Waffenproduktion: Warum die russische Kriegswirtschaft den Westen längst abgehängt hat
Fehlender Weitblick und eine Rüstungsindustrie, die nur an Profiten interessiert ist, sind eine schlechte Kombination im Wettlauf mit Russland, meint unser Gastautor Mike Fredenburg.
"Seit dem Ende des Kalten Krieges hat die Rüstungsindustrie nicht mehr viel Produktionsarbeit für das Ministerium geleistet", erklärte William A. LaPlante, Unterstaatssekretär für Beschaffung und Wartung des US-Verteidigungsministeriums, auf dem Global Security Forum des Center for Strategic and International Studies im April.
Profite stehen im Vordergrund
Diese schockierende Aussage von LaPlante passt zu der Reaktion der US/NATO-Rüstungsindustrie auf die russische Invasion in der Ukraine, die gelinde gesagt enttäuschend war.
Tatsächlich übertrifft Russland alle Nato-Staaten und die USA in der Produktion von Munition, Raketen und Panzern, obwohl das Land 2023 nur ein Verteidigungsbudget von 100 Milliarden US-Dollar und ein Bruttoinlandsprodukt von 2 Billionen Dollar haben wird.
Dem gegenüber steht ein kombiniertes Verteidigungsbudget der USA/Nato von 1,47 Billionen Dollar und ein kombiniertes BIP von rund 45 Billionen Dollar.
Wie kann das sein?
Kurz gesagt, die USA und ihre Nato-Verbündeten führen einen Krieg, den sie gewinnen wollen, während Russland einen Krieg führt, von dem es glaubt, dass es ihn gewinnen muss – einen existenziellen Krieg. Für das Pentagon und die US-amerikanischen Rüstungsunternehmen bedeutet dies weitgehend "business as usual", wobei Gewinne und Umsätze im Vordergrund stehen.
Zwar wurden und werden einige Verträge beschleunigt, damit das Geld schneller fließt. Aber ohne eine echte Verteidigungsreformen gibt es keinen Grund zu glauben, dass die Rüstungsunternehmen nicht weiterhin Waffensysteme wie die F-35, den Flugzeugträger der Ford-Klasse und die Sentinel-ICBM verspätet und für Milliarden mehr als ursprünglich versprochen liefern werden.
Aber es sind nicht nur die großen, komplexen Programme, die zu spät kommen und über dem Budget liegen. Sogar etwas so einfaches wie die Produktion von ungelenkten Artilleriegranaten kommt zu spät und liegt über dem Budget.
Jahrelange Probleme bei der Munitionsherstellung
Zu Beginn des Jahres 2022 gab es kaum Zweifel daran, dass die US-Armee die Artillerie nicht mehr als so zentral für das Gefechtsfeld betrachtete wie in der Vergangenheit.
Dies zeigte sich in der Entscheidung der Armee vom 21. Mai 2021, nur etwa acht Monate vor der russischen Invasion in der Ukraine, die jährlichen Ausgaben für ihre 155-mm-Granaten zu halbieren und die jährliche Produktion auf 75.357 Granaten pro Jahr, etwa 6.200 pro Monat, zu reduzieren.
Doch die Geschichte geht noch weiter. Wie sich herausstellte, hat die Armee den Niedergang der gesamten Lieferkette für Artilleriemunition in den USA beaufsichtigt.
Das Ausmaß dieses Niedergangs wird in einem ausgezeichneten investigativen Reuters-Bericht enthüllt, der aufdeckt, dass die US-Produktion von 155-mm-Granaten jahrelang durch Herstellungsfehler und Sicherheitsprobleme behindert wurde.
Auch die Pläne, die veraltete US-Artillerieproduktionsanlage in Virginia durch eine moderne, wesentlich leistungsfähigere Anlage zu ersetzen, hinkten dem Zeitplan um ein Jahrzehnt hinterher, während sich die Kosten fast verdoppelt hatten. Mit anderen Worten: das Projekt liegt weit hinter dem Zeitplan und weit über dem Budget.
Der beunruhigendste Aspekt des Versagens des US-Militärs und des Kongresses bei der Überwachung der Lieferkette für Artilleriegeschosse wurde jedoch in einem internen Dokument des US-Militärs aus dem Jahr 2021 detailliert beschrieben, das "ausländische Abhängigkeiten" von mindestens einem Dutzend für die Herstellung von Artilleriegeschossen kritischer Chemikalien aufdeckte, die aus China und Indien bezogen wurden – Ländern, die der Reuters-Untersuchung zufolge enge Handelsbeziehungen mit Russland unterhalten.
All dies führt dazu, dass sich die Lieferkette für Artilleriemunition in einem sehr schlechten Zustand befindet, insbesondere im Vergleich zu den 438.000 Granaten pro Monat, die die US-Munitionsfabriken im Jahr 1980 produzieren konnten.
Um die Lieferkette wiederherzustellen, beantragte die US-Armee 3,1 Milliarden Dollar, um die Produktion von 155-mm-Granaten bis Ende 2025 auf 100.000 Granaten pro Monat zu erhöhen. Der Kongress verdoppelte diesen Betrag großzügig auf 6,414 Milliarden Dollar im Rahmen des 95-Milliarden-Dollar-Sicherheitszuschussgesetzes, das Biden am 24. April unterzeichnete.
