Vor den Mauern der Realität

Welche Gesellschaftsformen wünscht oder fürchtet die Science Fiction heute?

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Während ein unausrottbares Voruteil besagt, dass Science Fiction immer noch weitgehend unpolitischen Utopismus pflegt, wissen Genre-Leser natürlich, dass das so nie gestimmt hat. Ein höchst subjektiver Rundgang durch die letzten Jahre.

China Mountain Zhang heißt ein Roman von Maureen F. McHugh aus dem Jahre 1992, der in einer fremd-vertrauten Welt spielt: Das "kommunistische" China ist im 22. Jahrhundert zur führenden Weltmacht aufgestiegen, in den USA hat es nach einer Wirtschaftskrise eine sozialistische Revolution gegeben, auch dort sind die Schlüsselstellen der gesellschaftlichen Macht von Chinesen besetzt. Zhang, der Protagonist, ist ein "ABC", ein "American Born Chinese", der mit mehreren Problemen zu leben hat: Erstens war seine Mutter Spanierin (was man ihm aber aufgrund genetischer Manipulationen kaum ansieht), zweitens ist er schwul. Homosexualität ist in dem chinesisch beherrschten Meiguo (Amerika) so ziemlich das Letzte, und Zhang lebt in ständiger Angst vor Entdeckung und Entehrung.

In einer parallelen Handlung auf dem spärlich kolonisierten Mars versucht eine Ziegenzüchterin mit der Einsamkeit, der Trockenheit und der Trostlosigkeit zurecht zu kommen. Ein dritter Strang erzählt von Angel, die den Trendsport der Zeit ausübt: lebensgefährliche Rennen mit High-Tech-Flugdrachen in den Hochhausschluchten von New York. Das Interessante an diesem durch und durch melancholischen Roman ist, dass zwar alle drei Hauptfiguren ihre individuellen Probleme mehr oder weniger lösen, aber dass dies vor einem Panorama des monströsen gesellschaftlichen Stillstands geschieht.

In gewisser Weise hat McHugh ein "Ende der Geschichte" unter veränderten Vorzeichen konstruiert. Man erinnert sich kaum noch daran, aber zu der Zeit, als der Roman geschrieben wurde, glaubten viele wegen des Zusammenbruchs des sowjetischen Staatssozialismus und seiner Satelliten an ein Ende der Geschichte nach kapitalistischem Gusto - McHugh drehte den Spieß einfach um. Und obwohl heute niemand mehr vom Ende der Geschichte spricht, wirkt die sozialistisch gefärbte Fabel einer alternativlosen gesellschaftlichen Stasis seltsam aktuell: Jede Form von Utopie ist aus dem gesellschaftlichen Leben geschwunden, man hofft auf das kleine Glück oder auch nur das Überleben unter schwierigen Umständen. Am besten trifft es noch Zhang, der zum Mitläufer einer Designmode aufsteigt, in der sich Hochtechnologie und Tradition mit esoterischem Firlefanz aufs Lukrativste mischen - illusionslos akzeptiert er auch den Erfolg. Die individuellen Lösungen der Protagonisten sind von Melancholie schwer, sie tragen von Erlösung keine Spur. Mehr gibt es nicht, scheint der Roman zu sagen.

Seit "Virtual Light" (1993) manifestierten sich die gesellschaftspolitischen Hoffnungen von William Gibson im Bild einer bewohnten Brücke. In diesem Roman war die San Francisco Oakland Bay Bridge nach einem Erdbeben besetzt und in ein autonomes Kollektiv abseits der staatlichen und städtischen Regulationsmechanismen verwandelt worden. Die Polizei ging dort nicht mehr hin, die Bewohner regelten ihre Angelegenheiten nach einem informellen, ehrenkodexartigen Gesetz selbst. Gibson idealisierte die autonome Brückencommunity nicht, er stellte sie nicht so sehr als wahr gewordene Utopie dar, sondern als einen aus der Not geborenen Gegenentwurf, der ohne revolutionäre Hoffnungen angetreten war und nur eine Nische zum Überleben suchte. Ernsthafte ökonomische Veränderungen wurden dort nicht unternommen. Gemeineigentum war zum Beispiel kein Thema, und es war für Bewohner der Brücke durchaus üblich, in der Stadt um sie herum lohnabhängig beschäftigt zu sein. Letztlich blieb die Brücke ein sympathisches Experiment von Kleingewerbetreibenden und prekär Lohnabhängigen, eine riesige WG von Neo-Hippies, die seltsame Kleider trugen und wilde Musik hörten.

