Vor der Wahl in Brasilien: Was ist das Erfolgsrezept des Bolsonarismo?

Bolsonaro ist konfrontiert mit vielen Vorwürfen: Rassismus, Korruption, Verharmlosung der Pandemie, Glorifizierung der Militärdiktatur, Umweltzerstörung, inklusive Menschenrechtsklagen am Internationalen Strafgerichtshof. Bild: Ultima Voce / CC BY 2.0

Mit Präsident Jair Bolsonaro hat sich autoritäre Herrschaft in Brasilien etabliert. Was macht ihn und seine Ideologie so attraktiv? Wird Bolsonaro sich gegen seinen progressiven Herausforderer "Lula" bei den Wahlen im Oktober durchsetzen können?

Die Völker wurden seiner Herr, jedoch.

Dass keiner uns zu früh da triumphiert –

Der Schoss ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.

Bertolt Brecht, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui

Seit Jair Bolsonaro im Jahr 2019 Präsident Brasiliens wurde, haben sich eine Reihe von Wissenschaftlern an einer Annäherung an das seltsame Phänomen des Bolsonarismo versucht – eine Aufgabe, die nicht unkompliziert ist, da der Begriff des Bolsonarismo mehr umfasst als nur die persönlichen Überzeugungen oder politischen Entscheidungen der Person Bolsonaro allein.

So betonen etwa Rodrigo Nunes und Esther Solano, dass es sich beim Bolsonarismo um eine "Konvergenz" sozialer wie politischer "Trends" oder "Strömungen" handelt, die ohnehin stark in der brasilianischen Gesellschaft verwurzelt sind. Die führenden diskursiven und ideologischen Ursprünge des Bolsonarismo liegen dabei im Sozialkonservativismus, dem leistungsorientierten Unternehmertum, dem Neoliberalismus, der Korruptionsbekämpfung sowie der Linkenfeindlichkeit (oder antipetismo, sprich die Gegnerschaft zur linken Arbeiterpartei oder PT), dem Militarismus, Anti-Intellektualismus sowie dem Evangelikalismus begründet.

Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen und teils sogar widersprüchlichen Strömungen, die unter dem Banner des Bolsonarismo versammelt sind, das tiefsitzende Bedürfnis nach Ordnung. Bolsonaro konnte sich auch deshalb als Vorkämpfer des Bolsonarismo etablieren, da er sich als einziger Kandidat präsentierte, der die wirtschaftliche und soziale Ordnung in Brasilien wiederherstellen würde.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Monatszeitschrift Welttrends.

Im Laufe des letzten Jahrzehnts musste Brasilien mehrere wirtschaftliche, politische und soziale Krisen in Folge bewältigen. So hatte etwa die Wirtschaftskrise im Jahr 2014 einen sprunghaften Anstieg der Arbeitslosenquote zur Folge. Viele Brasilianer, insbesondere jene, deren Lebensstandard durch die Umverteilungspolitik der PT in den 2000er Jahren gestiegen war, sahen sich nun mit einem signifikanten sozialen Abstieg konfrontiert.

Parallel zur Wirtschaftskrise war das politische Establishment in einen großen Korruptionsskandal verstrickt, der als "Operation Car Wash" bekannt wurde. Wegen ihrer vermeintlichen Verstrickung in diese Korruptionsaffäre wurde die damalige Präsidentin Dilma Rousseff ihres Amtes enthoben. Angesichts der Dimensionen dieses Skandals stellte sich bei vielen Brasilianern das Gefühl ein, das gesamte politische System sei korrupt.

Andere soziale Probleme wie etwa die zunehmende Gewalt in den Städten verstärkten nur noch die Wahrnehmung eines Brasiliens, das im Chaos versinkt. Obwohl Bolsonaro zum Zeitpunkt seiner Präsidentschaftskandidatur bereits seit drei Jahrzehnten in der Politik war, inszenierte er sich als politischer "Außenseiter", der mit der Korruption in der Regierung und den sozialen Unruhen aufräumen würde. Zudem bediente er sich der Sündenbock-Logik, um verschiedene Gruppen wie etwa Afro-Brasilianer, indigene Gemeinschaften, Studenten, LGBTQI+-Menschen, linke Politiker, Feministinnen oder die Landlosen-Bewegung für den Niedergang Brasiliens verantwortlich zu machen. Er verurteilte Versuche, genderspezifische und ethnische Ungleichheiten in Brasilien zu beheben und forderte die Wiederherstellung der traditionellen Ordnung.

