Vormarsch bei Kursk: 1.000 Quadratkilometer von Russland unter Kontrolle der Ukraine?
Kann Kiew das besetzte Territorium halten? Offensive hat zahlreiche Diskussionen entfacht. Auch wegen der Auswirkungen auf westliche Partner der Ukraine.
Dem überraschenden Vorstoß ukrainischer Truppen auf russisches Territorium am Dienstagmorgen vor genau einer Woche ist viel Kritik und Zweifel entgegengeschlagen. Das US-amerikanische Institute for the Study of War (ISW) hat nun eine positivere Interpretation der Ereignisse veröffentlicht. Die Offensive im russischen Gebiet Kursk habe dazu geführt, dass die ukrainischen Streitkräfte zumindest vorübergehend die Initiative in einem Frontabschnitt übernommen und damit die russische Dominanz infrage gestellt hätten, hieß es von dieser Seite.
Seit November 2023 sei es Russland gelungen, die Bedingungen des Konflikts zu bestimmen und die Ukraine auf reaktive und defensive Strategien zu beschränken. Die Kursk-Operation habe diese Dynamik jedoch unterbrochen. Erstmals seit langer Zeit seien die russische Führung sowie das Militär gezwungen, auf eine militärische Drucksituation zu reagieren.
Dennoch verzichte Russland in Kursk bislang auf direkte Offensiven. Moskau nutzt stattdessen seinen strategischen Vorteil, um Druck auf die Ukraine auszuüben: Die Armee setzt in vollem Ausmaß darauf, an der Ukraine-Front weiter vorzudringen.
Dutzende russische Dörfer unter ukrainischer Kontrolle
Der amtierende Gouverneur der Region Kursk, Aleksei Smirnow, teilte dem russischen Präsidenten Wladimir Putin indes mit, dass 28 Städte und Dörfer unter ukrainischer Kontrolle stünden.
Er sagte, ukrainische Truppen seien entlang einer 25-Meilen-Front sieben Meilen in russisches Gebiet vorgedrungen. Zwölf Zivilisten seien bei den Kämpfen ums Leben gekommen und 2.000 russische Staatsangehörige würden sich vermutlich in ukrainisch kontrolliertem Gebiet aufhalten.
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Seine Behauptungen konnten nicht unabhängig überprüft werden, obwohl die Beschreibung des Ausmaßes des ukrainischen Vormarsches in etwa mit den Schätzungen von Analysten übereinstimmte.
In den sozialen Medien behauptete der Chef der ukrainischen Streitkräfte, General Oleksandr Syrskyi, am gestrigen Montag, seine Truppen kontrollierten "etwa 1.000 Quadratkilometer".
Strategische Neubewertung Moskaus?
Die ISW-Experten weisen darauf hin, dass die ukrainische Operation in Kursk und mögliche weitere grenzüberschreitende Vorstöße einen Wendepunkt für den Kreml und das russische Militär darstellen könnten.
Denkbar sei, dass Moskau die tausend Kilometer lange Grenze zur Nordostukraine fortan als legitime Frontlinie betrachtet. Das hieße in Konsequenz, dass sich die sogenannte militärische Spezialoperation in einen offenen Krieg wandelt.
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Bisher hat Moskau die Grenze zur Ukraine als sogenannte ruhende Front angesehen. Die Grenze wurde gesichert, offenbar aber nicht hinreichend, um das eigene Land vor einer Gegeninvasion der attackierten Ukraine zu schützen.
Die derzeitigen Evakuierungen im Grenzgebiet lassen zwei vollkommen entgegengesetzte Rückschlüsse zu: Es könnte sein, dass sich die Kriegsparteien auf einen offenen Krieg beiderseits der Demarkationslinie vorbereiten und ihre jeweilige Zivilbevölkerung schützen wollen. Möglich ist aber auch das genaue Gegenteil: dass man versucht, den Feind ins Leere laufen zu lassen.
Operative Herausforderungen für Russland
Laut ISW hat das russische Militär den Invasoren bei Kursk durch eilends zusammengestellte und unterbesetzte Einheiten entgegengestellt. Sie hätten derzeit erkennbare Schwierigkeiten, effektive Kommando- und Kontrollstrukturen aufzubauen.
Die Verlegung von Bataillonen und kleineren Einheiten statt ganzer Brigaden und Regimenter nach Kursk trage zu diesen Problemen bei. Die Verwirrung über den Status russischer Rekruten in der Region ist ein weiteres Indiz für ein kopfloses Vorgehen, so das ISW, das seit Kriegsbeginn eine proukrainische Position eingenommen hat.
Ukrainische Manöver und russische Propaganda
Geodaten aus Russland und der Ukraine deuten darauf hin, dass ukrainische Streitkräfte am 10. und 11. August in Kursk nach Westen und Nordwesten vorgerückt sind. Zu diesem Zeitpunkt hatten russische Quellen noch behauptet, die Lage habe sich stabilisiert – eine offensichtliche Fehleinschätzung.
