Warum Europa auf eine neue Krise des Euro zusteuert

Seite 2: Lohnstückkosten zentral für den Ausgleich der Wettbewerbsfähigkeit

Doch wer trägt die Verantwortung dafür, dass es zu keinem dauerhaften außenwirtschaftlichen Ungleichgewicht kommt, wenn die einzelnen Wirtschaftsakteure auf den diversen Gütermärkten dazu definitionsgemäß nicht in der Lage sind? In einer Währungsunion fällt die (suboptimale) Möglichkeit, diese Aufgabe an die Devisenmärkte zu delegieren, weg, denn nominale Wechselkurse zwischen Ländern der Eurozone gibt es nicht. Wie aber kann ein solches Ungleichgewicht dann vermieden werden?

Der einzige, nachhaltige Weg besteht darin, dass die Wettbewerbsfähigkeit zwischen den Mitgliedstaaten einer Währungsunion so ausgeglichen ist und langfristig bleibt, dass kein Land dauerhaft Defizite oder Überschüsse im internationalen Handel macht. Dabei geht es nicht um bilaterale Defizite und Überschüsse zwischen Unionsmitgliedern – die können durch gegenläufige Defizite und Überschüsse mit Drittländern aus Sicht des einzelnen Unionsmitglieds aufgewogen werden. Vielmehr geht es um den Saldo, den jedes Land mit dem gesamten Rest der Welt einschließlich der Währungspartnerländer hat.

Um auf Dauer ungefähr ausgeglichene Salden zu erreichen, müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Erstens müssen die Unionsmitglieder zu einem Wechselkurs ihrer nationalen Währung gegenüber der gemeinsamen Währung in die Union eintreten, der längere Zeit stabil war und bei dem ihre Leistungsbilanz ungefähr ausgeglichen war.

Zweitens müssen sich die Preisniveaus der Mitgliedstaaten ab Eintritt in die Währungsunion weitgehend gleich entwickeln. Dann hat nämlich kein Unionsmitglied einen Handelsvorteil auf nationaler Ebene, sondern allenfalls nur alle Unionsmitglieder zusammen. Und gegen den können sich Drittländer prinzipiell wehren, weil ihre eigene Währung gegenüber der Union abwerten kann.

Erforderlich ist also, dass sich jedes einzelne Unionsmitglied an das vereinbarte Inflationsziel der supranationalen Zentralbank hält. Die nationale Lohnpolitik ist dafür das zentrale Instrument. Sie muss dafür sorgen, dass der Lohn im Landesdurchschnitt auf Dauer im Tempo der durchschnittlichen Produktivität des Landes plus der Zielrate der Zentralbank steigt. Das nennt man die goldene Lohnregel.

Wie es jedes Unionsmitglied bewerkstelligt, sie einzuhalten – ob durch eine gesamtwirtschaftlich verantwortungsvolle Lohnpolitik der Tarifparteien, durch staatlich gesetzte Mindestlöhne oder andere Lohnfindungsmechanismen –, ist von den Strukturen jedes Landes abhängig und bleibt letzten Endes jedem Land überlassen.

Makroökonomische Ungleichgewichte zu verhindern ist eines der EU-Ziele

Dieser Zusammenhang ist essenziell für den Bestand einer Währungsunion. Bei der Gründung der EWU wurde er kaum beachtet, geschweige denn institutionell so abgesichert, dass hier keine Probleme auftreten können.

Zugegeben, institutionelle Vorkehrungen für die Einhaltung der goldenen Lohnregel sind nicht leicht zu treffen. Aber dass über dieses Kernproblem nicht einmal seit der Euro-Krise offen diskutiert wird, ist ein eklatantes Versäumnis der EU-Kommission und der EZB: Länder, die sich mit einer vernünftigen Lohnpolitik schwertun, werden auf diesem Feld bis heute nicht konstruktiv beraten.

Über ihre Staatshaushalte wird hingegen fast unentwegt debattiert. Dabei ist der Zustand der öffentlichen Finanzen in erster Linie davon abhängig, wie es in den beiden privaten Sektoren eines Landes, dem der Unternehmen und dem der privaten Haushalte, läuft. Verliert ein Land innerhalb einer Währungsunion laufend an internationaler Wettbewerbsfähigkeit, steuert der Staatshaushalt automatisch auf sich vergrößernde Schuldenberge zu.

Die EZB-Verantwortlichen wissen das. Sie wissen auch, dass sie mit ihrer für alle Unionsmitglieder einheitlichen Zinspolitik nicht differenziert auf die unterschiedlichen Preis- bzw. Lohnstückkostenentwicklungen einwirken können, sondern als Maßstab immer nur den Durchschnitt der Eurozone haben. Umso dringender wäre es, dass die Zentralbank mit den Ländern ins Gespräch kommt, deren Lohnstückkostenentwicklung nicht zum Inflationsziel der Union passt, sodass sich die Wettbewerbsfähigkeit der Unionsmitglieder auseinanderentwickelt.

Die EU-Kommission hat mit dem "europäischen Semester" – das ist ein fester jährlicher Rhythmus, in dem Analysen und Empfehlungen zu jedem EU-Land erarbeitet werden – eigentlich ein Rahmenwerk für die wirtschaftspolitische Steuerung an der Hand. Zu dessen Zielen zählt explizit die Verhinderung übermäßiger makroökonomischer Ungleichgewichte in der EU.

Aber die Kommission nutzt dieses Rahmenwerk nicht sinnvoll: Aus einem großen Bündel an Indikatoren zieht sie nicht die relevanten Informationen heraus, die ihr einigermaßen zuverlässig und vor allem rechtzeitig anzeigen, wo sich Ungleichgewichte zusammenbrauen.