War die "Neue Welt" gar nicht so neu?
Deutscher Forscher legt Kontakte zwischen Alter und Neuer Welt bereits in der Antike nahe. Kelten könnten die ersten Europäer in Amerika gewesen sein. Teil 1
Der Kulturwissenschaftler Hans Giffhorn hat transatlantische Kontakte in der Antike rekonstruiert. Eine Emigrantenflotte iberischer Kelten und Krieger von den Baleareninseln erreichte Amerika bereits im ersten Jahrhundert vor Christus, ist sich der frühere Göttinger Uni-Professor sicher. Die Einwanderer gingen schließlich in der bis heute rätselhaften Chachapoya-Kultur Perus auf. Vor drei Jahren veröffentlichte Giffhorn seine Theorie zusammen mit einer interdisziplinären Indizienkette, die er seitdem immer weiter unterfüttert hat. Die Fachwelt ignoriert seine umfassenden Forschungsergebnisse mehrheitlich.
Ursprünglich war er auf der Suche nach einem Kolibri, der als ausgestorben galt: Als der Dokumentarfilmer und Kulturwissenschaftler Hans Giffhorn im Jahr 1998 in den Andenwäldern des nordöstlichen Perus unterwegs war, wurde er vor Ort auf die Reste einer untergegangenen Zivilisation aufmerksam gemacht. Die von den Inka so genannten Chachapoya ("Nebelwaldkrieger"), die in dieser Region einst lebten, hatten beeindruckende Bauten und Mumiengräber hinterlassen.
Doch war über dieses untergegangene Volk kaum etwas bekannt. "Das faszinierte mich", erinnert sich Giffhorn im Gespräch mit Telepolis. "Die archäologische Forschung zu den Chachapoya steckte in einer Sackgasse." Giffhorn, der sich nie durch Grenzen zwischen wissenschaftlichen Fachdisziplinen einengen ließ, wie er sagt, wollte zur Lösung des Rätsels beitragen.
Heute, rund 18 Jahre später, weiß der Kulturwissenschaftler mehr über diese unbekannte Zivilisation, die durch europäische Krankheiten im 16. Jahrhundert so gut wie ausstarb. Seine Nachforschungen führten ihn dabei zu Thesen, die durchaus geschichtswissenschaftlichen Zündstoff enthalten: Einige Vorfahren der rätselhaften Chachapoya waren Menschen aus Europa. Kelten von der iberischen Halbinsel und Krieger von den Balearen waren gemeinsam im 1. Jahrhundert v. Chr. mit Schiffen nach Südamerika gefahren, um sich dem römischen Kultur- und Eroberungsdruck zu entziehen, und hatten sich schließlich in der heutigen Chachapoya-Region niedergelassen.
Giffhorn legte seine Theorie und seine Belege dafür im Jahr 2013 als Buch erstmals der Öffentlichkeit vor. 1 In einer zweiten Auflage hat er seine Annahmen mit weiteren Forschungsergebnissen untermauert, einzelne Thesen auch verworfen oder überarbeitet. Mit einem fachübergreifenden Ansatz hatte Giffhorn, der jahrzehntelang an den Universitäten Göttingen und Hildesheim Kulturwissenschaften lehrte, viele Argumente für seine Theorie zusammengetragen. "Heute liegt eine geschlossene Indizienkette vor, die nichts mit Spekulation zu tun hat", unterstreicht er. Im März zeigte der Pay-TV-Spartensender "Spiegel Geschichte" Giffhorns dreiteiligen Dokumentarfilm2 über seine jahrelangen Forschungen.
Eine zunächst absurde Idee
In den Fachwissenschaften werden Giffhorns Ausführungen jedoch kaum beachtet. Auch Telepolis-Anfragen bei zwei Experten des Deutschen Archäologischen Instituts blieben unbeantwortet. Es gebe eben viele haarsträubende, teils rassistische Theorien3 zur Chachapoya-Herkunft, sagt Giffhorn. Damit wollten seriöse Wissenschaftler nichts zu tun haben. Giffhorns Theorie werde wohl ebenfalls schnell als unseriös abgetan, klingt sie doch erstmal ungewöhnlich und fantasievoll. Er selbst spricht von einer "zunächst absurd erscheinenden Idee".
