Vorsichtige Annäherung am Kriegsschauplatz

Die Wunden des Zweiten Weltkriegs sind zwischen Polen und Russland weiter offen

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Am 1. September beging man in Polen den 70. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen. Der Gedenktag wurde jedoch überschattet durch die unterschiedlichen Deutungen des Hitler-Stalin-Pakts, die in Polen und Russland vorherrschen. Russland wehrt sich gegen die in Polen und dem restlichen Europa vorherrschende Meinung, mit diesem Pakt für den II. Weltkrieg mitverantwortlich zu sein. Stattdessen behaupteten nationalistische Kreise in Russland, Polen wollte bis September 1939 an der Seite Deutschlands die Sowjetunion angreifen. Der Vorwurf hat in Polen nicht nur für Empörung gesorgt, sondern auch zu Spannungen zwischen den beiden Ländern geführt. Und auch wenn Putin am 1. September den Polen entgegenkam,, dürfte es in der nächsten Zeit zu weiteren ähnlichen Spannungen zwischen Warschau und Moskau kommen.

"2009 – das Jahr der Jahrestage." So warb das polnische Staatsfernsehen seit Monaten in einem Spot für die historischen Feiertage, die das Land in diesem Jahr beging. Am 6. Februar waren es 20 Jahre, als die Gespräche zwischen dem kommunistischen Regime und der Opposition am Runden Tisch offiziell begannen. Ein Ereignis, an das mit zahlreichen Podiumsdiskussionen erinnert wurde. Am 4. Juni feierte man die politische Wende, die an diesem Tag 1989 durch die halbdemokratischen Parlamentswahlen eingeläutet wurde. Knapp zwei Monate später folgte der 65. Jahrestag des Warschauer Aufstands, der am 1.August 1944 ausbrach. Und nun am 1. September gedachte man des deutschen Überfalls auf Polen und somit des Ausbruchs des II. Weltkriegs.

Die vierte polnische Teilung 1939

Der traditionelle Höhepunkt am 1. September ist die Gedenkfeier in Danzig, wo mit dem Beschuss des polnischen Munitionsdepots Westerplatte durch das deutsche Kriegsschiff Schleswig-Holstein offiziell der Angriff auf Polen begann. Seit Jahrzehnten versammelt sich die politische Elite des Landes vor dem 1966 errichteten Granitdenkmal in der heutigen Gedenkstätte, um der Opfer des Krieges zur gedenken. So wie auch dieses Jahr, nur dass diesmal nicht nur polnische Politiker der Gedenkfeier beiwohnten, sondern auf Einladung des polnischen Premierministers auch 20 Regierungschefs, darunter Bundeskanzlerin Angela Merkel. "Ich gedenke der 60 Millionen Menschen, die durch diesen von Deutschland entfesselten Krieg ihr Leben verloren haben. Es gibt keine Worte, die das Leid dieses Krieges und des Holocaust auch nur annähernd beschreiben könnten. Ich verneige mich vor den Opfern", sagte Merkel in Danzig, die als erste deutsche Regierungschefin überhaupt eine Einladung zu den Feierlichkeiten erhalten hat.

Mit noch größerer Spannung erwartete die polnische Öffentlichkeit jedoch den Auftritt des russischen Premierministers Wladimir Putin. Dies jedoch nicht deshalb, weil es der erste offizielle Staatsbesuch Putins in Polen überhaupt war, wohin er bis jetzt weder als Präsident noch als Premierminister reiste, sondern weil in den Wochen vor dem 1. September zwischen Polen und Russland offene Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Kriegsschuld herrschten.

