Wacht auf "Verpennte" dieser Erde!
Die Neue Linke und das zweite Wirtschaftswunder
Das Leitmotiv der bundesrepublikanischen Politik liegt seit längerem in einem Müdigkeitssyndrom, das permanent die Frage aufwirft, wie aus Erschöpfung und Frustration gesellschaftliche Vitalität und Bewegung werden. Der Sozialwissenschaftler Meinhard Miegel hält die Deutschen im Gegensatz zu "Pubertierenden" wie etwa China für "alt, satt und müde." Altbundespräsident Roman Herzog wartet bereits seit Frühjahr 1997 vergeblich auf den alles erlösenden Ruck, der durch das matte Deutschland gehen müsse.
Sein Professoren-Kollege Paul Kirchhof überbietet diese Hoffnung jetzt noch lässig, obwohl die Zeichen der Zeit schlechter denn je sind. Kirchhof droht mit dem "zweiten Wirtschaftswunder" in einer Zeit, in der einen wenig wundert, am wenigsten politische Versprechen von besseren Zeiten. Hinter dieser kapitalistischen Supernova wittert SPD-Fraktionsvize Michael Müller die neokonservative Demontage des deutschen Sozialstaats. Kirchhof ist damit in kürzester Zeit zum Hauptgegner der Sozialdemokraten avanciert und es könnte nur eine Frage der Zeit sein, dass auch er seinen Ausflug in die apathische Welt der Parteimenschen frustriert abbricht.
"Jetzt erleben wir, dass die Verpennten von gestern mit ihren alten Rezepten die Probleme von heute und morgen lösen wollen." (Kanzler Schröder auf dem SPD-Parteitag in Berlin)
Was heißt links?
Woher kommt dann die politische Erweckung, die der Republik gerade noch gefehlt hat? Gibt es jenseits von ALG II, Hartz IV und Kirchhofs "Simplify your tax" noch andere Überraschungen? Vielleicht war jene Werbung der CDU in den siebziger Jahren voreilig, in der eine CDU-Boxerin tönte: "Komm aus deiner linken Ecke." Sind Marx‚ Gespenster nun wirklich aus der Ecke gekommen, in die sie von der Geschichte versenkt worden waren? Links ist wieder chic. Links punktet - trotz einiger Dämpfer (vgl. Gefährlicher Luxus) - wieder, nachdem die PDS so vor sich hindümpelte und Lafontaines politisches Ingenium sich auf launige Zwischenbemerkungen zur Agenda seiner ehemaligen Mitstreiter beschied.
Che Guevara, Rudi Dutschke oder Frantz Fanon waren politische Helden, denen man die Weltrevolution schon gerne anvertraut hätte, wenn die Revolution nicht leider so schrecklich unzuverlässig gewesen wäre. Wer wollte nicht dazu gehören, wenn das echte Paradies winkt, wahre Menschlichkeit und Brüderlichkeit alle Sozialstaatsabhängigen zur Sonne, zur Freiheit führen? Zwischen Histomat, südamerikanischer Revolutionsromantik, Berliner Kommunarden und Lafontaines Fabeln über die neue Wünschbarkeit der Verhältnisse liegen indes einige linke Lichtjahre. Ist "Links" gar nicht links?
Die alte Codierung, die zuvor so viel Standortsicherheit in bewegten Zeiten verhieß, wurde historisch so strapaziert, dass im polit-soziologischen Jargon keine rechte Verwendung dafür mehr bestand. Soziologen wie Luhmann erklärten sie für mausetot. War es nur ein Winterschlaf? Das Prinzip "Links" hat erstaunliche Wendungen erlebt, die Lafontaines Grasen am rechten Wählerrand keineswegs als nennenswerte Verirrung erscheinen lassen. Ob nun Horst Mahler, der Mehrfachkonvertit, der konkret mutierte Klaus Rainer Röhl oder jener altlinke Mitstreiter Dutschkes, Bernd Rabehl, zitiert werden, eins bleibt klar: Die linke Dialektik ist so dialektisch, dass sie sich mitunter auch gerne selbst in den Rücken fällt. In einem Interview mit der NPD-Zeitung "Deutsche Stimme" verortet sich etwa der SDSler Rabehl so:
In letzter Konsequenz bin ich meinem Denken von damals treu geblieben, nur dass sich inzwischen die politischen Positionen verschoben haben. Was früher als "links" angesehen wurde, gilt heute als "rechts".