Ukrainische mobile Gruppen seien in der Nacht vom 10. auf den 11. August bis zu 25 Kilometer in den Bezirk Belaja in Kursk vorgedrungen. Es gebe aber keine Hinweise darauf, dass sich diese Gruppen noch in dem Gebiet aufhielten oder ukrainische Streitkräfte über das unmittelbare Grenzgebiet im Bezirk Belaja hinaus operierten, berichten Beobachter der Lage.
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Die ukrainischen Manöver im Distrikt Belaja lassen vermuten, dass die russischen Streitkräfte an der internationalen Grenze nach wie vor schlecht auf weitere grenzüberschreitende Vorstöße der Ukraine vorbereitet sind.
Offizielle Stellungnahmen und Entwicklungen
Nach mehreren Tagen Schweigen hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den grenzüberschreitenden Vorstoß in Kursk am Samstag offiziell bestätigt. Ein hochrangiger ukrainischer Verteidigungsbeamter erklärte, die Intensität der russischen Angriffe in der Ostukraine habe etwas nachgelassen. Davon abgesehen sei die Lage aber weitgehend unverändert.
Selenskyj sagte, Russland müsse zum Frieden gezwungen werden: "Wenn Putin so sehr kämpfen will, dann muss Russland gezwungen werden, Frieden zu schließen." Die Offensive auf russischem Gebiet sei für die Ukraine eine Frage der Sicherheit. So seien Gebiete unter ukrainische Kontrolle gebracht worden, von denen aus Russland Angriffe gestartet habe.
Putin reagiert mit heftiger Kritik am Westen
Der russische Präsident Wladimir Putin hat in einer Fernsehansprache die Angriffe der Ukraine verurteilt und dem Westen vorgeworfen, den Krieg voranzutreiben. Putin betonte, dass die Ukraine immer sichtbarer mithilfe des Westens kämpfe. Das werde nichts daran ändern, dass Russland seine Ziele erreicht werde.
Die New York Times schreibt, seine Aussagen deuteten darauf hin, dass der Angriff den Kreml tief beunruhigt habe.
Angriff mit westlichen Waffen
Richtig ist, dass der Konflikt ist mit der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022 militärisch eskaliert ist. Mit dem Vorstoß ukrainischer Truppen nach Russland hat er nun in einem stärkeren Maße als jemals westliche Staaten und damit die Nato ins Kampfgeschehen involviert.
Denn offenbar sind die ukrainischen Truppen auch mit westlichen Waffensystemen, darunter nach übereinstimmenden Berichten auch deutsche Marder-Schützenpanzer, nach Russland vorgestoßen. In Berlin wollte man das immer vermeiden. Jetzt muss man gezwungenermaßen gute Miene zum unabgesprochenen "Spiel" machen und den Einsatz mehr oder weniger schönreden.
In der Bundespressekonferenz wollten Hauptstadtjournalisten wissen, ob die Ukraine aus Deutschland gelieferte Waffensysteme auch auf russischem Boden einsetzen dürften. Dazu Arne Collatz, Sprecher des Verteidigungsministeriums:
Unser Austausch mit unseren ukrainischen Freunden ist eng und vertrauensvoll, und das gilt für alle Unterstützungsmaßnahmen, die wir geleistet haben und noch leisten werden. Außer Frage steht für uns die Frage nach der Rechtmäßigkeit; die ist hinlänglich auch durch viele Rechtsexperten beantwortet. Das Völkerrecht sieht das so vor, dass sich ein verteidigender Staat auch auf dem Gebiet des Angreifers wehren darf. Das ist auch aus unserer Sicht eindeutig, und es gibt keine darüberhinausgehenden Auflagen für die Nutzung von Waffen – zumindest was Abgaben aus dem Bestand der Bundeswehr angeht –, die dort erteilt worden sind oder die zu beachten wären. Da gibt es keinerlei Hindernisse und da ist die Ukraine frei in der Wahl ihrer Möglichkeiten. Das Einzige, worauf wir achten, ist, dass die Ukraine zusagt, dass sie Waffen nur im Rahmen des Völkerrechts einsetzt, und das ist gegeben.
Arne Collatz, Sprecher des Verteidigungsministeriums
Die Bevölkerung unter Druck
Die Angriffe haben unter den russischen Zivilisten für Unruhe gesorgt. Manche sind über die Entwicklungen geschockt, obwohl Spekulationen über mögliche ukrainische Angriffe schon länger im Raum standen.
Laut der New York Times haben etwa 121.000 Menschen das Grenzgebiet bereits verlassen, und es wird versucht, weitere 59.000 zu evakuieren.