Warum wir frei sind

Seite 2: Wann erfahre ich von meinen Entscheidungen?

Auch eine zweite Quelle der Verwirrung über Willensfreiheit ist den Neurowissenschaften zuzuschreiben. In berühmten Experimenten hat Benjamin Libet gezeigt, dass das elektrische Bereitschaftspotential im Motorkortex, das einer Bewegung vorangeht (oder sie auslöst), schon rund 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung zu dieser Bewegung beobachtet werden kann.

Die Entscheidung fällt also bereits - späteren Forschungen nach sogar bis zu zehn Sekunden - lange bevor der Handelnde sich ihrer bewusst wird.

Diese Beobachtung wird gemeinhin als Herausforderung für die Idee des freien Willens wahrgenommen. Sie scheint einerseits zu zeigen, dass "mein Gehirn" entscheidet, ohne dass "ich" einen Einfluss darauf hätte: Der darin versteckte Denkfehler wurde oben bereits behandelt. Verwirrend, vielleicht auch verunsichernd, ist andererseits aber auch der Eindruck, dass mein bewusstes – meist sprachliches – Grübeln und Abwägen nicht die Ursache meiner Entscheidungen zu sein scheint, sondern eher sogar umgekehrt.

Was habe "ich" eigentlich zu sagen, wenn ich erst nachträglich von meinen Entscheidungen erfahre? Wie soll ich es verstehen, dass theoretisch (hinreichende Signalschärfe vorausgesetzt) der Experimentator, der live meine Scannerdaten beobachtet, mir in aller Ruhe "Sie werden gleich links drücken" sagen kann - während ich noch weder ob noch was weiß?

Aber die Künstlichkeit der Laborbedingung lässt vergessen, was Entscheidungen eigentlich sind. Als Lackmustest der Willensfreiheit fragen Philosophen gerne: Hätte der Handelnde in derselben Situation auch anders entscheiden können? Nur wenn die Antwort "ja" lautet, wäre er demnach frei; "nein" macht ihn unfrei.

Doch das ist Unfug. Die richtige Antwort auf die Frage lautet weder "ja" noch "nein", sondern: "Warum?"

Mit "derselben Situation" meint der Philosoph tatsächlich und wörtlich dieselbe Situation: die völlige Identität aller inneren und äußeren Weltzustände. Filmisch betrachtet keine Zeitschleife, keinen Murmeltiertag, sondern einen Rewind bis zu der fraglichen Stelle. Nichts hat sich geändert. Der Handelnde hat kein neues Wissen, keine zusätzlichen Erfahrungen, keine andere Stimmung. Warum sollte er sich anders entscheiden?

Entscheidungen sind kein Münzwurf: Kopf - aber es hätte auch Zahl sein können. Nein! Entscheidungen haben eine Vorgeschichte. Sie sind das Ergebnis von Erfahrungen, Erinnerungen, Nachdenken, Abwägen, Einschätzungen und aktuellen Stimmungen.

Aus diesem umfangreichen Prozess des ganzen Körpers entsteht die Vorliebe für "Kopf". Gewiss hätte auch "Zahl" herauskommen können – wenn, ja, wenn in diesem Prozess nur irgendetwas anders gewesen wäre. Die Vorstellung dagegen, das Hirnkastl wäre eine Art Schrödingerscher Kiste, die in derselben Situation mal eine tote und mal eine wütende Katze ausspuckt, ist absurd.

Außerhalb des Labors verliert die Erkenntnis, dass Entscheidungen unbewusst angebahnt werden, daher sogleich ihren Schrecken. Tatsächlich haben wir seit Freud, wenn nicht gar seit Schopenhauer und den Romantikern, gewusst, dass Entscheidungen außerhalb des Bewusstseins reifen. Erstaunlich ist allenfalls, dass die völlig belang- und folgenlose Wahl zwischen einem Knopfdruck links und einem Knopfdruck rechts mehrere Sekunden Vorlauf hat. Bei größeren, lebensnäheren Entscheidungen hat hingegen fast jeder schon erfahren, wie lange sie einen quälen können.

Und wer sich kennt, weiß, dass das bewusste Nachdenken nur einen kleinen Teil zum Ergebnis beiträgt. Am Ende entscheidet "der Bauch", beziehungsweise laut Antonio Damasio die "somatischen Marker": Unbewusste, auf Heuristiken und Faustregeln beruhende Wertungen, die sich körperlich äußern, und auf diesem Umweg vom unteren Stirnhirn als Signal berücksichtigt werden.

