Warum man Burn-out nicht als Modeerscheinung abtun sollte
Seite 3: Beispiel Burn-out
Bergmann kommt schließlich von der Neurasthenie zum Burn-out: "Heute gilt das Syndrom als die Managerkrankheit - und wie früher die Neurasthenie als Plage der modernen Arbeitswelt. Die Parallelen sind frappierend: Beides sind Leiden gehobener Schichten mit einem gewissen Exklusivitätsanspruch."
Der Journalist verweist hier zwar korrekt auf die Arbeiten des klinischen Psychologen Herbert J. Freudenberger, der übrigens als jüdisches Kind in die USA floh, nachdem Nazis Mitglieder seiner Familie misshandelt hatten. Bergmann verpasst hier aber die eigentliche Pointe, für die man den historischen Kontext verstehen muss:
Freudenberger veröffentlichte 1974 die bis heute vielfach zitierte, meines Wissens erste psychologische Arbeit zum Thema Burn-out. Warum tat er das? Er hatte jahrelang wie viele andere Freiwillige in Kliniken zur Behandlung von Armen und Drogenabhängigen gearbeitet, dem sogenannten Free Clinic Movement. Dessen Patienten waren so stigmatisiert und gesellschaftlich ausgegrenzt, dass sie in herkömmlichen medizinisch-psychologischen Institutionen wenig Hilfe bekamen oder sie sich schlicht nicht leisten konnten.
Nun arbeiteten viele dieser Freiwilligen unter schweren Bedingungen oft bis zur Erschöpfung, um etwas für diese Mitmenschen zu bedeuten, für die sie die einzige beziehungsweise letzte Hilfe waren. Da überrascht es wohl kaum, dass so viele der Helferinnen und Helfer in einen Erschöpfungszustand kamen, dass man dem Problem schließlich einen Namen gab: eben Burn-out.
Es mag ja so sein, wie Bergmann kritisiert, dass nun gewiefte Geschäftsleute wie der emeritierte Psychologieprofessor Matthias Burisch, der eine Privatklinik zur Behandlung von Burn-out unterhalten soll, oder der bereits erwähnte Jon Kabat-Zinn auf diesen Zug aufspringen. Aber das Entscheidende ist doch, dass dadurch die Probleme der Menschen, um die es geht, nicht weniger real werden.
Auf dem falschen Gleis
Dass der Journalist auf dem falschen Gleis ist, äußert sich vor allem in seiner Schlussfolgerung: "Mit Abstand betrachtet scheinen solche Modekrankheiten hauptsächlich aus viel Lärm um nichts zu bestehen, was besonders bei der Neurasthenie augenfällig wird: Was soll man von einer epidemisch auftretenden Krankheit halten, die sich einfach so in Luft auflöst?"
Wie ist jetzt bitteschön Personal aus den Heil- und Lehrberufen, in denen Burn-out traditionell am häufigsten auftritt, damit geholfen, seine Probleme als heiße Luft - "viel Lärm um nichts" - vom Tisch zu fegen? Dass so ausgerechnet diejenigen behandelt werden, die in großer Selbstaufopferung für Andere sorgen, halte ich schlicht für unmenschlich und empathielos.
Bergmanns Kardinalfehler besteht aber darin, dass er die Probleme der Menschen und die psychologischen Symptome, die damit einhergehen, nicht getrennt von den Bemühungen sehen kann, diese Probleme und Symptome in diagnostische Kategorien einzuordnen. Das Eine hat mit der psychologischen - oder man könnte auch sagen: phänomenalen - Lebenswelt der Menschen zu tun, das Andere mit der Abstraktion, die Fachleute und in ihrer Folge Medienleute daraus machen.
Jede Zeit hat ihre Sprache
Oder um es anders aufzuzäumen: Mein niederländisches Wörterbuch kennt zum Beispiel ein "KZ-Syndrom", definiert als "körperliches und psychisches Leiden von Menschen, die (im Zweiten Weltkrieg) in einem (Deutschen) Konzentrationslager saßen." Die Kriegszitterer (auch: "Schüttelneurotiker" oder "Granatschock", englisch "Shell shock") auf Seiten der Soldaten wurden schon erwähnt. Im Zusammenhang mit den Kriegen der 1990er Jahre sprach man dann vom Golfkriegs- oder Balkan-Syndrom. Heute redet man allgemeiner von der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS).