Gibson, der schon immer einer der illusionslosesten Science-Fiction-Autoren überhaupt gewesen ist, wusste gut Bescheid über die Zukunftschancen dieser WG in einer hyperkapitalistischen Umwelt, und daher endet das Experiment in "All Tomorrow's Parties" (1999) durch einen Brand (Die Zukunft als Flohmarkt). Das Feuer wird von den Lohnkillern eines größenwahnsinnigen Firmenmoguls gelegt. Freilich war die Brücke schon vor der Katastrophe von verschiedenen Vereinnahmungsstrategien bedroht: Einerseits macht im Verlauf von "All Tomorrow's Parties" die asiatische Ramschkette "Lucky Dragon" eine Filiale an der Brücke auf, um ihr touristisches Potenzial abzuschöpfen. Und die Protagonistin Chevette, die einst auf der Brücke gewohnt hat und mit höchst gemischten Gefühlen dorthin zurückkehrt, bringt auch eine Freundin mit, die eine richtig doll radikale Video-Dokumentation über die richtig doll radikalen Brückenbewohner drehen will - Gibson übergießt das Getue dieser zukünftigen Medienmanagerin mit beißendem Spott.

Hat Gibson seit "All Tomorrow's Parties" alle Hoffnung auf eine Alternative verloren? Nun, das Buch trägt seinen Namen nicht umsonst, und seine Version von Citizen Kane wird nicht umsonst am Ende von einem seiner eigenen Gangster ermordet. Aufgegriffen hat er diese schwachen Signale aus den Tiefen des sozialen Raums in "Pattern Recognition" (2003), seinem bisher letzten Roman, allerdings nicht - das Motiv einer freien Vergesellschaftung autonomer Individuen taucht dort nur noch in Form einer virtuellen Internet-Community auf, die im Netz nach den Teilen eines rätselhaften Videokunstpuzzles sucht. Viel Asche, wenig Glut, möchte man meinen.

In "The Mount" (2002) von Carol Ermshwiller wird ein alter Science Fiction-Stoff neu erzählt. Außerirdische, "Hoots" genannt, unterwerfen die Erde, und verwenden die Menschen als Tragetiere. Waren die Beine der Hoots am Anfang schon schwach, so degenerieren sie aufgrund des bequem lenkbaren Menschenviehs immer mehr, aber ihre Hände sind stark, und sie scheuen sich nicht, die menschlichen Tragetiere ("Mounts") zu würgen, wenn die sich auflehnen. Zusätzlich gibt es eine Polizeitruppe von besonders brutalisierten Mounts, die ihre Artgenossen mit einer Art Elektroschockwaffe in Schach halten.

Das Besondere an diesem einfachen Szenario ist, dass es zum großen Teil aus der Sicht des Mounts Charley dargestellt wird, der zunächst nichts anderes sein will, als ein gutes Tragetier. Er fühlt sich unter allen anderen Mounts ausgezeichnet, weil er den zukünftigen Herrscher der Hoots tragen darf. Charley, so wird aus seiner Erzählung deutlich, dient dem Infanten als Anschauungs- und Lehrmaterial für dessen zukünftige Aufgabe: ein Herrscher über die Hoots und die Mounts zu sein. Für Charley hingegen besteht die Möglichkeit eines gesellschaftlichen Aufstiegs. Die Hoots machen sich einen Spaß daraus, Mounts nach speziellen Verwendungszwecken zu züchten, und Charley darf sich Hoffnungen machen, eines Tages zu den berühmten Rennmounts zu gehören, die in prestigeträchtigen Wettbewerben auftreten dürfen und von allen bewundert werden.

