Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß

Eine verantwortliche Politik hätte sich bemüht, ein möglichst genaues Bild von den negativen Folgen eines Lockdowns zu verschaffen

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Nur wenige Tage vor dem deutschen Lockdown warnte der Philosoph Julian Nida-Rümelin: "Man darf ökonomische Aspekte nicht abwägen gegen Menschenleben. Aber man darf durchaus prüfen: Handeln wir kohärent? Es kann nicht sein, dass man versucht, bestimmte Risiken, die vielleicht viel niedriger sind als andere, unter extremen Kosten zu vermeiden, und andere Risiken als selbstverständlich hinzunehmen. Das geht nicht. Wir müssen schon eine ungefähr kohärente Praxis etablieren, und die Frage ist berechtigt, ob wir im Falle von Covid-19 diese Abwägung richtig vornehmen und vor allem dosiert genug einsetzen."

Zwei Wochen nach Beginn des Lockdowns wiederholte der Experte für Risikoethik die Bedeutung der Abwägung: "In einer so ernsten Situation, in der wir gegenwärtig sind, kann man es sich nicht leisten, Risiken extrem ungleich zu behandeln. Und wenn man hinzufügt, dass jeder, der ein bisschen die Ökonomie und die ökonomischen Gesetze kennt und weiß, dass ein Shut-down über Monate hinweg einen derart massiven Schaden verursachen würde, von dem sich dieses Land und andere Länder nicht mehr so rasch würden erholen können, der muss abwägen."

Ende April zeigte Nida-Rümelin einmal mehr die Bedeutung der Abwägung in einem Corona-Tagebuch für das ZDF. Er betonte, dass die Krise ökonomische, soziale und kulturelle Aspekte hat. Er forderte, sowohl den Gesundheitsschutz der Bevölkerung zu verfolgen, als auch die Gesellschaft möglichst vital zu halten: "Es wäre eine Sackgasse auch in der öffentlichen Diskussion, wenn wir das Eine, die Vitalität der Ökonomie des sozialen Lebens, der Kultur, und das Andere, den Gesundheitsschutz gegeneinander ausspielen."

Wer keine Fragen stellt, erhält auch keine Antworten

Die Notwendigkeit der Abwägung von Risiken ist ein zentraler Bestandteil der Risikoethik. Aber auch ohne philosophische Fachkenntnisse weist der gesunde Menschenverstand auf die geradezu existentielle Bedeutung der Einschätzung und Abwägung der Risiken hin. Angesichts des sich ausbreitenden Covid-19-Virus stand die deutsche Regierung spätestens Anfang März, wie so viele andere Regierungen auch, vor der entscheidenden Frage, welche Maßnahmen sie angesichts der gegenwärtigen Krise treffen sollte.

Selbstverständlich wurden Prognosen an Epidemiologen und Virologen in Auftrag gegeben, um das Risiko der sich ausbreitenden Infektion möglichst genau einschätzen zu können. Aufgrund der wissenschaftlichen Prognosen wurde schließlich der Lockdown als eine Art ultima ratio beschlossen (dessen vorübergehende Notwendigkeit Nida-Rümelin keineswegs bestreitet). Aber erstaunlicherweise unternahm die deutsche Regierung - außer der Berechnung des zu erwartenden Wirtschaftseinbruchs - offiziell keinerlei Versuch, wissenschaftliche Prognosen über die negativen Folgen eines möglichen Lockdowns zu erhalten. Damit ließ sie aber die Forderung der Risikoethik nach möglichst genauer Einschätzung eines Risikos außer Acht, so dass eine Abwägung gar nicht stattfinden konnte. Frei nach dem Motto: Was ich nicht weiß, das macht mich nicht heiß.

(Da das Bundesinnenministerium betont, die Analyse von Stefan Kohn, einem ehemaligen Referatsleiter, sei auf dessen Eigeninitiative und nicht im Auftrag geschehen und daher eine Privatmeinung, gibt es offiziell keinen Versuch der Einschätzung der negativen Folgen des Lockdowns.)