Sollten derlei kopernikanische Wenden das Prinzip "Links" nicht bereits absolut diskreditieren, um erst gar nicht weiter in die dunklen Großkapitel des historischen Sozialismus einzutauchen?
Ho, Ho, Ho, Lafontaine?
"Linkssein" war früher die einzige gesellschaftliche Kondition, die den Weltgeist richtig aufsattelte. Ein Ritt durch die Geschichte, den Erich Honecker dann noch rustikaler formulierte: "Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf!" Diese Eselei, aber auch tiefer ansetzende Varianten der Geschichtsteleologie waren von Theologie und Religion einschließlich der notorischen Heidenverfolgung nie weit entfernt. Die anderen, die ewig Gestrigen, die Statthalter des Bestehenden waren Verblendete, die entweder von der Geschichte überrollt würden oder noch aufgeklärt werden mussten - bis nach viel zu vielen Jahren die Erkenntnis reifte, dass auch die Linken selbst allergrößten Aufklärungsbedarf hatten.
Doch waren es wirklich Jahre der Selbstaufklärung, deren Resultate wir nun im gemischt-sozialistischen Wahlverein von PDS und WASG sehen? Gibt es eine linke Renaissance, die durch den Windkanal der Wirklichkeit und der enttäuschten Geschichte des Sozialismus gegangen ist, um nun in der Stunde der Not wieder politisch mächtig aufzutrumpfen? Bei Oskar Lafontaine, Gregor Gysi und Lothar Bisky will sich der revolutionäre Gestus, der den Muff von tausend Jahren mächtig aufwirbelt und dem Establishment in die Visage rotzt, partout nicht einstellen. Die Revolution als Brennpunkt aller sozialistischen Euphorien ist der WASG jedenfalls genauso abhanden gekommen wie die allfällige Diktatur des Proletariats.
Das Parteiprogramm hält sich an die immergrüne Regel für solche Textsorten, sag alles und nichts: "Demokratie stärken, - eine starke Kraft für Arbeit und soziale Gerechtigkeit in den Bundestag bringen, - eine neue politische Vertretung der Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland aufbauen". Könnte Stoiber mit christlichem Gewissen auch sagen! Ist das viel mehr als ein auf Schwundstufe geschrumpfter Sozialismus, der es sich in den Globalisierungsspiralen ein wenig gemütlicher einrichten will, ohne fundamentale Fragen über das Wohl und Wehe von Gesellschaften je ernsthaft zu berühren?
Für Spötter steht seit Beginn der Menschheitsgeschichte fest, dass Linke die soziale Frage zunächst für sich lösen. Auch Oskar Lafontaine wurde jüngst mit dem politstrategisch immergrünen Vorwurf konfrontiert, dass er doch zuallerletzt zu den Verdammten dieser Erde zähle. Ein selbstgefälliger Luxus-Linker, mehr sei er doch nicht. Gregor hat Oskar auf dem "gesamtlinken" Parteitag in Berlin von PDS und WASG mit einer salvatorischen Formel Absolution erteilt. "Lafontaine ist kein Verräter." Der Kampf für Arme sei nicht mit arm sein zu verwechseln. Bei Gregor Gysi taucht das neue Linkssein gegenwärtig vornehmlich als pastörliche Konsumparole auf: "Wir predigen nicht Wasser und trinken Wein. Wir predigen Wein."
Eine Platitüde, die man Gysi eigentlich nicht zutraut, auch wenn man ihre Geburt aus dem Geiste wahlkämpferischer Blechmusik einräumt. Jener modische Theorie-Gag, der das kommunistische in das konsumistische Manifest (Abschied von der Aufklärung) verwandelte, machte zumindest deutlich, dass es in Verwöhnungsgesellschaften immer um Konsum geht, wenn man den Wähler nicht verprellen will. Lafontaine sieht es genauso: "Ein Linker darf sich etwas gönnen, dann kann er auch anderen etwas gönnen". Na, da wird fast ein (Maß)Schuh daraus, weiß doch jeder, dass Luxus ein menschliches Grundbedürfnis ist. Nun ist die Integrität von hochdotierten Politik-Managern zwar nur ein Nebenkriegsschauplatz der sozialen Frage, mag aber bei albernen Wahlkämpfen - und andere gibt es nicht - spielentscheidend sein. Darüber darf sich Lafontaine nicht mokieren, beruht seine politische Wiedergeburt doch selbst auf dem Ressentiment gegen jene Besserverdienenden, die sich gerne etwas gönnen.