Als Charley mit entlaufenen Mounts in Kontakt kommt, die nicht als Sklaven unter der Knute der Hoots leben, gerät sein Wertesystem langsam ins Wanken, wobei er zunächst großes Heimweh nach den Annehmlichkeiten seines Stalls und nach seinen Privilegien als Reittier des Kronprinzen hat. Die Rebellen müssen unter schrecklichen Bedingungen existieren, aber sie versuchen sich an die Zeit zu erinnern, als Mounts noch Menschen waren, und zetteln einen Guerillakrieg gegen die Hoots an. Die Revolution gelingt schließlich, weil sich ihnen immer mehr entlaufene Mounts anschließen, und weil die herrschenden Hoots aufgrund eines langsamen Versagens ihrer Technologie Kompromisse eingehen müssen.

Diese Kompromisse sind zunächst taktischer Natur, aber alles Taktieren hilft am Ende nicht, die allgemeine Revolte kommt, und die Herrschaft der Hoots wird gebrochen. Allerdings gibt es kein Massaker an den Hoots, sondern es kommt zu einem demokratischen Machtausgleich zwischen den beiden intelligenten Spezies. Wahlen und Abstimmungen regulieren ab da das gesellschaftliche Leben. Bei der Genauigkeit, mit der die Techniken und Tricks der Versklavung und ihre psychosozialen Folgen dargestellt werden, muss das versöhnliche Ende des Romans als viel zu heiter gelten - die emanzipierten Mounts haben kaum Schwierigkeiten damit, ihre neu gewonnene Freiheit auszuhalten, und die Versöhnung zwischen Hoots und Mounts gelingt wie im Handumdrehen.

Viel weniger optimistisch ist China Miéville (Magie und Revolution). In seinem Roman "Iron Council" (2004) kämpft die bis ins Mark korrupte Regierung des Stadtstaats "New Crobuzon" gegen eine rätekommunistische Revolte (eben den "Iron Council"). Diese Revolte ist unter den denkbar seltsamsten Umständen aus einem Eisenbahnprojekt hervorgegangen, das die Eliten von New Crobuzon selbst angeschoben haben. Schon an der Konstruktion des Zentralkonflikts merkt man, dass der Autor das dialektische Denken nicht scheut; allein das zeichnet den Roman schon vor den meisten anderen Vertretern seines Genres aus.

Zusätzlich vermeidet aber Miéville auch die Falle der Sozialromantik. Zwar wird mehr als deutlich, dass seine Sympathien dem "Iron Council" gelten - aber er sieht keinen Grund, die Revolutionäre zu idealisieren, für die er Partei ergreift. Seine Skepsis gegenüber ihrer Ungeduld und ihrem politischen Ungeschick geht so weit, dass er in einem erzählerischen Kunstgriff den Ausbruch der Revolte verhindert - auf spektakuläre Weise wird ein Verzweiflungsangriff unterbunden, der den Umsturz endlich in Gang bringen soll, und zwar ausgerechnet von Judah Low, dem Mann, den die Revolutionäre fast wie einen Messias verehren. Er tut das, weil er der Überzeugung ist, dass die Bewegung zu dem Zeitpunkt, zu dem sie losschlagen möchte, scheitern wird, und zwingt ihr in einer einsamen Entscheidung eine Verzögerung auf, gegen die sie machtlos ist - machtlos sind allerdings auch die Herrschenden von New Crobuzon, die sich schon darauf gefreut hatten, der Rebellion eine entscheidende Niederlage beizubringen und dadurch gesellschaftlichen Dissens überhaupt auf absehbare Zeit zu delegitimieren. Der Roman ist politisch klug wie nur wenige Texte der Science Fiction, und zudem kommt er nicht als schwerfälliges Thesenpapier daher, sondern weiß auch immer zu unterhalten.