Eine verantwortungsvolle Politik hätte aber zwingend versuchen müssen (auch im Verlauf des Lockdowns), die negativen Folgen des Lockdowns einzuschätzen und daher Experten beauftragen müssen, Antworten auf Fragen wie diese zu finden:

  • Wie viele Menschen sterben voraussichtlich aufgrund fehlender medizinischer Versorgung, da wichtige Operationen verschoben werden müssen, um Krankenhauskapazitäten für Covid-19-Patienten freizuhalten?
  • Wie viele Menschen (gerade ältere) werden voraussichtlich aufgrund der sozialen Isolation sterben?
  • Wie viele Menschen werden voraussichtlich aufgrund der Isolation im Shut-down Selbstmord begehen?
  • Wie viele Menschen werden voraussichtlich sterben, weil aufgrund fehlender medizinischer Vorsorge eine sich ankündigende tödliche Krankheit nicht entdeckt wurde?
  • Wie viele Menschen werden sich voraussichtlich aufgrund ihrer plötzlich katastrophalen wirtschaftlichen Lage selbst töten?
  • Um wie viele Lebensjahre wird voraussichtlich die Lebenserwartung der Menschen aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Gesamtsituation im Schnitt sinken?
  • Um wie viele Lebensjahre wird voraussichtlich die Lebenserwartung der Menschen aufgrund der gesundheitsschädigenden Erfahrung des Lockdowns im Schnitt sinken?
  • Wie viele Menschen werden voraussichtlich zusätzlich von Alkohol oder anderen Drogen abhängig werden?
  • Wie viele Menschen werden voraussichtlich zusätzlich kriminell werden? Wieviele zusätzliche Morde wird es zusätzlich geben?
  • Wie viele Menschen werden voraussichtlich zusätzlich an Depressionen erkranken?
  • Welche wirtschaftlichen Folgen hat der Lockdown voraussichtlich auf die Berufsqualifikation all der Jugendlichen, Auszubildenden und Studenten, die sich gerade in der entscheidenden Ausbildungsphase befinden?
  • Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse hat man derzeit über die zu erwartenden negativen Folgen des Lockdowns gerade auf Kleinkinder und Kinder?

Und folgende Fragen stellen sich für die Konsequenzen des Lockdowns jenseits der deutschen Grenzen:

  • Wie viele Menschen werden weltweit voraussichtlich verhungern, weil die internationalen Lieferketten durch den Shut-down zusammengebrochen sind?
  • Wie viele unter die Armutsgrenze sinken?
  • Wie viele Menschen werden weltweit voraussichtlich zusätzlich sterben, weil lebensrettende Impfungen wie Polio, Cholera, Diphterie oder Tetanus nicht stattfinden können?

Diese Liste erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit, sollte aber ausreichend Eindruck über den Horizont der weitreichenden und komplexen Konsequenzen des Lockdowns geben. Die Tatsache, dass es offiziell in Deutschland (und nach Kenntnis des Autoren in keinem anderen Land) den Versuch einer wissenschaftlichen Einschätzung dieser Fragen gegeben hat, bevor der Lockdown angeordnet wurde, und in Deutschland offiziell bis heute auch kein Versuch unternommen wurde, Antworten zu finden bzw. überhaupt Fragen zu stellen, lässt deutliche Zweifel an der Verantwortlichkeit der Politik aufkommen. (Wohlgemerkt: Es geht an dieser Stelle in keiner Weise darum, die Notwendigkeit des Lockdowns in Frage zu stellen oder genüsslich aus der Rückperspektive darauf hinzuweisen, was eine Regierung alles im komplexen Entscheidungsfindungsprozess übersehen oder falsch eingeschätzt hat. Es geht um eine grundsätzliche Unterlassung eines entscheidenden Aspektes der verantwortungsvollen Entscheidungsfindung).

Erste Hinweise

Knapp drei Monate nach Beginn des deutschen Lockdowns gibt es nun eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Studien über die negativen Folgen. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Studien der Universität Berkeley, der Columbia University sowie des Imperial College London, jeweils zu der Schlussfolgerung gelangen, dass die Lockdown-Maßnahmen die Ausbreitung von Covid-19 und die Zahl der Toten reduziert haben.

Auch wenn viele erste Einschätzungen natürlich vorläufiger Natur sind (denn viele Folgen werden erst in einiger Zeit sichtbar werden) und sich nicht nur auf Deutschland beziehen, geben die Zahlen dennoch einen deutlichen Eindruck über das mutmaßliche Ausmaß des Lockdowns.

Übersterblichkeit. Welche Übersterblichkeit?