Tatsächlich kommt uns die Vorstellung verschroben vor, es zu machen wie Charles Darwin, der vor der Entscheidung zur Heirat säuberlich in zwei Spalten Pro und Contra aufschrieb und abwog. Man möchte nicht annehmen, dass der Entschluss tragfähig war, wenn er nicht auch den Gefühlen des Gelehrten entsprach.

Eher diente seine Tabelle dazu, herauszubekommen, was er innerlich wollte: So wie man, wenn man sich nicht zu entscheiden weiß, eine Münze wirft - und dann nicht nach dem Ergebnis handelt, sondern danach, ob man damit zufrieden ist oder nicht.

Die Entscheidung bildet sich im Unbewussten. Grübeln und Selbstgespräche sind das Sonar, das sie in der Tiefe aufspürt und erkennbar macht.

Ganz rational

Im Grunde wurzelt das Unbehagen, das determinierte, unbewusste Entscheidungen auslösen, in einem verengten Rationalitätsbegriff. Der Mensch, und gerade der abendländische Mensch, und schon gar der Akademiker, möchte sich gerne als vernünftig sehen. Was "vernünftig" oder "rational" bedeutet, ist eine andere, verknäuelte Debatte, aber im allgemeinen Verständnis ist es so etwas wie: logisch aus Begriffen herzuleiten.

Wie schon Kant sagte: "Die Vernunft ist das Vermögen der Begriffe." Für vernünftig, und mithin für "gut", halten wir daher Entscheidungen, die wir im bewussten, sprachlichen Nachdenken erarbeitet haben. Und lehnen daher die Vorstellung ab, dass diese Vernunftsleistung keine wirksame Rolle spielen solle.

Vernünftig aber kann viel mehr sein. In einer Notsituation reflexhaft zu reagieren, statt erst lange Analysen durchzuführen, ist sehr vernünftig. Ebenso, Alltagsentscheidungen nach Gewohnheit und Neigung zu treffen, statt Energie mit Erwägungen zu verschwenden.

In Beziehungsfragen auf die Gefühle zu hören, ist zweifellos vernünftig. Trost und Handlungsmut im Gebet zu suchen, wo die Wirklichkeit das Denken überfordert, ist es wahrscheinlich auch. Die Evolution, die ganze Natur funktionieren sehr rational - und verfügen doch über keinerlei Begriffe.

Wir brauchen einen erweiterten Begriff von Rationalität. Einen, nach welchem die unbewussten, körperlich gestützten Entscheidungen vernünftig sind, weil sie Wirksamkeit und Überleben in der Welt ermöglichen. So können wir uns identifizieren mit dem Willen unseres ganzen Körpers, der im Ganzen rational handelt, anstatt nur mit dem Knistern in unseren sprachlich-assoziativen Hirnrindengebieten.

Letzteres ist dabei nicht sinnlos. Erstens trägt es zur Entscheidung bei, zweitens hilft es, wie schon gesagt, sie zu entdecken. Und drittens ermöglicht das sprachliche Denken, sich eine Entscheidung nachträglich anzueignen, wie Peter Bieri es nennt. Bisweilen können wir uns fragen: Was hat mich da geritten? Warum habe ich in jener Situation so oder so entschieden? Woher der Fehler, woher der Glücksgriff?

Dann kann ein – womöglich langer – Prozess der Selbstanalyse beginnen, in welchem verborgene Ängste, Vorurteile, Stärken zum Vorschein kommen. Mühsam wird der dunkle Prozess der Entscheidungsfindung ans Licht der Sprache geholt und im engeren Sinne "rationalisiert". Das Wundern ist stets der Beginn der Erkenntnis, daher das Staunen über sich selbst der Weg zur Selbsterkenntnis.

Gewinnen können wir dadurch die einzige Form von "Freiheit", auf die es in dieser Debatte ankommt: die Freiheit von jenen Motivationen (Trieben, Ängsten, Kurzschlüssen), die wir in uns ablehnen, die wir nicht als Teil unseres Selbst akzeptieren wollen – sei das eine Neurose, ein indoktriniertes Glaubenssystem, eine Sucht oder eine Charakterschwäche.

Denn einschränken kann unsere Freiheit nur etwas, das nicht Teil von uns selbst ist: der Angreifer mit der Waffe, die Regierung, die Krankheit, der unbeherrschbare Trieb. Jede Entscheidung hingegen, die wir ungezwungen, im Einklang mit unseren Wertvorstellungen und unserem aktuellen Weltwissen, aus unserer ganzen, integrierten Persönlichkeit heraus fällen, ist frei. Dass sie auch determiniert ist, tut nichts zur Sache.

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