"Wach auf Europa"- Katalanischer Wahlkampf im belgischen Exil
Zehntausende Katalanen sind nach Brüssel gereist, um ihren Exil-Präsidenten zu unterstützen, die Freiheit der politischen Gefangenen zu fordern und um europäische Hilfe zu bitten
Schon am frühen Donnerstag fragte man sich in Brüssel, ob sich die belgische Hauptstadt über Nacht in eine katalanische Metropole verwandelt hat. "Freiheit für alle politischen Gefangenen" hallte es überall durch die Straßen und skandiert wurde auch: "Dieses Europa ist eine Schande". Verantwortlich dafür waren zehntausende Katalanen, die aus ganz Katalonien und Europa angereist waren. Sie liefen mit verschiedenen katalanischen Fahnen geschmückt wie Ester Pineda zunächst am frühen Morgen zum Jubelpark, wo sich ein großer Teil der Demonstrationsteilnehmer gesammelt hat. Von dort aus überschwemmte der riesige Demonstrationszug später die europäische Hauptstadt und nahm überall größere und kleinere Demonstrationsgruppen mit, die erst verspätet eingetroffen sind, um dann vor den europäischen Institutionen für die Unabhängigkeit Kataloniens einzutreten.
Tatsächlich dürfte es eine der größten Demonstrationen gewesen sein, die Brüssel in vielen Jahren gesehen hat. Sogar die belgische Polizei sprach von 45.000 Teilnehmern, während die Veranstalter noch von einer deutlich größeren Zahl ausgehen, aber bisher noch keine Angabe gemacht haben.
Wie Pineda, die aus Badalona gekommen ist, sind die Katalanen meist mehr als 1350 Kilometer mit mehr als 250 Bussen, gecharterten Flugzeugen, Zügen und Privatautos auch deshalb nach Belgien gefahren, um ihren Präsidenten Carles Puigdemont und vier Minister der "legitimen katalanischen Regierung" zu unterstützen. Sie halten sich hier seit gut fünf Wochen im Exil auf, denn mit einem geschickten Schachzug haben sie den Konflikt internationalisiert.
Viele hätten Brüssel gar nicht erreicht, empört sich Pineda. Ein ganzer Zug sei von den spanischen Behörden vor der Grenze zu Frankreich aufgehalten worden und dazu mindestens zwei Charterflieger, die in Reus erst mit zweistündiger Verspätung hätten abfliegen dürfen. Doch trotz der Behinderungen konnten die Katalanen ihren Konflikt mit Spanien für viele Brüsseler beeindruckend aus dem warmen und sonnigen Katalonien an diesem grauen, kalten und regnerischen Dezembertag ins "Herz Europas" tragen. Für einen Tag wurde aus Brüssel, wo die Katalanen von vielen Flamen unterstützt wurden, eine zweite katalanische Metropole, trotz des miesen Wetters wurde viel gesungen, getanzt und auch gefeiert.
Für Puigdemont und seine Minister war es ein großer Tag. Sie konnten vor dem Europaparlament, wo schließlich die Abschlusskundgebung stattfand, ein Bad in der Masse der eigenen Bevölkerung nehmen. "Puigdemont Präsident" schallte ihm entgegen. "Wir sind nicht alle, es fehlen die Gefangenen", war ebenfalls einer der zentralen Slogans, schließlich befinden sind noch immer zwei von Puigdemonts ehemaligen Ministern in Haft. Das gilt auch für die Präsidenten der beiden großen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die nun sogar schon fast seit zwei Monaten brummen.
Demonstration der katalanischen Unabhängigkeitsbefürworter in Brüssel (8 Bilder)
"Wach auf, Europa"
"Wake up Europe" (Wach auf Europa) war das Motto. Mit der Demonstration soll erreicht werden, dass Europa endlich die Augen aufmacht und die EU-Institutionen endlich Druck auf Spanien zu machen, um die Freiheit der politischen Gefangenen und eine Lösung für den Konflikt mit Katalonien zu erreichen. Eine Lösung kann, so die Katalanen, nur darin liegen, dass entweder die Unabhängigkeitserklärung und die am 27. Oktober ausgerufene Katalanische Republik anerkannt wird oder es zu einem mit Spanien vereinbarten Referendum nach schottischem Vorbild kommt, um die Situation definitiv zu klären.
Spanien hatte ein Referendum verboten und weil es am 1. Oktober trotz allem abgehalten wurde, mit massiver Gewalt versucht, es zu verhindern. Nach der Unabhängigkeitserklärung, setzte die rechte spanische Regierung mit Unterstützung der Sozialdemokraten den Verfassungsparagraphen 155 ein, löste die katalanische Regierung und das Parlament auf, setzte die Autonomie außer Kraft und hat Zwangswahlen für den 21. Dezember in Katalonien angesetzt. Nachdem schon die Präsidenten der beiden großen zivilgesellschaftlichen Organisationen zuvor inhaftiert wurden, folgten ihnen alle Minister in den Knast nach, die nicht ins Exil gegangen waren.
