Waffenruhe in Syrien: "Ohne Verzögerung, im ganzen Land"
Der UN-Sicherheitsrat beschließt einstimmig die Einstellung von Kriegshandlungen für 30 Tage. Hilfslieferungen sollen ermöglicht werden und die Evakuierung von Kranken
Vieles wurde über den syrischen Konflikt schon behauptet und vieles wieder zurückgenommen. Die aktive Phase der russischen Anti-Terror-Operation in Syrien nähere sich dem Ende, sagte der russische Generalstabschef und stellvertretende Verteidigungsminister Waleri Wassiljewitsch Gerassimow Ende November 2017.
Seine Äußerungen, die von der russischen Nachrichtenagentur Tass wiedergegeben wurden, sind zwar von Vorsicht gegenüber definitiven Voraussagen geprägt, aber ein zuversichtlicher Ton ist unüberhörbar; schon zuvor hatte es Aussagen gegeben, die mit der Hoffnung verbunden waren, dass der Krieg gegen die Milizen bald zuende sei. Gerassimow drückte dies Ende November so aus:
Die völlige Vernichtung der militanten Gruppen ist nur eine Frage der Zeit, das wird uns erlauben, dass wir zu Post-Konflikt-Abmachungen übergehen.
Waleri Wassiljewitsch Gerassimow
Eine der Fragen, die sich den Außenstehenden stellen, ist: Warum kämpfen die militanten Gruppen weiter, obwohl sie doch um die militärische Überlegenheit ihrer Gegner wissen? Obwohl ihnen doch nur eine Niederlage bevorsteht? Warum haben sie in Aleppo nicht frühzeitig aufgegeben, warum geben sie in Ostghouta nicht auf?
"Waffenruhe kann nicht einfach von oben verhängt werden"
Gestern beschloss der UN-Sicherheitsrat eine Resolution, einstimmig, also ohne Veto Russlands oder Chinas, wonach die kriegerischen Handlungen ("hostilities") für die nächsten 30 Tage in einer Reihe, ununterbrochen, eingestellt werden sollten. Und zwar in ganz Syrien ("throughout Syria"), einschließlich Afrin und den Golanhöhen, wie der syrische UN-Botschafter al-Jaafari betonte.
Die Waffenruhe solle ohne Verzögerung ("without delay") in Kraft treten, damit Menschen in der Region Ostghouta und anderswo mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt könnten, dass humanitäre Konvois passieren können und schließlich medizinische Notfälle evakuiert werden können.
Der russische UN-Botschafter erklärte indessen, warum Russland sich zunächst weigerte, dem eingebrachten Resolutionsentwurf von Schweden und Kuweit zuzustimmen. Eine Waffenruhe sei nicht einfach von oben, vom Sicherheitsrat in New York aus, per Dekret zu bestimmen. Dazu brauche es miteinander abgestimmte Vereinbarungen vor Ort, so Wassili Nebenzia.
Verhandlungen mit den Milizen
Damit wird zumindest teilweise erklärt, warum Milizen nicht so einfach aufgeben: Sie wollen einen möglichst guten Preis bei Verhandlungen erzielen, sich "teuer verkaufen". Dazu kommt, dass z.B. die Islamische Armee in Ostghouta einen wichtigen Übergang, Wafideen, kontrolliert - ein berüchtigt lukratives Geschäft. Auch Ahrar al-Sham und Failaq al-Rahman profitieren von ihrer Stellung in Ostghouta, materiell und ideologisch.
Der Kampf über die Herrschaft in Ostghouta hat auch mit sozialen Bedingungen zu tun und mit entsprechenden Anhängerschaften, die den Islamisten zu Gute gekommen sind. Auch das lässt sich nicht wie der gordische Knoten auflösen, wie Aron Lund in einer kurzen lesenswerten, faktischen und aktuellen Lagebeschreibung darlegt.
Lund hat, wie man bemerken wird, Sympathien für die Opposition gegen Baschar al-Assad; er ist aber kein Sympathisant der Dschihadisten und vor allem sind seine Analysen auf ein feineres Relief der Landschaft bedacht und nicht auf grobschlächtige, propagandistische Irreführungen à la "Baschar al-Assad vernichtet sein eigenes Volk und Putin hilft ihm dabei".
