Was der Neoliberalismus im Alltag bedeutet
Seite 2: Rückbesinnung auf traditionelle Werte
- Was der Neoliberalismus im Alltag bedeutet
- Rückbesinnung auf traditionelle Werte
- Fragwürdige Anpassungsversuche der Linken
- Fokussierung auf den Kampf gegen den Neoliberalismus
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Neben dem Unmut über neoliberal geprägte Umgangsformen sind es vor allem die enttäuschten Versprechungen einer Verbesserung der materiellen und sozialen Lage, die zu wachsender Unzufriedenheit führen. Hinzu tritt ein Gefühl von Ohnmacht, nachdem über einen längeren Zeitraum solidarisches Verhalten erstickt und dessen gesellschaftliche Instrumente geschwächt wurden.
Für jene, die sich aus Ängstlichkeit oder aus Mangel an Kompetenz vor einem politischen Engagement scheuen, verbleibt die Stimmabgabe bei Wahlen als einzige Protestform. Dass verbitterte Wähler im Westen weitaus zahlreicher für Rechtspopulisten anstatt für Vertreter der Linksparteien votieren, hat mehrere Ursachen.
Forderungen nach einer Rückkehr zu Verhältnissen der Vergangenheit, die als intakt wahrgenommenen werden, erwecken verständlicherweise Vertrauen. Dabei wird vielfach übersehen, dass sich Parteien mit konservativ-nationalem Anspruch gegen emanzipatorische Errungenschaften wie die Gleichstellung der Frauen, die Akzeptanz sexueller Minderheiten und eine kulturelle Vielfalt durch Zuzug ausländischer Staatsbürger positionieren. Dies ist gleichwohl ein gewichtiger Grund, weshalb sie ins Fadenkreuz liberal gesonnener Vertreter aus Politik und Medien geraten.
Da vom Rechtspopulismus andererseits kaum Widerstand gegen die neoliberale Agenda zu erwarten ist, wird er seitens der Elite als Auffangbecken von Proteststimmungen favorisiert und entsprechend hoffähig gemacht
Dagegen erscheinen linke Parteien angesichts ihrer Anpassungsbereitschaft als staatskonform, was Wähler mit Wunsch nach grundlegenden Veränderungen von einer Unterstützung abhält. Indem die Linke das westliche Werteverständnis demonstrativ mitträgt, verbaut sie sich selbst den Weg zu Alternativen jenseits des Neoliberalismus und verspielt tendenziell ihre Glaubwürdigkeit.
Das ideologische Fundament des Rechtspopulismus ist der Nationalismus. Bei der Trump-Regierung und den Brexit-Befürwortern artikulierte er sich in der Forderung nach Wiederherstellung der Größe der Nation. Es sollte Nationalgefühl geweckt und die Unternehmen zu einer Rückverlagerung von Produktionsstätten veranlasst werden.
Indes gelang es nicht, die Bürger für nationale Projekte zu begeistern, da sie auf den täglichen Überlebenskampf im neoliberalen Umfeld fokussiert waren und somit andere Sorgen hatten. Ebenso wenig ließen sich die Kapitaleigner mittels patriotischer Appelle zu Entscheidungen bewegen, die Gewinnverzicht impliziert hätten.
Erfolgreicher erwiesen sich nationale Orientierungen in Ungarn und Polen, wo traditionelle Strukturen und Denkweisen stärker erhalten geblieben sind. Der Einzug der neoliberalen Ideologie erfolgte zudem zügiger und war dadurch evidenter, was den Widerstand anfeuerte. Da ein Zurück zum Sozialismus ausgeschlossen war, gelangten die Kirchen als Moralträger in eine dominante Position.
Eine vergleichbare Entwicklung ist in Russland zu beobachten, wo die orthodoxe Kirche ihr gesellschaftliches Gewicht im Zuge der Wiederbelebung traditioneller Werte vergrößern konnte. Noch stärker hat der religiöse Einfluss in muslimischen Ländern zugenommen, besonders im Iran und in der Türkei, aber auch in Nordafrika und in einigen südasiatischen Ländern. Ebenfalls wurde Indien von einer religiös fundierten Neuorientierung erfasst.
Dass mit der Zurückweisung neoliberaler Wertvorstellungen vielerorts emanzipatorische Errungenschaften revidiert werden, ist dadurch zu erklären, dass Repräsentanten von Glaubensgemeinschaften und anderen konservativen Gruppierungen in Machtpositionen aufgestiegen sind.
Haben sie unter der Herrschaft der neoliberalen Elite eher ein Schattendasein geführt, so können sie nun ihre Weltanschauungen propagieren und zur Richtschnur erheben. Auch wenn ein bedeutender Bevölkerungsteil solche Ansichten nicht teilt, werden sie im Vergleich zu neoliberal geprägten Werten als kleineres Übel angesehen.
In China gab es keine vergleichbaren Reaktionen, als neoliberale Prinzipien wie Marktorientierung und Egozentrismus durch Appelle an konfuzianischen Tugenden zurückgedrängt wurden. Der Grund dürfte sein, dass das eigene Wertesystem trotz Übernahme westlicher Praktiken und Denkweisen in seinen Grundzügen erhalten blieb.
Dies ist wie in den Nachbarstaaten Japan, Korea und Vietnam durch ein hohes gesellschaftliches Verantwortungsbewusstsein geprägt, das der Tradition des nördlichen Buddhismus entstammt. Da dieser eher philosophisch als religiös ausgerichtet ist, gibt es weniger Widerstand gegen eine Übernahme wissenschaftlicher Erkenntnisse und emanzipatorischer Inhalte als in anderen Weltregionen.
Ein säkulares Wertesystem, das eine Alternative zum Neoliberalismus darstellen könnte, ist vor der Wende in der DDR entstanden. Nach dem Zusammenbruch der SED-Herrschaft waren die Bemühungen führender Köpfe der Opposition, den eigenen Staat zu erhalten und nicht durch die westdeutsche "Ellbogengesellschaft" geschluckt zu werden, angesichts der desolaten wirtschaftlichen Lage zum Scheitern verurteilt.
Es dürfte kaum ein geeigneteres Objekt aus der jüngeren europäischen Geschichte für ein alternatives Wertekonzept geben. Dabei beschränken sich die Verdienste der DDR-Führung darauf, Rahmenbedingungen zu dessen Herausbildung geschaffen zu haben. Ihre Herrschaftspraxis hat indessen eine Umsetzung auf vielfältige Weise erschwert.
Vertreter der Linken scheuen sich vor einer positiven Beurteilung von DDR-Erfahrungen, da sie befürchten, als SED-Sympathisanten stigmatisiert zu werden. Zudem dürfte manches historisch überholt sein, da seit der Wende mehr als 30 Jahre vergangen sind. Gleichwohl ist genügend Zeit verstrichen, sodass es möglich sein sollte, das Wertemodell der damaligen DDR unvoreingenommen zu studieren.