Waldbrände: Massive Vorwürfe gegen türkisches Militär
"Terrorismusbekämpfung" in der Provinz Dersim im Südosten des Landes
Seit über zwei Wochen brennen in der Provinz Dersim im Südosten der Türkei die Wälder. Doch dafür ist nicht in erster Linie die extreme Hitze verantwortlich, sondern das türkische Militär. Sie setzen seit Jahren in der Region Wälder und Felder in Brand, wie dies unterschiedliche Hinweise, Dokumente und Zeugenberichte untermauern. Begründet wird dies wie in allen kurdischen Regionen mit "Terrorismusbekämpfung". Die ökologischen Folgen werden in dieser Region genauso ausgeblendet wie die Zerstörung der Lebensgrundlage vieler Dörfer in der Region.
Die überwiegend kurdisch-alevitisch geprägte Provinz Dersim gilt für die türkische Regierung nach wie vor als Widerstandsnest. 1937/38 verübte die damalige kemalistische Regierung ein Massaker an der Dersimer Bevölkerung, die mehrheitlich der religiösen Minderheit der Aleviten angehört. Dieses Massaker entsprach allen Kriterien der UN-Konvention gegen Völkermord.
Schon damals, das geht aus Dokumenten des damaligen Gendarmerie-Generalkommandos hervor, wurde das Abbrennen von Dörfern, Wäldern und Feldern gezielt zur Vernichtung und Vertreibung der Bevölkerung eingesetzt. Giftgas aus Deutschland kam ebenfalls zum Einsatz.1
Damals wurden kurdisch-alevitische Kinder von türkisch-sunnitischen Familien zwangsadoptiert, um sie zu islamisieren und türkisieren. Dies ist Gegenstand der Dokumentarfilme wie z.B. "Die verlorenen Mädchen von Dersim", "Hay Way Zaman" oder "Vanks Kinder" von Nezahat und Kazim Gündogan. In Internaten und Schulen wurden die Kinder assimiliert, sie sollten ihres Glaubens, ihrer Kultur und Sprache beraubt werden.
Nach Quellen der Staatsarchive wurden in den Jahren 1937/1938 11.818 Dersimer zwangsumgesiedelt, "die tatsächliche Zahl dürfte etwa doppelt so hoch sein".2 Die heutigen Nachfahren der Überlebenden des Massakers 1937/38, die noch in der Region leben, erleben nach wie vor Diskriminierung und Repression.
Dazu gehören auch die seit Jahrzehnten immer wiederkehrenden, durch, wie es auch eine aktuelle Forschungsarbeit nahelegt, offenbar von türkischen Militärs vorsätzlich verursachte Waldbrände. Die türkische Regierung bestreitet den Zusammenhang, den Wissenschaftler über einen Ansatz, der mehrere Methoden einschließt, dokumentieren.
Die Region Dersim ist eine der Hochburgen der linken demokratischen Partei HDP, der von der türkischen Regierung "Terrorismusunterstützung" unterstellt wird.
Bevölkerung darf Brände nicht löschen
In der Region zwischen den Kreisstädten Ovacik und Hozat brennen seit über zwei Wochen die Wälder. Die Bevölkerung darf die Brände nicht löschen. Die türkische Regierung hat diese Region kurzerhand zur Sperrzone erklärt. Die "Dersim Kultur Initiative" startete einen Hilferuf an Europa und die Weltgemeinschaft zur Rettung der Wälder, Wildtiere und Menschen in Dersim.
Sie bat Europa darum, mit der türkischen Regierung Kontakt aufzunehmen, damit z.B. Löschflugzeuge aus Europa zum Einsatz kommen könnte. Bis heute ist nichts passiert, weil das nicht im Interesse der türkischen Regierung liegt. Im Gegenteil: Am 30. Juli soll die türkische Armee, wie ihr vorgeworfen wird, im Landkreis Hozat große Flächen in Brand gesteckt haben.
Der Gouverneur der Region untersagte der Bevölkerung das Betreten aller Waldgebiete um Dersim-Stadt, Ovacık, Pülümür, Nazımiye und Mazgırt bis zum 1. September, obwohl die Brände drohen, auf besiedeltes Gebiet überzugreifen. Selbst die Feuerwehr darf nicht in die Region. Auch Vertreter von Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich ein Bild von der Lage machen wollen, werden am Betreten der Region gehindert.
Die türkischen Medien dürfen über die Waldbrände in der Türkei nicht kritisch berichten. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, die von der AKP/MHP-Koalition kontrollierte Rundfunkbehörde des Landes habe Strafen gegen fünf TV-Sender (Fox TV, KRT, Tele 1, Halk TV und Haber Türk) verhängt, weil deren Beiträge angeblich Angst und Panik verbreitet hätten und beleidigend gegenüber der Regierung gewesen seien.
Auch beunruhigte Bürger, die sich über die Sozialen Medien besorgt oder kritisch über das Krisenmanagement der Regierung bei den Waldbränden im Westen der Türkei geäußert haben, sind Repressionen der Regierung ausgesetzt. Gegen Menschen, die auf Twitter und Instagram unter dem Hashtag #HelpTurkey um internationale Hilfe gebeten hatten, leitete die Generalstaatsanwaltschaft Ermittlungen ein wegen einer angeblichen Kampagne, die zur "Erzeugung von Sorge, Angst und Panik" in der Bevölkerung diene.
Über die Waldbrände im Osten der Türkei erfährt die Mehrheit der Türken so praktisch nichts, denn die veröffentlichten Waldbrand-Karten reichen nur bis dahin, wo die kurdischen Siedlungsgebiete anfangen. Die türkische Regierung hatte durch ihre Staatsmedien versucht, Kurden für die Waldbrände im Westen der Türkei verantwortlich zu machen.
Präsident Erdogan sprach Ende Juli von "Führern der Terrororganisation", die den Befehl für die Brände gegeben hätten. Er werde sie "ausmerzen, wie ihre Verbündeten in den Bergen". Eine Hetzjagd gegen Kurden war die Folge (Wachsender Rassismus in der Türkei).
Kurz darauf stellte sich heraus, dass z.B. im Touristengebiet Manavgat bei Antalya ein Nationalist, bzw. Mitglied der Grauen Wölfe (türk.:Ülkücü), den Brand gelegt hat. Der Täter gestand, dass er von einem Unbekannten Geld bekommen habe, um Feuer zu legen. In der Vergangenheit sind Bodenspekulanten in den Touristengebieten oft auf diese Art vorgegangen, um illegal durch Brandstiftung Bauland freizumachen.
Die Brandregion ist Heimat vieler endemischer Pflanzen- und Tierarten. Im berühmten Munzurtal gibt es Steinböcke, Bergschafe, Wildschweine, Wölfe und auch Bären. Mit 420 Quadratkilometern gehört das Munzurtal zu den größten Nationalparks der Türkei. Doch trotz des Status als Naturschutzgebiet wird die Natur durch den Bau zahlreicher Staudämme nachhaltig zerstört. Insgesamt sind neun Staudämme geplant. Werden diese realisiert, wird ein Großteil des Tals überflutet werden.