Historische Meinungsverschiedenheiten sind nicht neu in den bilateralen Beziehungen der beiden Lände

. Das Massaker von Katyn, welches als Synonym für die Ermordung von 20.000 bis 30.000 Polen durch den NKWD im Frühjahr 1940 steht, belastet bis heute die polnisch-russischen Beziehungen. Im April 1990 gestand Michail Gorbatschow die sowjetische Schuld an dem Massenmord zwar ein, bis dahin machte die sowjetische Propaganda die Deutschen für die Ermordung der polnischen Offiziere verantwortlich, doch bis heute weigert sich Russland, die Ermordeten als Opfer des stalinistischen Terrors anzuerkennen.

Eine unterschiedliche Interpretation gibt es auch bezüglich des Hitler-Stalin-Pakts, der am 23. August 1939 unterzeichnet wurde. Dieser ermöglichte Hitler nicht nur den Angriff auf Polen, sondern teilte Osteuropa in einem geheimen Zusatzprotokoll auch in unterschiedliche Interessenssphären ein. Eine Vereinbarung, die Polen, ebenso wie andere osteuropäische Staaten, zu spüren bekam. Während sich die polnische Armee im Westen gegen die deutschen Invasoren wehrte, marschierte am 17. September die Rote Armee in Ostpolen ein. Offiziell bezeichnete die Sowjetunion diesen Einmarsch als "Intervention zum Schutze der slawischen Brudervölker", die binnen weniger Wochen, legitimiert durch von Moskau gelenkte Wahlen, sowjetische Staatsbürger wurden. Am 28. September 1939 besiegelten die Diktatoren Hitler und Stalin in einem "Grenz- und Freundschaftsvertrag" die Teilung Polens, indem sie in einem weiteren Geheimabkommen den Willen bekundeten, den polnischen Staat nicht wiedererstehen zu lassen.

Diese Vereinbarung war der Sowjetunion nach dem Krieg unangenehm. Die Geschichtsschreibung mied den Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin und thematisierte stattdessen den siegreichen "Großen Vaterländischen Krieg". Die Geschichtspolitik hat in Russland bis heute Auswirkungen auf die Interpretation des Paktes. Während liberale Kräfte Hitler und Stalin als Verbündete bezeichnen, deren "Molotow-Ribbentrop-Pakt der Entfesselung des Krieges diente", wie es der Historiker Denis Babitschenko deutlich ausdrückte, wehren sich patriotische Kräfte gegen eine Mitverantwortung der Sowjetunion an dem Ausbruch des II. Weltkrieges. Der Präsident des Zentrums für Systematische Analyse und Prognose in Kiew, Rostislaw Ischtschenko, bezeichnet den Hitler-Stalin-Pakt als "einen großen Sieg", während Pjotr Romanow, Autor von RIA Novosti, den Vertrag als unmoralisch, dafür aber als "politisch notwendig" ansieht.

Diese Meinung scheint auch Präsident Dimitrij Medwedew zu teilen. In einem Interview für den TV-Sender Rossija wies er die Vorwürfe zurück, die Sowjetunion sei durch den mit Nazi-Deutschland geschlossenen Pakt für den Ausbruch des II. Weltkrieges mitverantwortlich. "Das ist einfach eine zynische Lüge. Man kann eine kritische Einstellung zum politischen Regime in der Sowjetunion und zur Führung unseres Staates in jener Zeit haben. Die Frage ist, wer den Krieg entfesselt, wer Menschen getötet und wer Millionen Menschenleben, und in letzter Konsequenz Europa gerettet hat."

Aus Russland kommt der Vorwurf, Polen habe mit Deutschland einen Krieg gegen Russland geplant

In Polen hat dieses Verständnis nicht nur für Unruhe, sondern auch für sehr viel Empörung gesorgt. Erst recht, nachdem in Russland Stimmen laut wurden, die Polen in der Vorkriegszeit nicht nur eine antisowjetische Politik vorwerfen, sondern auch das angebliche Vorhaben, an der Seite Deutschlands einen Krieg gegen die Sowjetunion geplant zu haben. Die Behauptungen stützen sich auf den 1934 geschlossenen Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und Polen sowie auf das spätere Angebot Nazi-Deutschlands an Warschau, ein militärisches Bündnis gegen die Sowjetunion einzugehen. Das hat die polnische Regierung allerdings abgelehnt.

