Warum der Egoismus-Vorwurf an Ungeimpfte so wenig bringt
Die Umsetzung einer allgemeinen Impfpflicht soll fünf bis sechs Monate dauern. Wer die Impfquote vorher deutlich erhöhen will, muss Überzeugungsarbeit leisten
Fünf bis sechs Monate kann es nach Aussage von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) bis zur Umsetzung einer allgemeinen Impfpflicht gegen das Coronavirus dauern. Einige der Bundestagsabgeordneten, die darüber ohne Fraktionszwang abstimmen sollen, sind sich noch nicht sicher, was die Frage der Verhältnismäßigkeit angeht, denn die Entwicklung, von der sie abhängt, ist momentan sehr dynamisch: Bis Mitte des Jahres könnten sich bereits alle infiziert haben, so schätzte Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie in Bremen laut einem tagesschau-Bericht im Januar die Lage ein.
Der Charité-Virologe Christian Drosten sieht das ähnlich und hat in diesem Zusammenhang betont, dass eine solche Durchseuchung "auf dem Boden der Impfung" weg von der Pandemie und in den "endemischen Zustand" führen könne.
Die im Durchschnitt milderen Verläufe bei der Omikron-Variante des Virus und eine Impfquote von aktuell 74 Prozent der Gesamtbevölkerung sowie knapp 76 Prozent "Erstgeimpften" geben Anlass zur Hoffnung, dass das Schlimmste vorbei sein könnte – wenn alle bisher Geimpften auch eine Auffrischungsimpfung erhalten haben, dürfte die Zahl der schweren Verläufe noch einmal zurückgehen – momentan sind 53 Prozent der Bevölkerung bereits "geboostert".
Wer dagegen völlig ohne Impfschutz dasteht, könnte ein Problem bekommen. Die Fachleute glauben inzwischen nicht mehr, dass sich Ansteckungen als solche mittel- und langfristig verhindern lassen, da die bisher bekannten Impfstoffe keine sterile Immunität erzeugen und auch Geimpfte das Virus weitergeben können.
Dieser Fakt ist auch unter Impfskeptikern bekannt – sie ziehen daraus nur andere Schlüsse als den, dass sie sich schon aus Eigeninteresse besser schützen sollten. Es spricht aus ihrer Sicht vor allem gegen ihren Ausschluss aus Kneipen und Restaurants durch "2G-" oder "2G-plus"-Regeln.
Angesichts der Vielzahl von Infektionen könnte es bis Mitte des Jahres trotz der im Durchschnitt milderen Omikron-Verläufe einige der Ungeimpften hart erwischen. Vorher wird aber eine allgemeine Impfpflicht nicht umsetzbar sein – egal, ob man sie begrüßen würde oder nicht.
Wer vor diesem Zeitpunkt die Impfquote deutlich erhöhen will, um unnötiges Leid zu verhindern und sicherzustellen, dass die Intensivstationen nicht überlastet werden, muss bei den Ungeimpften außerhalb des harten Kerns der Impfgegner und "Querdenker" auf eine intelligentere Überzeugungsarbeit setzen, als sie bisher zu großen Teilen in Politik und Medien geleistet wurde. Denn es gibt genügend sachliche Argumente für die Impfung.
Aus Egoismus auf die Intensivstation?
Klar ist: Der ständig wiederholte Vorwurf des Egoismus bringt es nicht. Egal, ob er von Berlins Regierendem Bürgermeister oder aus dem persönlichen Freundeskreis kommt. Selbst wenn manche der "stillen" Ungeimpften tatsächlich egoistisch eingestellt sind, bestätigt dieser Vorwurf in deren Augen nur die statistisch falsche Annahme, dass die Impfung ihnen selbst nichts bringe und vielleicht sogar mehr schade als nutze – dass also die Impfung ein Opfer sei, dass sie für Dritte erbringen sollen.
Wer die Impfung für gefährlicher hält als das Virus, weil er medizinische Desinformation glaubt, die das Nutzen-Risiko-Verhältnis ins Gegenteil verkehrt – oder zumindest denkt, dass da was dran sein könnte – wird sich aber nicht von dem Vorwurf beeindrucken lassen, er denke nur an sich selbst.
