krieg in der Ukraine zu rekrutieren. In Russland selbst sorgt eine möglicherweise bevorstehende neue Mobilisierungswelle für Unruhe.
Zunehmende Zweifel an Ukraine-Offensive
Die große Frage, die vor dem Hintergrund solcher Entwicklungen viel stärker diskutiert werden müsste, ist: Wie steht es eigentlich um die Ukraine und den Kampf gegen die russische Invasion?
Vor allem in der US-amerikanischen Presse ist eine Debatte darüber entbrannt. Während führende US-Politiker, Generäle und Experten weiterhin für eine uneingeschränkte Unterstützung Kiews im Krieg gegen Russland plädieren, zeige eine "nüchterne und genaue Analyse der zu Ende gehenden ukrainischen Sommeroffensive, dass die heroischen Opfer, die die Ukraine weiterhin bringt, dem Ziel, Russland von ukrainischem Territorium zu vertreiben, wenig bis gar nicht nennenswert näherbringen", schreibt der Sicherheits- und Militärexperte Daniel L. Davis in der Newsweek.
Davis fordert von der US-Regierung unter Präsident Joe Biden eine "notwendige Kurskorrektur" und eine "neue Politik (...), die auf der harten, bodenständigen Realität des Kampfes in der Ukraine basiert".
Nur eine sofortige kritische Revision der bisherigen Ziele würde Washington und Kiew die Chance geben, ukrainische Leben und US-amerikanische Interessen zu schützen. Doch die Bereitschaft dazu sehe er derzeit nicht, so Davis weiter:
Trotz großer Hoffnungen auf einen schnellen Erfolg ist die seit Monaten laufende Offensive der Ukraine von Anfang an ins Stocken geraten. Das sollte im Weißen Haus niemanden überraschen. Am 5. April, zwei Monate vor Beginn der Offensive, schrieb ich, dass "Selenskyjs Truppen - mit wenig oder gar keiner Luftwaffe und einem Mangel an Artilleriemunition - gewaltige Verluste erleiden könnten, während sie wenig gewinnen".
Daniel L. Davis, Newsweek
Das habe sich bewahrheitet. Die ukrainischen Verlustprognosen seien jedoch auf traurige Weise übertroffen worden. Im April war ein US-Regierungsdokument durchgesickert, wonach die US-Regierung zu diesem Zeitpunkt von ukrainischen Verlusten in Höhe von 17.500 Soldaten ausging.
Ende August berichtete die BBC von durchgesickerten Regierungsdokumenten, in denen von weiteren gut 50.000 Toten die Rede ist – insgesamt also rund 70.000 Toten.
Eine Debatte darüber dient nicht dem "russischen Narrativ".
Sie ist notwendig, um ukrainische und europäische Interessen realistisch einzuschätzen.
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