Aber den interessantesten gesellschaftspolitischen Science Fiction-Roman der letzten Jahre hat Kazuo Ishiguro geschrieben. Ishiguro gilt eigentlich als Spezialist für die Darstellung der verunmöglichten Liebe, und auch in "Never Let Me Go" (2005) spielt dieses Thema eine große Rolle. Kathy, die Heldin des Romans, berichtet im Rückblick von ihrer Zeit in Hailsham, einem Erziehungsinstitut, wie es typischer für Großbritannien nicht sein könnte. Wären da nicht ein paar seltsame Abweichungen von der Norm: Die Schüler sind offenbar alle elternlos, die Lehrer heißen "Wächter", es gelten ungeschriebene Regeln, die ein Verlassen des Institutsgeländes ausschließen. Schnell wird klar, dass die Schüler Klone sind, und dass Hailsham sie auf ihre zukünftige Aufgabe als Organspender vorbereitet. Ein normaler Science Fiction-Roman würde sich vielleicht damit begnügen, diesen ungeheuerlichen Sachverhalt zu einem Geheimnis zu machen, das im Verlauf der Handlung aufgedeckt wird. Nicht so "Never Let Me Go". Ishiguro behandelt ein ganz anderes Geheimnis: das der Unterwerfung.

Wie kommt es, fragt man sich, dass die Schüler von Hailsham nicht rebellieren, dass sie nicht einen Gedanken an Flucht verschwenden? Sicher, sie träumen von einer Zeit außerhalb der Kliniken und Rehabilitationszentren, in denen sie den Rest ihres Lebens verbringen werden. Die Insassen kultivieren sogar den Mythos, dass sie unter bestimmten Bedingungen einen Aufschub für den Beginn des Spendenzyklus erwirken können. Aber, nie, nicht ein einziges Mal, wehrt sich einer von ihnen. Ishiguros große Kunst besteht darin, diese Lähmung vollkommen logisch erscheinen zu lassen. Das Überwachungssystem, das dieser Lähmung zugrunde liegen muss, macht er genau dadurch deutlich, dass es nie erwähnt wird. Es gibt keine Gedankenkontrolle in diesem System, keine spezialisierte Polizei, keine Implantate, keine elektrisch geladenen Stacheldrahtzäune, es gibt nur Gehorsam, und das ist das Schrecklichste überhaupt.

Ohne je in den Ton der Anklage zu verfallen, stellt Ishiguros Roman eine einzige Frage: Wie kaputt muss eine Gesellschaft sein, in dem ein solches Buch überhaupt möglich ist? "England, late 1990s" - dieser banale Eintrag geht dem Text als Vorbemerkung voraus, und der Text macht ihn zu einem vernichtenden Urteil über unsere Gegenwart. "Never Let Me Go" landete immerhin auf der Auswahlliste für den diesjährigen Arthur C. Clarke Award, wurde aber von "Air" (Geoff Ryman) geschlagen. Man wird noch ein bisschen warten müssen, bis allgemein anerkannt wird, dass Ishiguros Buch einer der wirklich großen Romane des Science Fiction-Genres ist.

Die fünf Romane, die ich hier vorgestellt habe, sind nicht die Produkte einer einheitlichen literarischen Bewegung. Aber wenn man Gemeinsamkeiten aufzählen will, dann fallen zumindest zwei auf: die der Genauigkeit und die des Pessimismus (letzteres trifft auch für "The Mount" zu, gerade weil Carol Emshwiller ihrem Roman einen unpassend naiven Schluss angehängt hat). Und sie sind alle lesenswert, was man ja immer nur von einem kleinen Bruchteil der Science Fiction-Literatur sagen kann. Ergänzen sie die Behauptung Paul Valérys, dass Optimisten schlecht schreiben, durch den leicht hämischen Zusatz, dass das auch für die Utopisten gilt?

Es gibt ja Gegenbeispiele: Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogie ist gleichzeitig sehr genau, sehr utopistisch/optimistisch und sehr lesenswert. Aber es ist kein Zufall, dass die Mars-Trilogie als krasse Ausnahme in der gegenwärtigen Science Fiction gelten muss, und es ist auch kein Zufall, dass "Never Let Me Go" - eindeutig literarisch der beste der hier vorgestellten Romane - zugleich der pessimistischste ist. Das beunruhigt mich. Während der Befund, den ich hier andeute, meinem literarischen Geschmack zusagt, hätte ich doch gern auch noch Hoffnung für die Zukunft.

Die beste Science Fiction, die es derzeit gibt, hat wohl nicht völlig ihren Bezug zu Utopie verloren (selbst Ishiguro stellt Hailsham als eine vergangene Utopie dar), aber sie ist extrem skeptisch, was ihre Verwirklichung angeht - und Hoffnung, außer auf gute Bücher, kann sie nicht bieten.