"Es existieren Dokumente, die beweisen, dass am 1. März 1939 die deutschen Angriffspläne auf Polen gestrichen wurden. Und wisst ihr, womit sich die Polen in dem nächsten halben Jahr beschäftigt haben? Der Russophop, Außenminister Beck, verhandelte mit Hitler, um sein Verbündeter zu werden. Er bot seine Dienste bei der Eroberung der Ukraine an, damit sich Polen von einem zum anderen Meer erstrecken kann“, behauptete Natalja Narotschnitschkaja, Direktorin des in Paris ansässigen und vom Kreml finanzierten Instituts für Demokratie und Zusammenarbeit, in einem Interview für die Komsomolskaja Prawda, einer der meistgelesenen Zeitungen Russlands. Und nicht nur das. Ihrer Meinung nach veränderte Stalin mit dem Nichtangriffspakt mit Deutschland nicht nur den Kriegsverlauf, sondern glich auch eine "historische Ungerechtigkeit" aus, indem er von Polen "okkupierte" Gebiete befreite.

Die Behauptungen wurden auch in einer Dokumentation des russischen Fernsehens wiederholt und vom russischen Auslandsgeheimdienst SWR untermauert. Ausgerechnet am 1. September veröffentlichte der SWR eine Dokumentensammlung, mit dem Titel "Geheimnisse der polnischen Politik. 1935-1945", die beweisen soll, dass Polen "im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges die Aufteilung und die Vernichtung der Sowjetunion plante und zu diesem Zweck den Separatismus im Kaukasus, in der Ukraine und in Mittelasien geschürt" hat. Seit dem Wochenende behauptet zudem der russische Auslandsgeheimdienst, der damalige polnische Außenminister Jozef Beck sei ein deutscher Spion gewesen.

"Ich zweifele nicht daran, dass die staatliche Propaganda die Russen mit Hass und Verachtung gegenüber Polen voll stopft, so wie sie es gegenüber den Esten, den Letten, Litauern, Ukrainern und den Georgiern auch getan hat", kommentierte der Moskau-Korrespondent der polnischen Gazeta Wyborcza, Waclaw Radzinowicz, die jüngste Debatte um den Hitler-Stalin Pakt und die Vorwürfe gegenüber Polen. Die Propagandapolitik bekommt der Journalist nach seinem eigenen Bekunden zu spüren. "In Moskau arbeitend, hier Menschen treffend, erfahre ich, wie die Feindseligkeit gegenüber Polen wächst."

"Dolchstoß vom bolschewistischen Russland"

Noch heftiger als Radzinowicz reagierte jedoch Polens nationalkonservativer Staatspräsident Lech Kaczynski auf die Vorwürfe aus Russland. "Es kam jedoch der 17. September. Ein Tag, an dem sich Warschau und Modlin verteidigten. Ein Tag, an dem noch die Schlacht an der Bzura andauerte. Ein Tag, an dem die Deutschen vor Lemberg zurückgeschlagen wurden. An diesem Tag wurde Polen ein Dolch in den Rücken gestoßen, ein Dolchstoß vom bolschewistischen Russland, welches seine Verpflichtungen aus dem zwischen Ribbentrop und Molotow vereinbarten Vertrag erfüllte", sagte das polnische Staatsoberhaupt bei der Eröffnung der Gedenkfeier auf der Westerplatte und scheute sich dabei auch nicht davor, das Massaker von Katyn mit dem Holocaust zu vergleichen. "Man kann die Frage stellen, wie man den von Nazi-Deutschland verübten Holocaust mit dem von Sowjetrussland realisierten Mord in Katyn vergleichen kann. Die Antwort: Die Juden wurden ermordet, weil sie Juden waren, und die polnischen Offiziere, weil sie Polen waren."