Doch der erfahrene Göttinger Forscher hat sich an die Regeln wissenschaftlicher Hypothesenbildung4 gehalten, viele fachwissenschaftliche Expertisen eingeholt und kann zahlreiche frappierende Kulturparallelen präsentieren, die seine Annahmen bestätigen.
Die Verlässlichkeit seiner Theorie basiere nicht auf einem Einzelbeweis, sondern auf einer Vielzahl unterschiedlicher, voneinander unabhängiger und sich gegenseitig in ihrer Beweiskraft stärkender Indizien, erklärt er. Giffhorns Ziel sei es aber nie gewesen, selbst alles zu beweisen, sondern Fachwissenschaftlern eine hilfreiche Arbeitshypothese zur weiteren Forschung zur Verfügung zu stellen.
Keine große nautische Kunst nötig
So herangegangen stellt sich zuerst die Frage: Waren Atlantiküberquerungen in der Antike überhaupt möglich? Ein Experte hat sich auf Telepolis-Anfrage immerhin geäußert. "Ja", sagt der Historiker Raimund Schulz von der Universität Bielefeld. "Grundsätzlich ist es keine große nautische Kunst, mit antiken Schiffen von der Westküste Afrikas oder auch von Spanien den Atlantik zu überqueren." Man brauche sich im Prinzip nur bei günstigem Wind mit der Strömung treiben zu lassen, erläutert der Professor für Alte Geschichte, der kürzlich ein Buch über antike Entdeckungsfahrten veröffentlicht hat. 5
Übrigens wurde im Jahr 1500 auch der portugiesische Seefahrer Pedro Álvares Cabral von Äquatorialstrom und Passatwinden vor Westafrika abgetrieben und landete so unbeabsichtigt an der südamerikanischen Atlantikküste. Cabral gilt seitdem als Entdecker Brasiliens.
Antike Seefahrer konnten das offene Meer mit Navigation nach den Sternen sowie unter Beachtung von Strömung, Wasserfarbe, Tang etc. überqueren, dazu habe es keines Magnetkompass‘ bedurft, so Schulz weiter. "Insofern sind antike Atlantiküberquerungen auch der Kelten und/oder der Karthager generell denkbar." Das große Problem sei die Rückkehr. Doch dies ist für Hans Giffhorns Szenario unerheblich. Darin gibt es keine Rückkehr.
Kriegerkulturen wehrten sich gegen Romanisierung
Jahrelang war Giffhorn auf der Suche nach Völkern der Alten Welt, die Motiv und Fähigkeit zu solch einer waghalsigen Reise ohne Widerkehr hatten. Erst hatte er die Karthager in Verdacht. 6 Doch Hinweise von Archäologen ließen ihn diese Annahme überdenken. Schließlich entdeckte er mit den Keltiberern, der Castro-Kultur und den Kriegerkulturen der Baleareninseln Mallorca und Menorca drei in Frage kommende Gruppen im antiken Spanien. Dies seien die einzigen Regionen gewesen, die das Ausschlussverfahren überstanden.
Für Giffhorn stellt die Expansion der Römer das zentrale Ausreisemotiv dieser Stämme dar. Der Anschluss der iberischen Halbinsel sei immerhin das schwierigste, langwierigste und blutigste Kapitel in der Geschichte Roms gewesen, schreibt er. Während die südlichen und östlichen Regionen des heutigen Spaniens schon ab dem 2. Jh. v. Chr. unter römischer Kontrolle standen, waren die Baleareninseln sowie der Nordwesten (Castro-Kultur) und das nordöstliche Zentralspanien (Keltiberer) noch nicht besetzt.
Im Jahre 123 v.Chr. eroberten die Römer schließlich die Balearen. Zwei Jahre brauchten sie dafür. Dies lag auch an der Kampfkraft der Bewohner, die die Kunst des Steinschleuderns zur Perfektion entwickelt hatten und der Inselgruppe so auch den Namen verliehen (Baliarides - griechisch für Steinschleuderer). Die Römer unterbanden die Piraterie, von der die Inselbewohner lange gelebt hatten, zerstörten deren Heiligtümer und lösten Hungersnöte aus. Jahrzehntelang wehrten sich die Einwohner gegen die kulturelle Romanisierung.