Allein auf die Finanzierbarkeit der allgemeinen Glückseligkeit kommt es an. Lenin müsste neu formulieren: Optimismus ist gut, Finanzierung ist besser! Und daran hapert es weiterhin, so oder so, rechts oder links, sozial oder christlich, liberal oder grün. "Sozialismus ist nur bei florierendem Kapitalismus finanzierbar", meinte der Altgrüne Thomas Ebermann. Und darin sind sich dann alle rechten und linken Demokraten erstaunlich einig. Allein die Rezepte unterscheiden sich: Die CDU präsentiert sich in gefährlichen Formelkompromissen, die gerade noch der trickreiche Wahlkämpfer Bush II. verspottete. Wie könne man für eine Mehrwertsteuer plädieren, wenn man doch eine Wahl gewinnen wolle.
Fataler ist der ungelöste Widerspruch, wie man fröhliches Wirtschaften und Konsumieren mit neuen Steuern, zudem solchen, die unmittelbar auf dem ohnehin müden Konsum lasten, vereinbaren will. Steigen die Preise, sinkt die Kauflust. Der Rest der Spirale ist bekannt. Hier kommt Oskar, Vorhang auf für seine neue Supershow: Der Staat müsse antizyklisch handeln (deficit spending), um Wirtschaft und Konsum anzukurbeln. Das könne man von Großbritannien lernen. Wie überhaupt die Nachbarn vieles besser machen, ohne die Frage allzu sehr zu strapazieren, ob die Ländervergleiche nun im Blick auf alle Parameter plausibel sind oder nicht. Ist das das alles nur ein ungenießbares Gebräu einer Partei der Stänkerer? Ohne jedes Konzept, wie Stoiber dem ehemaligen SPD-Vorsitzenden Lafontaine im Spiegel-Streitgespräch entgegenschleuderte? Auch zuvor hieß "Links" trotz aller wissenschaftlichen Gewissheit über den Sieg des Sozialismus, zunächst einmal Sand in das Getriebe zu geben, um wenigstens die kapitalistische Maschine zu behindern, wenn die Arbeiterparadiese am Horizont auf sich warten ließen.
Der Vorwurf der Kompetenz- und Konzeptionslosigkeit gegenüber dem politischen Gegner ist bekanntlich ein Wesensmerkmal der Demokratie. Medienkanzler Schröder spricht auch hier als ausgewiesener Fachmann: "Frau Merkel und Herr Westerwelle haben nicht die Spur von Antworten. Was sie wirklich bieten, ist eine Inszenierung ohne Substanz." Selbstverständlich. Doch weiß es dieser Kanzler besser? Es bleibt kühn, sich an der Arbeitslosenzahl messen lassen zu wollen, das Misstrauen des Parlaments zu ertrotzen und dann visionär weiterregieren zu wollen. Konzeptionslosigkeit ist nicht nur eine Floskel im alltäglichen politischen Widerstreit, sondern ein parteiübergreifender Standard (Ohnmacht als politische Handlungsform), der schon zu lange durch die Wirklichkeit belegt wird.
Die Üppigkeit von Heilsrezepten hintertreibt zudem jeden Glauben an die Steuerbarkeit der Verhältnisse t(vgl. Volle Panik auf der Titanic). Man kann die gegenwärtige Politik selbst dann nicht mehr als rationalen Prozess wahrnehmen, wenn man ihre Medieninszenierungen in Rechnung stellt. Selbst wenn der bereits zurück rudernde Herr Kirchhof aus Merkels Kompetenzteam mit seiner radikalen Einheitssteuer Recht haben sollte, wird der christlich gesonnene Parteigenosse auch diese Provokation des bundesrepublikanischen Bürokratismus schon klein kriegen.