Die Anziehungskraft des Bolsonarismo ergibt sich vor allem aus dem Versprechen, auf diese Weise eine gewisse Vertrautheit und Ordnung in das Leben der Brasilianer zurückzubringen. Der Bolsonarismo folgt dabei dem, was John B. Judis als "triadische" Struktur des Rechtspopulismus bezeichnet. Während der zentrale Konflikt des Linkspopulismus üblicherweise einen Konflikt zwischen "dem Volk" und den "Eliten" beinhaltet, stellen der Bolsonarismo und andere Rechtspopulismen "dem Volk" "Eliten" gegenüber, die diverse "Andere" in unangemessener Weise bevorzugen.

Dabei setzt der Bolsonarismo dem Bild des cidadão de bem ("aufrechter Bürger") das Stereotyp des vagabundo (Vagabund, Bandit, Krimineller) entgegen. Der cidadão de bem respektiert die herrschende Ordnung, selbst wenn diese "Ordnung" Ungerechtigkeit und Ungleichheit produziert. Währenddessen sorgt der vagabundo – ein leerer Begriff, der sowohl linke Politiker als auch unterdrückte Gruppen umfasst – für Unruhe, indem er unverdienten Minderheiten eine "Sonderbehandlung" zukommen lässt.

In der Logik des Bolsonarismo muss der vagabundo dafür bestraft werden, die traditionelle Ordnung der brasilianischen Gesellschaft angetastet zu haben. So hat Bolsonaros Regierung etwa das Bildungsbudget zusammengestrichen, den Kahlschlag und illegalen Bergbau auf geschütztem indigenem Land vorangetrieben, Antidiskriminierungsmaßnahmen der Regierung die Finanzierung entzogen und mit der Kriminalisierung sozialer Bewegungen gedroht. Das Ordnungsversprechen des Bolsonarismo scheint letztlich wenig mehr zu sein als der Versuch, bestehende Hierarchien zu reproduzieren.

Der Bolsonarismo stützt sich auf eine dichte Infrastruktur aus Organisationen, Institutionen und Plattformen, die von großen politischen Koalitionen bis hin zu kleinen WhatsApp-Gruppen reichen. So hat Bolsonaro etwa mit einer breiten rechten Allianz im brasilianischen Kongress kooperiert, die auch als die "beef, bible and bullet"-Fraktion (Bancada BBBs) bekannt ist, um Umweltschutz- und Sozialhilfemaßnahmen sowie die bürgerlichen Freiheiten einzuschränken. Die Führer der großen Pfingstkirchen, so etwa der Pastor und Televangelist Bischof Silas Malafia, haben ihre Gemeinden zudem dazu aufgefordert, Bolsonaros Mission – den Schutz der traditionellen Familie vor der Bedrohung durch die "Genderideologie" – zu unterstützen.

Das Instituto Mises Brazil und weitere libertäre Institutionen befürworten derweil die Privatisierung von Staatsunternehmen und öffentlichen Versorgungsbetrieben. Und während der Einfluss traditioneller brasilianischer Medien immer weiter abnimmt, wenden sich viele konservative Brasilianer verstärkt den "Gegenöffentlichkeiten" der Neuen Rechten zu, wie die Wissenschaftlerin Camila Rocha betont.

Diese Gegenöffentlichkeiten – WhatsApp-Gruppen, Youtube- und Telegram-Kanäle oder Twitter-Accounts – behaupten, die "Wahrheit" zu verkünden, während die sogenannte "linke Kulturhegemonie" in Brasilien darauf aus sei, diese zu unterdrücken. So produziert der Youtube-Kanal "Brasil Paralelo" etwa revisionistische, von den Ideen des Bolsonaro-Gurus Olavo de Carvalho inspirierte Dokumentationen, die nahelegen, dass Brasiliens lange und brutale Militärdiktatur vorteilhaft für das Land gewesen sei.

Andere Gegenöffentlichkeiten verbreiten unterdessen Verschwörungstheorien und Desinformation und propagieren auf diese Weise ein verzerrtes Geschichtsbild, das Bolsonaro als Retter der brasilianischen Kultur erscheinen lässt. Jedes Level dieser Infrastruktur trägt zum ideologischen Mischmasch des Boslonarismo bei und hilft dem Präsidenten dabei, seine engagierte Unterstützerbasis aus Bolsonaristas bei der Stange zu halten.