Besonders der konservative Teil der balearischen Kriegerkulturen habe sich den eigenen uralten Normen und Traditionen zutiefst verbunden gefühlt. Sie konnten sich mit der Romanisierung nicht abfinden, bestätigte auch der spanische Archäologe Toni Puig, dessen Spezialgebiet die vorrömische Talayot-Kultur Mallorcas und Menorcas ist.
Während zahlreiche Steinschleuderer in die Armeen Roms gezwungen wurden, flüchteten viele Krieger wegen Zwangsrekrutierungen, Kulturdruck und Hunger aufs iberische Festland, sagt Puig. "Sie hatten ein starkes Motiv, eine neue, römerfreie Heimat zu suchen", ergänzt Giffhorn. Selbiges gelte auch für die beiden anderen genannten Kulturen.
Galicien sei damals eine der letzten römerfreien Regionen Spaniens und Sammelpunkt für freiheitsliebende Krieger aus den bereits eroberten Gebieten gewesen. "Es wäre naheliegend, dass die Galicier die Krieger als Verstärkung gegen die Römer aufnahmen", so Giffhorns Annahme. Auch für keltiberische Männer.7 sei es kein Problem gewesen, sich dorthin durchzuschlagen. Galicien sei zudem ein lohnender Zielort gewesen, da mit La Coruña dort ein wichtiger Hafen der Antike lag.
Kelten waren hochseetüchtig
Über das seefahrerische Können der Atlantikkelten ist heute zwar nicht viel bekannt. Auch weil sie selbst keine schriftlichen Berichte hinterließen. 8 Doch sehr wahrscheinlich hätten sie bereits von den Orkney-Inseln aus Island erreicht, sagt Historiker Raimund Schulz. Der Archäologe José Caamaño von der Uni Santiago de Compostela bestätigte gegenüber Hans Giffhorn zudem, dass die Keltiberer aus Galicien Handelskontakte zu Kelten Irlands und auf der französischen Bretagne pflegten. Dies sei etwa durch Bronzeäxte nachgewiesen. Die Handelsreisen dorthin fanden wechselseitig über das offene Meer statt - von Galicien aus viele hundert Kilometer stürmischer Atlantik. Die Besuche habe es von der Bronzezeit wahrscheinlich bis nach Christi Geburt gegeben, so Caamaño.
Immerhin eine zeitgenössische Beschreibung gibt es: Gaius Julius Cäsar berichtete in seinem Buch über den Gallischen Krieg von einer Seeschlacht im Jahr 56 vor Christus mit den keltischen Venetern von der Bretagne. Dabei beschrieb er auch ihre Schiffe, die denen der Römer überlegen waren:
Die Kiele waren etwas flacher als die unserer Schiffe, wodurch sie leichter Untiefen überqueren konnten. Ihre Buge ragten sehr hoch auf, und ebenso wie die Hecks waren sie der Macht der Wogen und Stürme angepasst, denen sie so widerstehen konnten. Die Schiffe waren ganz aus Eichenholz gebaut und so geformt, dass sie jeder Art von Gewalt widerstehen konnten. (…) Die Anker waren an Eisenketten befestigt, und als Segel benutzten sie dünnes Leder (…). Was die Atlantikküste und die Macht der Stürme betraf, waren ihre Schiffe besser geeignet als unsere.
De Bello Gallico, Buch III, Abschnitte 13-15
Zwar gebe es keine direkten Informationen über die Qualität galicischer Schiffe dieser Zeit, jedoch gebe es auch "keine Gründe, anzunehmen, dass die Galicier deutlich schlechtere Schiffe für ihre Handelsreisen benutzten als ihre Partner in der Bretagne", betont Giffhorn.
Auch der Lebensmitteltransport über längere Strecken sei unproblematisch gewesen. "Im gesamten phönizisch-karthagisch-römischen Einflussbereich wurden für weite Handelsreisen stets und noch lange nach der Zeitenwende große Keramikamphoren für den Transport und die Lagerung von Wein, Wasser und verderblichen Lebensmitteln genutzt." Diese Amphoren seien sogar weit besser für lange Reisen geeignet gewesen als etwa die Holzfässer die zu Zeiten Christoph Kolumbus‘ genutzt wurden.