Es wäre auch falsch, so zu tun, als gehe es Menschen, die sich impfen lassen, weil sie es für medizinisch sinnvoll halten, dabei nur um das Wohl der Allgemeinheit und nicht auch um die eigene Gesundheit. Der Selbsterhaltungstrieb spielt auch bei der Entscheidung für die Impfung eine Rolle, wenn man es nicht nur tut, um in die Kneipe gehen zu können.
Der solidarische Effekt als Nebeneffekt des Eigenschutzes
Ja, es gibt bei den Impfungen nach wie vor einen solidarischen Effekt – aber nicht, weil sie so viele Infektionen verhindern – darauf ist nicht mal ansatzweise Verlass – sondern weil sie schwere Verläufe und damit die Überlastung der Intensivstationen verhindern. Der solidarische Effekt der Impfung ist eher ein Nebeneffekt des Eigenschutzes.
Wer sich nicht impfen lässt, rechnet aber in der Regel nicht damit, dass er oder sie deshalb auf die Intensivstation muss. Die meisten dürften das für sich nahezu sicher ausschließen. Der Vorwurf "Du bist ein Egoist, weil Du es darauf anlegst, ein Intensivbett zu blockieren" ist daher ein schwaches Argument.
Statt moralischer Maximal-Anklagen muss betont werden, dass das ungeimpfte Viertel der Bevölkerung auf deutschen Intensivstationen überproportional vertreten ist, worunter vor allem die Betroffenen selbst und deren Angehörige leiden – mehr als drei Viertel der symptomatischen Covid-19-Fälle auf Intensivstationen und 440 von 565 Verstorbenen waren laut dem letzten Wochenbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) ungeimpft.
Wovon sektenhafte Strukturen profitieren
Rund um den Erdball gibt es inzwischen Beispiele für Fehleinschätzungen des eigenen Immunsystems, die zum Tod geführt haben. So starb Ende letzten Jahres ein evangelikaler Prediger und überzeugter Impfgegner an Covid-19. Dies war nach Angaben seiner Ehefrau auch der Grund für seine Einlieferung ins Krankenhaus – keine zufällige Nebendiagnose.
Vergangene Woche berichteten mehrere Medien über den Tod tschechischen Folk-Sängerin Hana Horka, deren Sohn die Impfgegner-Szene für den Tod seiner Mutter verantwortlich macht, nachdem sie sich absichtlich mit dem Virus angesteckt habe.
Wer ein solches Risiko eingeht, lässt sich von irrationalen Ängsten leiten und glaubt, damit das kleinere Übel wählen. Dagegen hilft keine moralische Verurteilung. Moralisch schlecht ist, wer solche Ängste schürt, um sich zu profilieren und daraus in irgendeiner Form Kapital zu schlagen. Wer aber alle Ungeimpften mit den Demagogen der rechtsoffenen bis rechtslastigen Impfgegner-Szene in einen Topf wirft, tut dieser Szene nur einen Gefallen. Denn dadurch wird über den harten Kern hinaus eine Bunkermentalität erzeugt, von der sektenhafte Strukturen profitieren: "Siehst Du, sie grenzen Dich sowieso aus, also entscheide Dich jetzt für uns!"
Die Demagogen zu entlarven, ist eine Seite der nötigen Aufklärungsarbeit. Mindestens so wichtig ist aber das Erkennen der Gründe, warum Menschen anfällig für irrationale Ängste und Ideologien sind. Das hat viel mit Entfremdung und Vereinzelung im Kapitalismus zu tun.
Wer dagegen einfach nur staatstragend argumentiert, nachdem sich Spitzenpolitiker unglaubwürdig gemacht haben, indem sie beispielsweise eine Impfpflicht ausschlossen, die jetzt doch kommen soll, der oder die macht sich ebenfalls unglaubwürdig.
Die leichtfertige Behauptung, es werde keine Impfpflicht geben, hat im Augenblick der Kehrtwende dazu geführt, dass auch das Versprechen, es werde keinen direkten körperlichen Impfzwang geben, von vielen zuvor "nur" verunsicherten Menschen nicht mehr geglaubt wird. Glaubwürdige Überzeugungsarbeit kann daher kaum noch von Politikern geleistet werden, die mit dieser Kehrtwende in Verbindung gebracht werden. Umso mehr müssen Medienschaffende und Zivilgesellschaft sich anstrengen.