Warum die Armutsdefinition den Blick auf die Realität verzerrt

Seite 2: Extremer Reichtum fällt aus der Statistik

Ausgangspunkt ist nicht, über welche Mittel Menschen in diesem Lande warum verfügen. Mit der Untersuchung der Einkommenshöhe ist die Frage nach der Einkommensquelle gleich ausgeblendet:

Betriebsvermögen, die ebenfalls ein wichtiger Bestandteil des privaten Vermögens sind, werden in der EVS (Einkommens- und Verbrauchs-Stichprobe) nicht erhoben. Auch sind in der EVS grundsätzlich keine Vermögensinformationen zu Haushalten mit einem monatlichen Nettoeinkommen von über 18.000 Euro verfügbar.

Armuts- und Reichtumsberichte 2021

Man beschränkt sich auf die "Normalverdiener". Bei denen gehen die Armutsforscher davon aus, dass das Arbeitseinkommen nicht ausschließlich Quelle zum Unterhalt der Familie darstellt; es wird daher als Grundlage für die Berechnung genommen. Dabei gelten Einkommen aus der Grundsicherung (die man z.B. als Aufstocker bezieht) ebenso als Quelle wie Mieteinnahmen.

Weil Familien unterschiedlich groß sein können, wird das Ganze dann wieder pro Kopf umgerechnet, wobei nicht für jedes Mitglied des Haushalts der gleiche Bedarf angenommen wird. Es findet vielmehr eine Gewichtung statt, nach der Logik, dass die Politik bestimmt, was einem Kind oder Erwachsenen zusteht.

Das wird dann ins Verhältnis gesetzt zum Bundesmedian. Der wird oft fälschlich mit dem Mittelwert oder Durchschnitt gleichgesetzt. Bei einer Mittelwertbestimmung wird aber die Gesamtheit des Reichtums auf die Personen gleich verteilt, so ergibt sich der gemittelte Wert für den Einzelnen.

Bei der Medianbestimmung werden dagegen Grenzen bestimmt, über welches Einkommen das untere eine Prozent und die unteren zehn Prozent verfügen. Der Median bildet die Grenze zwischen den 50 Prozent ärmsten und den 50 Prozent reichsten Bürgern.

Bei dieser Rechenweise sinkt die Bestimmung der Mitte nach unten, weil die obere Hälfte sehr heterogen ist. Dort finden sich viele, die über kaum mehr Einkommen verfügen als die untere Hälfte, und wenige, die über sehr viel verfügen – was bei dieser Berechnungsweise herausfällt. Die hohen Einkommen der zehn Prozent höchsten Einkommen würden die Grenze nach oben verlagern, während sie in die Mittelwertberechnung mit eingeht.

Bei der Armutsgefährdungsberechnung in ihrer diffizilen Festlegung ist offenbar wichtig, sie nicht zu hoch anzusetzen, sonst würde ein zu großer Teil der Bevölkerung darunterfallen.

So werden die Armen mit den Armen verglichen und eine Grenzziehung bei 60 Prozent des Medians angesetzt. Der Kreis wird klein gehalten, "arm" und nur "möglicherweise arm" sind in der Statistik fein abgestuft und so wird noch einmal dafür gesorgt, dass Armut als eine Ausnahme erscheint und das Bild "unseres" Sozialstaats nicht beschmutzt wird.

Armut im kapitalistischen Alltag

Während die ideologischen Verrenkungen bei der Erfassung von Armut als Ausnahme und als zu reduzierende Größe vorherrschen, werden die gleichen staatlichen Stellen geständig, wenn es um die Verwaltung der Armut – idealisiert als Kampf gegen sie – oder um die sozialen Leistungen zu ihrer Betreuung geht:

Kampf gegen Armut – Finanzielle Hilfen durch den Staat: Um eine Mindestsicherung der Menschen in Deutschland zu gewährleisten, gibt es ein System finanzieller Hilfeleistungen des Staates.

Und die Liste ist lang – das zeigt eine ganze Kette von Ausnahmefällen, von den traditionsreichen Sozialstaatsabteilungen (siehe die Aufstellung bei Dillmann/Schiffer-Nasserie) bis zu den neuesten Erfordernissen (Beispiel Mindestlohn), die sich trotz aller altehrwürdigen Sozialstaatlichkeit immer wieder ergeben.

Die Liste erschöpft sich auch nicht in Zahlungen des Staates, sondern umfasst die gesetzlichen Pflichtversicherungen, die diejenigen zum Zwangssparen verpflichten, die als abhängig Beschäftigte vom Verkauf ihrer Arbeitskraft leben müssen, weil sie außer über sich über nichts weiter verfügen. Dieser Zustand der Mittellosigkeit gilt in dieser Gesellschaft als Normalfall und fällt daher nicht unter Armut.