Madeira oder Brasilien?
Die archaischen Kriegerkulturen der genannten Regionen hatten demnach sowohl Motiv als auch Fähigkeit zum Verlassen des iberischen Festlandes, doch woher sollten sie damals von der Existenz des amerikanischen Kontinents gewusst haben? Hans Giffhorn hat eine Vermutung: Antike Geschichtsschreiber wie Aristoteles, Timaios von Tauromenion oder Diodor berichteten in ihren Werken von einer großen Entdeckung. Westlich der Meerenge von Gibraltar sollen Seefahrer aus Karthago schon in früheren Jahrhunderten eine große Insel entdeckt haben, die vor weiten Ebenen, schiffbaren Flüssen, einer prallen Vegetation und zahlreichem Getier nur so strotze. Auch sie seien durch starke Winde dorthin abgetrieben worden.
Da es bei den Autoren dieses antiken Berichts kein Motiv für Fälschungen oder Fantasien gebe, gehe die wissenschaftliche Fachwelt von einer wahren Entdeckung der Karthager aus. Doch identifizierten Historiker und Altphilologen die Insel aus den Berichten bis heute meist mit Madeira oder anderen Atlantikinseln (Kapverden, Azoren oder Kanaren).9 Dies sei faktisch aber nicht haltbar, betont Giffhorn.10 Die Beschreibungen passten überhaupt nicht zu den kleinen Atlantikinseln.
Diese seien im Großen und Ganzen karge Vulkaninseln und hätten weder Flüsse, noch weite Ebenen und schon gar keine vielfältige Tier- und Pflanzenwelt zu bieten. In früheren Jahrhunderten sei dies sogar noch extremer gewesen als heute.
Die antiken Beschreibungen einer karthagischen Entdeckung passen kaum zu den typisch schroffen Küsten der Atlantikinseln (Bild unten) vor Westafrika und Europa.
Schon eher treffen sie auf eine typische tropische Atlantikküste Amerikas zu:
Auch das als "Blumeninsel" bekannte Madeira sei in dieser Zeit äußerst artenarm und von eintöniger Vegetation bedeckt gewesen. Erst die Portugiesen hätten die heute bekannte vielfältige Flora eingeführt, als sie die Insel ab dem 15. Jahrhundert besiedelten. Das erste Gebiet, das sich westwärts der Meerenge von Gibraltar befinde und auf die antiken Beschreibungen passe, sei die brasilianische Atlantikküste, sagt Hans Giffhorn.11
Haben also die Karthager Amerika sogar noch früher entdeckt?12 Aus heutiger Sicht wäre das eine historische Sensation. Doch dies ist für Giffhorn gar nicht entscheidend. Wichtig ist, und davon geht er aus: Dass diese Berichte von der großen Insel damals auch im antiken Galicien, besonders in der Hafenstadt La Coruña bekannt waren.
Und sie lieferten auch gleich eine Routenbeschreibung mit. Man musste nur die Straße von Gibraltar durchqueren und sich von Winden und Strömungen bis vor die Küste Westafrikas und dann weiter nach Westen treiben lassen.
Dies alles ist aber lediglich ein mögliches Szenario, stellt Giffhorn klar. Nichts davon lasse sich endgültig beweisen. Es zeige jedoch, die genannten antiken europäischen Kulturen seien zu einer zielgerichteten Atlantiküberquerung grundsätzlich durchaus willens und in der Lage gewesen. Das Szenario sei wichtig, um zu verstehen, dass solche Reisen weit vor den Zeiten eines Christoph Kolumbus nicht einfach ausgeschlossen werden können, wie das im heutigen Wissenschaftsbetrieb fast schon automatisch gemacht werde.13Das Szenario ist zudem die notwendige theoretische Voraussetzung für Giffhorns sehr viel belastbarere Theorie vom Wirken antiker Europäer in Südamerika.
Teil 2 erläutert die Kulturparallelen zwischen Chachapoya und den genannten Kriegerkulturen der Alten Welt sowie weitere Belege für Hans Giffhorns Theorie.Teil 3 befasst sich mit sachlichen und unsachlichen Kritiken aus der Fachwelt und anderen Kreisen (wie Wikipedia).
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