Die Worte dürften nicht gerade zu Entspannung in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern beitragen. Dabei hat ausgerechnet der russische Premierminister erste vorsichtige Anzeichen der Annäherung gesendet. Am 31. August veröffentlichte Putin in der polnischen Gazeta Wyborcza einen offenen Brief an die Polen, in dem er den Hitler-Stalin-Pakt verurteilt, gleichzeitig jedoch eine alleinige Mitverantwortung der Sowjetunion an dem Ausbruch des II. Weltkrieges zurückweist. Stattdessen macht der russische Regierungschef den Versailler Vertrag und die Appeasement-Politik der 30er Jahre für den II. Weltkrieg verantwortlich, ebenso wie die Außenpolitik Polens, die nach der Zerschlagung der Tschechoslowakei das Gebiet um Teschen besetzte. Putin wiederholte diese Ausführungen in seiner offiziellen Rede auf der Westerplatte.

Die Reaktion auf die Rede Putins ist in Polen eher gespalten. Während man einerseits Putins Verurteilung des Hitler-Stalin-Pakts begrüßt und sich auch dessen bewusst ist, dass seine Worte in Russland schockierend wirken könnten – 61 Prozent der Russen wissen nicht, dass am 17. September 1939 sowjetische Truppen in Polen einmarschierten, wie eine aktuelle Umfrage des Moskauer Lewada-Instituts ergab –, verurteilt man gleichzeitig Putins Widerspruch bezüglich der Mitschuld am II. Weltkrieg.

Und es könnte sein, dass dieser Streit zwischen Polen und Russland noch lange andauern und im nächsten Jahr, wenn Russland den 65. Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland begehen wird, fortgeführt wird. Als Reaktion auf die jüngsten russischen Vorwürfe bezüglich der polnischen Außenpolitik vor 1939 veröffentlichte das Nationale Büro für Sicherheit, eine Institution, die dem polnischen Präsidenten untersteht, einen kritischen Bericht über die "historische Propaganda in Russland in den Jahren 2004-2009." Seit dem 2. September ist diese Analyse auf der Internetseite des BBN frei zugänglich.

Doch nicht nur die Regierungen der beiden Länder sind für die aktuellen Spannungen verantwortlich, sondern auch die unterschiedlichen historischen Auffassungen der beiden Nationen. Während man in Russland die Rote Armee und ihre kommunistischen Verbündeten aus anderen europäischen Staaten als Befreier feiert, sieht man dies in Polen und dem restlichen Osteuropa anders. Bestes Beispiel dafür ist der Streit um die Entfernung des sowjetischen Ehrenmals in der estischen Hauptstadt Tallinn vom Sommer 2007. Zu ernsten diplomatischen Spannungen ist es damals sogar zwischen Russland und der baltischen Republik gekommen, wo die Rote Armee nicht nur als Befreier, sondern auch als Okkupant angesehen wird.

Und ähnlich ist es auch in Polen. Wie eine aktuelle Umfrage, die vom entstehenden Museum des II. Weltkriegs in Auftrag gegeben wurde, schämen sich die Polen für die Vertreter des kommunistischen Regimes, die mit der Roten Armee nach Polen kamen, ebenso so wie für die Kollaborateure während der deutschen Besatzung. Und als ein solcher Verräter gilt den Polen Karol Swierczewski, der im Westen wegen seiner Verdienste im Spanischen Bürgerkrieg geachtet, in Polen jedoch wegen seiner jahrzehntelangen Laufbahn in der Roten Armee gehasst wird.

Ob an dieser unterschiedlichen Geschichtsauffassung die polnisch-russische Historikerkommission etwas ändert, die Putin und Tusk jetzt in Danzig vereinbart haben, ist fraglich. In Osteuropa wird es noch dauern, bis die Wunden des II. Weltkrieges verheilt sind.