Wahlkampf im Exil
So hat nun am Dienstag der absonderlichste Wahlkampf in der neueren spanischen und katalanischen Geschichte begonnen, der ganz in der Hand der spanischen Justiz liegt. In dem besonderen Wahlkampf fand die größte Wahlkampfveranstaltung bisher fern von Katalonien statt. Und so trat am Europäischen Parlament nicht nur Puigdemont als Spitzenkandidat seiner Liste "Gemeinsam für Katalonien" vor die Masse, sondern auch die Vizepräsidentin der Republikanischen Linken (ERC) Marta Rovira und der Vertreter der CUP Joan Coma, der zum "zivilen Ungehorsam" aufrief und erklärte: "Wir werden für unsere Freiheit nicht um Erlaubnis bitten."
So fand im Exil ein gemeinsamer Wahlakt der drei Listen statt, die für die Unabhängigkeit eintreten. Sie hoffen auf einen klaren Wahlsieg, um den Prozess gestärkt fortsetzen zu können. Rovira verlas vor der Masse einen Brief von Oriol Junqueras. Der sitzt weiter in einem spanischen Knast mit dem ehemaligen Innenminister und Parteifreund von Puigdemont Joaquin Forn. Ihnen schreibt die spanische Justiz eine besondere Rolle zu, weshalb sie nicht mit den übrigen sechs ehemaligen Ministern am Wochenanfang auf Kaution freigelassen wurden. Junqueras führt die ERC-Liste an, die nach den Prognosen die Wahlen gewinnen soll.
Er machte klar, dass er sich nicht "allein" im Knast fühlt, aber er stellte auch klar, dass er es als "tiefe Ungerechtigkeit" empfindet, weiter im Gefängnis schmoren zu müssen, anstatt sich in den Wahlkampf einbringen zu können. Er fordert alle auf, zur Wahl zu gehen, "denn jede Stimme ist ein Schrei für die Freiheit". Seine Stellvertreterin Rovira sprach von einer "Rache" Spaniens. Sie befürchtet, dass es keine sauberen Wahlen geben könnte, da Spanien wisse, "dass wir erneut gewinnen werden". Spanien habe "Angst vor der Demokratie", weshalb auch in Wahlen "unsauber" gespielt werde.
Internationaler Haftbefehl wurde zurückgezogen
Puigdemont konnte mit einem zufriedenen Lächeln vor seine Bevölkerung treten, nachdem am Vortag der Oberste Gerichtshof den internationalen Haftbefehl gegen ihn und seine Exil-Minister zurückgezogen hat, bevor die belgische Justiz kommende Woche über den Auslieferungsantrag entscheiden konnte. Für ihn und seine Mitstreiter ist klar, dass man einer Ablehnung zuvorkommen wollte, weil die Vorwürfe der "Rebellion und Aufruhr" vor einer "unabhängigen Justiz" keinen Bestand haben würden. Tatsächlich zweifeln auch spanische Juristen, dass man die Katalanen für diese Tatbestände anklagen kann, weil dabei ausdrücklich Gewalt im Spiel sein muss.
Zurück in den spanischen Staat können Puigdemont und die vier Minister allerdings nicht, da die Haftbefehle gegen sie dort weiter bestehen und sie sicher sofort verhaftet würden. Er klagte Europa an, "Angst" davor zu haben, Spanien für sein repressives und undemokratisches Vorgehen zu kritisieren. "Europa darf nicht nur auf die Staaten hören, sondern muss auch auf die Bürger hören", erklärte er am Europaparlament. Die "Menschenrechte kennen keine Grenzen" fügt er an und fordert ein "Europa freier Menschen".
Er wandte sich auch direkt an den Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker und warnte ihn, dass man die Menschen von Europa entferne. Die Katalanen seien aber gekommen, um zu fordern, noch von Europa gehört zu werden. Die Demonstranten, die "ein wundervolles Blatt in der europäischen Geschichte schreiben", seien nicht hier, um "Kriminelle zu unterstützen, sondern um Demokraten zu unterstützen".
Puigdemont schickte aus Brüssel Kraft an die Gefangenen, darunter auch Jordi Sànchez, der bisherige Anführer des großen Katalanischen Nationalkongress (ANC), der auf seiner Liste auf Platz zwei kandidiert, und der Präsident von Òmnium Cultural Jordi Cuixart, die sogar schon fast zwei Monate im Knast sitzen.