Paradise lost
Jedenfalls darf man die Neue Linke nicht deshalb tadeln, weil sie keine Antworten auf Fragen hätte, die andere auch nicht beantworten und die sogar falsch gestellt sein könnten. Dass diese Gesellschaft den neuen Linken charismatisch erliegt, ist bei den gegenwärtigen Helden kaum zu erwarten. Platz in der Arena der Ratlosigkeiten, die sich Parlament nennt, ist für eine Neue Linke genug. Gilt für diese Partei, was Jean Baudrillard bereits 1978 der PC (Kommunistische Partei Frankreich) attestierte, "eine Auffangstruktur für alles disoccupati" (Arbeitslose, Nichtbeschäftigte) zu sein, "ein Antidepressivum, ein antimelancholischer Verteiler politischer Hormone"? Das ist zwar weniger als Opium für das Volk, doch ohne politische Psychopharmaka sind die hiesigen Verhältnisse längst nicht mehr aushaltbar.
Und wie damals deutet alles darauf hin, "dass uns die Zukunft eine ständig wachsende Zahl von politisch Verwaisten bescheren wird." Doch es sind nicht lediglich politisch Verwaiste, sondern eben jene, die keinen Platz in Gesellschaften haben, die immer noch glauben, Arbeit und ökonomische Existenz wären ein unverbrüchliches Junktim. Danach ist der Sozialstaat tendenziell der Störfall, weil das Ideal der Vollbeschäftigung gilt. Woher nun diese Arbeit kommen soll, ist indes weder der Neuen Linken noch dem alten politischen Mainstream geläufig. Dass die Linken dieses Ideal nicht aufgeben können, hängt mit ihrer - gerne auch verleugneten - Provenienz aus Zeiten zusammen, die sich Gesellschaften nur als Arbeitsgesellschaften vorstellen konnten. Karl Marx schrieb "Das Kapital", doch es hätte genauso gut "Die Arbeit" heißen können, weil es zuvörderst um den humanen Einsatz der Produktivkräfte ging.
Seinerzeit war das sehr plausibel, als die Industrie nicht nur Fleiß hieß, sondern auch war und Arbeit die Welt prägte. In Zeiten einer sich radikal veränderten Produktivität sind diese Lehren, wie etwa Jeremy Rifkin eindringlich erläutet hat, fragil geworden. Die klassische Arbeitsgesellschaft ist tot und damit auch jene Verteilungsmechanismen, die geflissentlich den horrenden Zuwachs von nicht mehr menschenabhängiger Produktivität ignorieren. Japan will sein demografisches Problem etwa dadurch lösen, dass es mehr Roboter baut. Auch insofern könnte die Neue Linke bzw. Lafontaines "Partei der Gönner" noch mehr Zulauf bekommen. Nur sollte diese Partei, die seinerzeit ja immer Recht hatte, nicht behaupten, dass sie neue Arbeitsplätze schaffen kann, die allen Wein bescheren.
Lassen wir doch die Katze wirklich aus dem Sack: Alle reden von Arbeit. Wir nicht! Wir wollen auch für das Nichtstun belohnt werden. Im Schweiße deines Angesichtes magst du im Fitness-Zentrum schuften, gesellschaftlich notwendige Arbeit wird daraus nicht mehr. Das war dem jungen Marx, der euphorisch in guter hegelianischer Diktion die "Aufhebung der Arbeit" verkündete, noch klar. Seinen Fernverwandten von heute ist das überhaupt kein Thema mehr. Das könnte ihr Fehler sein. Dann wäre die Wiederauferstehung der Neuen Linken nur von kurzer Dauer.
Epilog
Das Prinzip "Links" muss deswegen noch nicht erledigt sein, wenn es sich auf seine besseren Potenzen besinnen würde. Die Bezirksverordnetenversammlung im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg verwandelte gerade einen Teil der Kochstraße in "Rudi-Dutschke-Straße". Diese und die Axel-Springer-Straße treffen dann an der politisch nunmehr hochbrisanten Kreuzung vor dem Springer-Hochhaus aufeinander. Mündet jetzt diese in jene oder umgekehrt? Nehmen wir es als ein Zeichen der Zeit, Rudi, der Kampf geht weiter.