Warum die Wissenschaft nicht frei ist

Seite 3: Moden bestimmten den Ton

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Ich schrieb hier kürzlich über Fachleute aus der Primatenforschung, die das Publikationswesen kritisierten: Würde man nämlich herausfinden, dass Tiere dem Menschen ähneln, dann ließe sich das leichter in führenden Fachzeitschriften publizieren; der Befund, dass Tiere etwas nicht können, sei demgegenüber schwer zu publizieren (Wie ähnlich sind Tiere und Menschen?).

Dabei ist diese Frage nicht nur aus purem Erkenntnisinteresse, sondern auch für unser Menschenbild und die Ausformung des Tierschutzes von Bedeutung. Die von den Forscherinnen und Forschern genannte Verzerrung dürfte darauf zurückzuführen sein, dass die Editors provokantere Ergebnis bevorzugen. Damit lässt sich immerhin mehr Aufmerksamkeit erzielen und damit kommt man in die Medien. Man denke zum Vergleich noch einmal an die Willensfreiheitsdebatte, die jahrelang trotz offensichtlicher Substanzlosigkeit sowohl wissenschaftliche Fachzeitschriften als auch Feuilletons füllte.

Auch die Physik ist betroffen

Man sollte nicht denken, dass die Physik, manchmal als "Mutter aller Wissenschaften" oder "harte Wissenschaft" verehrt, von solchen Einflüssen und Moden frei wäre. So antwortete etwa Michael Krämer, Professor für Theoretische Teilchenphysik und Kosmologie an der Universität Aachen, kürzlich im Interview mit Spektrum der Wissenschaft auf die Frage nach dem Einfluss "soziologischer Faktoren" auf die Wissenschaft:

Es stimmt, dass man insbesondere in Drittmittelprojekten oft Themen bearbeitet, die entlang des wissenschaftlichen Mainstreams laufen. Auch der Wettbewerb zwischen Universitäten trägt dazu bei. In welche Richtungen geforscht wird, wird zum Teil von außerhalb der Wissenschaft vorgegeben, etwa von der EU oder vom deutschen Forschungsministerium. … Manchmal denke ich schon: Wenn ich Fördergelder möchte, muss ich bei diesen Dingen mitmachen.

Michael Krämer

Dabei sollte man bedenken, dass sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in den Medien eher zurückhaltend ausdrücken. Das gilt allgemein für öffentliche Kritik: Die oder der Kritisierte könnte ja das nächste Gutachten schreiben, von dem der eigene Werdegang abhängig ist. Dann sind wir wieder bei den Missbrauchsmöglichkeiten angekommen, die oben diskutiert wurden.

Abweichen vom Mainstream

Man sollte sich fragen, ob dieses Regime der Qualitätskontrolle und des Wettbewerbs nicht unterm Strich Erkenntnisse eher behindert oder gar verhindert als sie zu ermöglichen. Was wäre denn so schlimm daran, mehr Kreativität und vor allem mehr Abweichler vom Mainstream in der Wissenschaft zuzulassen?

Große Vorbilder wie Galileo, Darwin oder Einstein galten lange Zeit auch als umstritten, bis man ihnen schließlich Recht geben musste. Die Wissenschaftsgeschichte hat Zeit, doch für die Menschen von heute wäre es doch schön, wenn manche wichtige Erkenntnisse nicht erst sehr viel später in die Diskussion kämen.

Alternative Buch

Charles Darwin war bekanntlich Privatgelehrter. Als Spross einer wohlhabenden Familie konnte er sich diesen Luxus erlauben. Dies gab ihm aber auch die Freiheit, seine Ideen in aller Ausführlichkeit in Büchern auszuarbeiten - die im Übrigen bis heute gelesen werden -, nicht nur in kurzen wie kurzlebigen Zeitschriftenartikeln.

Das Medium Buch sollte man daher keinesfalls totsagen. Hierin können Forscherinnen und Forscher noch am ehesten frei schreiben, was sie denken; und auch in dem Umfang, den sie selbst für angemessen halten. Hauseigene Verlage der Universitäten sollten die Bücher den Steuerzahlerinnen und -Zahlern zudem kostenlos (zumindest als eBook) zur Verfügung stellen, also denjenigen, die den ganzen "Spaß" ohnehin finanzieren.

Alternative Neue Medien

Zum Schluss sei auch einmal das Vorbild Telepolis erwähnt: Hier macht eine Redaktion seit vielen Jahren mit minimalsten Eingriffen Wissen frei zugänglich, das in einigen Fällen, man denke etwa an Markus Kompas' historische Untersuchungen über Geheimdienste, wissenschaftlichen Charakter aufweist.

Auch mein Blog wurde gerade zehn Jahre alt (Zehn Jahre Menschen-Bilder). Darin wurden vielleicht keine großen Erkenntnisse publiziert, wohl aber Ideen besprochen, die wiederum meine Forschung voranbrachten und vielleicht auch die anderer.

Wagen wir mehr Freiheit

Kurzum, das gegenwärtige Publikationswesen in der Wissenschaft fördert nicht die Freiheit, sondern erschwert sie in vielen Fällen. Die Möglichkeiten systematischen Missbrauchs habe ich hier nur kurz angerissen; sie und andere Mängel wurden von anderen ausführlicher dokumentiert (siehe etwa How science goes wrong oder Rettet die Wissenschaft!).

Mehr Freiheit würde bedeuten, vielleicht ein paar falsche Ideen mehr in Kauf zu nehmen. Warum wäre das so schlimm, wo das heutige System doch sowieso überwiegend Fehler produziert? Gerade in Zeiten immer neuer Krisen und Herausforderungen brauchen wir weder in der Gesellschaft noch in der Forschung immer mehr vom Gleichen, sondern wirkliche Innovation und neue Erkenntnisse aus allen Disziplinen!

Postskriptum: Ich habe die Lehre als "Armutsfalle" bezeichnet, die die Forschungsleistung reduziert. Seit ca. 2003 hielt ich als Student die ersten Tutorien über Argumentationstheorie oder Algorithmen. Als Doktorand unterrichtete ich danach (freiwillig) interdisziplinäre Seminare. Seit 2010 haben über 2.000 Psychologiestudierende und Dutzende anderer Fächer bei mir studiert. Dass ich von der Armutsfalle rede, meine ich keineswegs geringschätzend; im Gegenteil war es für mich immer eine große Freude und ein Privileg, mit den jungen Menschen an der Universität zusammenarbeiten zu dürfen. Es hat mich oft vor Herausforderungen gestellt aber auch als Mensch weiter gebracht. Diese Erfahrungen möchte ich um nichts in der Welt missen!

Meine Kritik richtet sich also nicht gegen die Lehrverpflichtung selbst, sondern gegen ihre Vernachlässigung für das berufliche Vorankommen. Unter den heutigen Regeln ist sie faktisch ein Klotz am Bein auf dem Weg zur festen Stelle. Das darf so nicht sein und verkennt eine der wesentlichen Aufgaben der Universität.

Stephan Schleim ist promovierter Kognitionswissenschaftler und Assoziierter Professor für Theorie und Geschichte der Psychologie an der Universität Groningen (Niederlande). Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.

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