Auch wenn sich die Art und Weise, wie wir über die Probleme der Menschen reden, im Laufe der Zeit ändert, sind diese Probleme darum doch nicht eingebildet. Auch die Verwendung und Funktion von Wörtern der Alltagssprache verändert sich im Laufe der Zeit. Daraus folgt aber nicht, dass die Dinge oder Vorgänge, auf die diese Wörter sich bezogen, Illusionen waren.
Bergmanns Kritik an so manchem Psycho-Guru, der, wie wir gesehen haben, nicht unbedingt "Psycho" ist, mag berechtigt sein. Aber überall, wo es ums Geld geht, gibt es leider auch Betrüger und Trittbrettfahrer. Darum aber die Psychologie als ganze diskreditieren zu wollen und die Probleme der Menschen als Hirngespinste abzutun, ist ein Bärendienst an den Betroffenen und schüttet das Kind mit dem Bade aus.
Psychologie und Individualisierung
Ein letztes Eigentor schießt der Journalist am Ende seines Artikels, wo er noch die gesellschaftspolitische Dimension seiner Kritik anspricht:
Am problematischsten ist die mit dieser Art Zivilisationskritik verbundene Aufforderung zum Tanz um das Ich: Sowohl Probleme als auch Lösungen werden ausschließlich im Individuum gesucht. Wer unter einem Burnout leidet, bekommt eine Therapie, wer sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren kann, ein Achtsamkeitstraining. Dass sich auf diese Weise gesellschaftliche Probleme lösen lassen, muss bezweifelt werden.
Jens Bergmann, 2019
Diese Schlussfolgerung hat zwar einen wahren Kern und auch ich verwies immer und immer wieder auf die Gefahr, über psychiatrische bzw. psychologische Diagnosen gesellschaftliche Probleme im Individuum zu verorten (Wenn Psychologie politisch wird: Milliarden zur Erforschung des Gehirns). Nun sind aber gerade die Stress-Störungen wie Burn-out oder PTSB eine Ausnahme, da man die Ursache hier ja tatsächlich in der Umwelt der Betroffenen verortet.
Dass die häufig durch die Unternehmen angebotenen Kurse dann doch wieder aufs Individuum zielen, also auf den einzelnen Arbeitnehmer, steht auf einem anderen Blatt. Kaum geholfen dürfte den Betroffenen aber damit sein, dass man ihnen weismachen will, ihre Probleme seien bloß eingebildet, von Psychologen erfundene "Zivilisationskritik".
Giftiges Männlichkeitsideal
Zwischen den Zeilen des Artikels von Jens Bergmann oder auch des eingangs erwähnten Artikels über Hypochondrie von Jan Schweizer äußert sich für mich aber auch ein giftiges Männlichkeitsideal, das sich so ausdrücken lässt: "Jammere nicht!" Da psychisches Leiden weniger greifbar ist und gerade viele Männer nicht lernen, über ihre Gefühle oder psychischen Probleme zu reden - weil sie beim ersten Versuch gleich ausgelacht oder auf andere Weise nicht ernst genommen werden -, muss es sich nach dieser Logik bei Belastungserscheinungen um Einbildungen handeln.
Eine andere Formulierung ist das berühmte Zitat: "Was mich nicht umbringt, macht mich stärker." Ursprünglich stammt es aus Friedrich Nietzsches "Götterdämmerung", also von dem Philosophen, der mit 55. Jahren - wahrscheinlich an den Spätfolgen der Syphilis - erbost im Irrenhaus starb. Auch die Hitlerjugend bediente sich dieses Spruchs in ihren Zentren.
Wenn wir das nächste Mal wieder wegen eines "Unfalls mit Personenschaden" auf einen Zug warten, also sich wahrscheinlich ein Mann in Verzweiflung das Leben genommen hat, dann denken wir vielleicht daran: Dass es oft besser ist, über Gefühle oder psychische Probleme zu reden, als dies alles schlicht als "Psycho-Geschwafel" zu diffamieren.
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.