Ein politischer Akzent von Aron Lund, seine Gewichtung wird schon deutlich: Wenn der Journalist darauf verweist, dass die Regierung in Damaskus Wert darauf lege, dass die Rolle des al-Qaida-Ablegers al-Nusra-Front (aka Jaish al-Fata, aka Hayat al-Tahrir) möglichst deutlich herausgestrichen wird, während al-Nusras Präsenz und Relevanz in Ostghouta im Vergleich zu den anderen beiden Milizen gar nicht so bedeutend sei.
Die Einschätzung und Bewertung des dschihadistischen/terroristischen Faktors ist ein ewiges Politikum, da damit hartes militärisches Vorgehen begründet und legimiert wird, nicht nur von Russland und Syrien, sondern auch von USA, dem Irak samt den schiitischen PMU-Milizen, von Frankreich und Großbritannien.
Al-Qaida in Syrien und die Bündnisse
Der Name Al-Qaida taucht in der UN-Sicherheitsrats-Resolution auf, im Zusammenhang mit al-Nusra. Sie sind von der Waffenruhe ausgenommen. Entsprechend gehen diese Kämpfe weiter, wie al-Jazeera meldet.
Wie die Gruppen dann getrennt behandelt werden, ist eine der klassischen Fragen im syrischen Konflikt, immer wenn es um al-Nusra/al-Qaida geht. Al-Nusra/Hayat alTahrir al-Sham stehen nämlich im Kampfbündnis mit Faylaq al-Rahman, eine der drei dominierenden Milizen in Ostghouta (die anderen beiden sind Jaish al-Islam und Ahrar al-Sham).
Aus der Sicht von Berichten, die der Regierung nahestehen, ist Faylaq al-Rahman durch sein Kampfbündnis mit al-Nusra bereits im Lager der Terroristen, Damaskus wird diese Einschätzung teilen (zumal dort in den letzten Tagen viele Raketenangriffe bis in die Nähe des Bab al-Thuma verzeichnet wurden).
Ob Milizen der Faylaq al-Rahman daher auch nach der Sicherheitsresolution angegriffen werden dürfen, etwa wenn sie mit al-Nusra-Mitglieder zusammen gesehen werden? Das könnte einer der heiklen Punkte sein, die Abmachungen im Zusammenhang mit der UN-Resolution mit einem Eklat zunichte machen könnten. Möglichkeiten zu einem Eklat, der entsprechend Aufmerksamkeit in den Medien bekommt, tun sich aber immer auf, wenn es um die Durchfahrt und die Sicherheit von Hilfskonvois geht.
(Einfügung: Insgesamt zeichnet sich schon ab, worauf der russische UN-Botschafter Wassili Nebenzia aufmerksam machte. Die Parteien werden die Resolution nach eigenen Vorstellungen interpretieren. Der "Kampf gegen Terroristen" ist immer möglich, da von der Waffenruhe ausgenommen. Auf die Begründung kommt es an.)
Mehrere Teil-Abkommen wahrscheinlich
Laut Lund ist die Allianz zwischen Faylaq al-Rahman und Hayat al-Tahrir al-Sham (HTS, nach wie vor mit Kernmitgliedern des al-Qaida-Ablegers al-Nusra, der um eine bessere Reputation bemüht ist) vor allem ein defensives Bündnis und weniger von anderen Gemeinsamkeiten getragen. Das sehen nicht alle so soft.
Nach Lunds Auffassung wird die Regierung in Damaskus versuchen, die Situation mit einer Reihe von Abkommen in bestimmten Gebietsabschnitten mit den entsprechenden dominierenden Milizen zu lösen, peu à peu. Dem stehen die Chancen der vielen Teilnehmer am Syrien-Konflikt, den großen Mächten und ihren vielen vielen Proxies, gegenüber, die Waffenruhevereinbarungen zu sabotieren, um sich eigene Vorteile zu verschaffen.
Heute meldet die Tagesschau eine ruhigere Lage in Ostghouta: "Angriffe auf Ostghouta lassen nach". Das kann sich sehr schnell ändern - und daran haben, anders als es der Mainstream der Medien gewöhnlich so darstellt, nicht Damaskus und seine Verbündeten ein großes Interesse, sondern die Milizen, die militärisch auf der Verliererstraße sind und auswärtige Mächte, die nicht daran interessiert sind, dass sich die Position der Regierung Baschar al-Assad weiter konsolidiert.