Der Plan der Armee, die Produktion bis Ende 2025 auf 100.000 Granaten pro Monat zu erhöhen, also auf 1,2 Millionen pro Jahr, klingt gut. Aber wir haben diese Produktionsrate in der Realität noch nicht gesehen, und bis Ende 2025 könnte die Ukraine den Krieg bereits verloren haben.
Auch Rheinmetall kann die Bilanz nicht ausgleichen
Dabei ist zu bedenken, dass die USA nicht die einzige Macht in diesem Stellvertreterkrieg gegen Russland sind – auch andere Länder arbeiten daran, dringend benötigte Artilleriegeschosse in die Ukraine zu liefern. Und die größte Munitionsnachricht aus Europa ist, dass der Rüstungsriese Rheinmetall dank eines 8,5 Milliarden Euro schweren Vertrags mit der Bundeswehr ab 2025 jährlich bis zu 700.000 Artilleriegranaten und 10.000 Tonnen Pulver produzieren wird.
Wenn also alles nach Plan läuft, könnten die USA und ihre NATO-Verbündeten bis Ende 2025 fast zwei Millionen 155-mm-Granaten pro Jahr produzieren. Dies erscheint deutlich weniger eindrucksvoll, wenn man bedenkt, dass Russland seine jährliche Artilleriegranatenproduktion seit Kriegsbeginn bis heute bereits auf 3 Millionen Granaten gesteigert hat.
Hinzu kommt die Tatsache, dass die Produktion von 152-mm-Granaten verfünffacht wurde, von 400.000 Granaten pro Jahr im Januar 2022 auf zwei Millionen Granaten pro Jahr. Darüber hinaus konnte Russland laut russischen staatlichen Quellen die Produktion seiner 152-mm-Krasnopol-M2-Artillerie-Präzisionslenkgranaten um den Faktor 20 steigern.
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Diese Granaten sind störungsresistenter als die von den USA an die Ukraine gelieferten 100.000 Dollar teuren M982 Excalibur 155 mm Präzisionslenkgranaten, die durch russische Störmaßnahmen weitgehend unwirksam gemacht wurden.
Russlands Schwerindustrie
Aber es reicht nicht, Artilleriegranaten zu liefern. Man braucht auch Artillerie, um sie abzufeuern; und die ukrainische Artillerie verschleißt nicht nur, sie wird auch von Russland zerstört. Und lange bevor Artillerierohre (Läufe) aufgrund von Verschleiß völlig versagen, verlieren sie an Reichweite und Zielgenauigkeit. Sowohl die Ukraine als auch Russland haben mit dem Verschleißproblem zu kämpfen, so dass sich die Frage stellt, wer über die nötige Schwerindustrie verfügt, um Artillerierohre herzustellen.
Obwohl nur wenige Informationen über die Produktionsraten von Artillerierohren vorliegen, übertrifft Russland die Waffenproduktion der USA und der Nato, indem es seine sehr großen sowjetischen Fabriken rund um die Uhr betreibt, um Munition, Fahrzeuge und andere Militärgüter herzustellen.
Dies deutet darauf hin, dass Russland bei der Produktion von Artillerierohren und bei der Herstellung neuer Artilleriewaffen ähnlich vorgeht.
Andererseits besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Vereinigten Staaten und ihre Nato-Verbündeten, wenn sie wirklich glaubten, dass ihre Existenz bedroht sei, Milliarden für Notfallmaßnahmen ausgeben könnten, die es ihnen ermöglichen würden, Russland zu überholen.
Denn dessen Verteidigungsausgaben und Bruttoinlandsprodukt machen weiterhin nur einen Bruchteil der kombinierten Ausgaben der Nato und der USA aus.
USA und Nato scheinen es nicht eilig zu haben
Solche Maßnahmen würden jedoch auch eine Störung des derzeitigen Beschaffungssystems erfordern. Theoretisch wäre dies also möglich. Aber die USA und ihre Verbündeten scheinen es nicht eilig zu haben, eine umfassende neue Industriepolitik zu etablieren.
Vielleicht weil sie wissen, dass Putin keinen unprovozierten Artikel-5-Angriff auf ein NATO-Land starten wird und dass die Demokratie in der Ukraine überleben wird.
Folglich ist die russische Bedrohung zwar durchaus geeignet, die Milliardenausgaben der Rüstungskonzerne für die Aufstockung erschöpfter Waffen- und Munitionsbestände und die Anschaffung neuer Waffen zu rechtfertigen; aber sie ist nicht groß genug, um eine Störung des von den Rüstungskonzernen geschaffenen Status quo zu rechtfertigen – eines Status quo, der von Jahr zu Jahr weniger für das investierte Geld liefert und gleichzeitig Rekordgewinne und -umsätze generiert.
Im krassen Gegensatz dazu wird der militärische Aufbau Russlands wie in einem Land vorangetrieben, das sich in einem existenziellen Überlebenskampf wähnt.
Mike Fredenburg schreibt seit mehr als 30 Jahren über Verteidigungspolitik. Seine Artikel erschienen in zahlreichen Publikationen, darunter The California Political Review, The San Diego Union Tribune und National Review.
Dieser Text erschien zuerst bei unserem Partnerportal Responsible Statecraft auf Englisch