Arbeitslosigkeit gilt als Sonderfall, normal soll sein, dass alle arbeiten, dafür sind die Bürger im Lande da. Versichern gegen Arbeitslosigkeit müssen sich jedoch alle, die von ihrer Arbeitskraft leben. Weil ihre Einkommensquelle von der Kalkulation anderer abhängig ist, bleibt die Existenz als abhängig Beschäftigter stets eine unsichere Angelegenheit. Weil das eigene Einkommen für die Sicherung dieses normalen Risikos nicht ausreicht, gibt es die gesetzlichen Pflichtversicherungen, die die betreffenden Beiträge gleich an der Quelle abkassieren.

Dass Menschen krank werden können, ist normal. In unserer Gesellschaft ist aber auch normal, dass damit gleich das Einkommen in Frage steht. Denn im Arbeitsvertrag ist Lohn an Leistung geknüpft.

Im Fall von Krankheit kann die laut Arbeitsvertrag zugesagte Leistung nicht erbracht werden. Ökonomisch also ein klarer Fall, d.h. ein Ausfall des Lebensunterhalts.

Zur Sicherung des Lebensunterhalts bedarf es deshalb einer Fülle von Gesetzen, damit Krankheit nicht gleich zur Existenzgefährdung für die Massen wird: Es bedarf der Ausnahmeregelungen – angefangen von der Begutachtung durch den Arzt, der die Arbeitsunfähigkeit als Ausnahmezustand vom Arbeitsvertrag feststellen muss.

Gesetzliche Lohnfortzahlung, Krankengeld und auch die medizinische Behandlung, die durch die Krankenkassen bezahlt wird, dokumentieren, wie wenig Sicherheit ein Arbeitsverhältnis bietet.

Mit dem Verlust der Arbeitsfähigkeit im Alter ist ebenfalls die Existenz bedroht und auch die Pflichtversicherung durch die Rentenversicherung schafft keine Sicherheit, wie die Diskussionen um die Altersarmut bezeugen. Doch nicht nur die Alten gelten als besonders armutsgefährdet, auch die Kinderarmut taucht immer wieder als besonderes Problem auf.

Wieso dies ein gesondertes Problem darstellen soll, wird normalerweise nicht thematisiert. Dabei müsste sich gleich die Frage stellen, wo diese Kinder denn leben. Doch wohl in armen Familien!

Die Trennung der Kinderarmut von der (sachlich vorausgesetzten) Armut der Eltern kommt einer Schuldzuschreibung gleich: Um die Kinder muss man sich kümmern, weil sie unschuldig in Armut geraten sind, während die Eltern wohl dafür Verantwortung tragen, da sie dem Nachwuchs diese Armutslage bereitet haben. Das braucht dann nur noch von der Boulevardpresse als Vernachlässigung der Erziehungspflichten in der "Unterschicht" mit grellen Berichten aufbereitet zu werden.

. Die Pflichtversicherungen schaffen keine Sicherheit und so gibt es zahllose weitere Sozialregelungen, die dokumentieren, dass ein Leben von Lohn und Gehalt eine Angelegenheit ist, die die Menschen immer wieder zu Verzicht und Einteilungskunststücken zwingt.

Kinder sind eine Armutsgefahr. Damit es dennoch Kinder gibt (und Deutschland nicht ausstirbt!), existieren Maßnahmen wie Kindergeld, bezahlte Erziehungszeiten und öffentliche Erziehungseinrichtungen. So können dann beide Elternteile arbeiten, denn ein Gehalt – das ist staatlich anerkannt – reicht zum Leben sowieso nicht.

Mieten verschlingen viel Geld und führen dazu, dass immer mehr Menschen an den Rand der Städte oder aufs Land gedrängt werden. Aber auch die Fahrt zur Arbeit und in die Stadt kostet, also braucht es eine Pendlerpauschale und Wohngeld. Denn sonst würden viele Mieten unbezahlbar.

Die Liste der besonders Armutsgefährdeten lässt sich, wie man sieht, beliebig verlängern. Wenn man nach Besonderheiten sucht, finden sich einschlägige Fälle in Hülle und Fülle. Die Fragestellung, die auf das Besondere geht, erklärt dann in den vielen Varianten die Armut zur Ausnahme von der Regel, auch wenn die Länge der Liste dem widerspricht.

Stolz wird dann darauf verwiesen, dass die Existenz eines jeden Bürgers in unserem Lande gesichert ist und niemand verhungern muss – alles Dank der ultimativen Schutzmaßnahme, der Grundsicherung.

Dass diese die Existenz nicht wirklich sichert, die Bezieher vielmehr zum Besuch der Kleiderkammern von Wohlfahrtsverbänden und der Tafeln nötigt, die Armenspeisung bieten, fällt dabei unter den Tisch. Und auch das skandalöse Faktum, dass mittlerweile eine nicht unerhebliche Zahl von Menschen von der privaten Wohltätigkeit abhängig gemacht ist.

Es ist schon grotesk: All diese zahlreichen Maßnahmen sollen immer nur eins belegen, dass der betreffende Fall eine Ausnahme darstellt. Eine Ausnahme von dem Sachverhalt, dass es den Menschen in Deutschland gut geht. Unter Fakenews fällt das, was das Zusammenspiel von Politik, Expertentum und interessierter Öffentlichkeit hier zustande bringt, allerdings nicht!