Ein Bericht des anerkannten "British Medical Journal" weist darauf hin, dass die negativen Auswirkungen des Lockdowns auf das menschliche Leben sehr ernstzunehmende Dimensionen erreicht hat: Nur ein Drittel der Übersterblichkeit von 30.000 Toten sind in England und Wales an Covid-19 verstorben. David Spiegelhalter, Direktor des Winton Centre for Risk and Evidence Communication an der Universität Cambridge, erklärte zwar, dass einige Tote Fälle von nichtdiagnostizierten Erkrankten sein könnten, betont aber: "Die große Zahl der unerklärlichen zusätzlichen Todesfälle in Heimen und Pflegeheimen ist außergewöhnlich. Wenn wir zurückblicken (...) hoffe ich, dass dieser Anstieg der zusätzlichen Todesfälle außerhalb des Krankenhauses, bei denen es sich nicht um Epidemien handelt, wirklich ernst genommen wird." Er fügte hinzu, dass viele dieser Todesfälle unter Menschen sein würden, "die vielleicht länger gelebt hätten, wenn es ihnen gelungen wäre, ins Krankenhaus zu gelangen".

Diese Studie offenbart auch, dass die Übersterblichkeit keineswegs die objektive Größe ist, die nach Ende der Krise - gleichsam im Rückspiegel - die wirkliche Anzahl der Menschen zeigen wird, die an Covid-19 gestorben sind. (Auf diese Weise wird beispielsweise auf die Anzahl der Toten einer Grippewelle geschlossen). Denn die Übersterblichkeit beinhaltet auch offensichtlich Menschen, die nicht an Covid-19 erkrankt waren, aber an den Folgen der Krise gestorben sind.

Desozialisierung sozialer Wesen

"Der Mensch ist, das ist evident, ein soziales Wesen", gibt Matthieu Ricard, promovierter Zellgenetiker und weltbekannter buddhistischer Mönch, zu bedenken. Tatsächlich ist der Mensch von seiner Natur - entgegen allen Unkenrufen des Kapitalismus - auf den Mitmenschen ausgerichtet, auf Gemeinschaft, Vertrauen und gelingende Beziehungen.

Um eine bessere Ahnung über die negativen Konsequenzen des Lockdowns auf den Menschen zu haben, lohnt sich ein Blick auf die Forschung über die positiven Auswirkungen des sozialen Kontakts und der Gemeinschaft auf den Menschen:

Es bedarf keiner besonderen Intelligenz, um aufgrund der bereits vorhandenen Forschung den Schluss zu ziehen, dass die Kappung aller sozialen Bindungen des Menschen gravierende negative Folgen haben muss.

Alzheimer vergessen

Die erste Gruppe, die massiv unter dem Lockdown zu leiden hatte, ist ausgerechnet eine Risikogruppe von Covid-19, die der Lockdown besonders schützen wollte: Ein Drittel der Übersterblichkeit in England und Wales, 10.000 Menschen, waren Alzheimerkranke, aber nicht mit Covid-19 infiziert. In April verstarben ganze 83 Prozent mehr Menschen mit Alzheimer als in Vergleichsmonaten. Der "Guardian" erklärt dieses erschreckende Phänomen: "Eine von der Alzheimer-Gesellschaft in 128 Pflegeheimen durchgeführte Umfrage zeigt, dass 79 Prozent berichten, mangelnde soziale Kontakte verursachen eine Verschlechterung der Gesundheit und des Wohlbefindens ihrer Bewohner mit Demenz. Angehörige von Menschen mit Demenz in Pflegeheimen haben darüber gesprochen, dass sich ihre Angehörigen verwirrt und verlassen fühlen, dass sie aufhören zu essen und die Fähigkeit zu sprechen verlieren."

Verschobene Rettungen

Es steht zu befürchten, dass eine Reihe von Menschen verstorben sind oder in Bälde sterben, weil wichtige Operationstermine verschoben wurden, um ausreichend freie Bettenkapazitäten in deutschen Krankenhäusern zu haben.

In Deutschland wurden mehr als 900.000 Operationen verschoben. Zwar waren davon 850.000 gutartige Eingriffe (woraus man aber keineswegs schließen darf, dass eine Verschiebung einer Operation keine langfristigen Schäden nach sich zieht). Gut 52.000 Krebs-Operationen wurden aber ebenfalls verschoben.

Verschobene Untersuchungen

Eine weiterhin unbekannte Anzahl von Menschen ist oder wird in der Folge vermutlich daran sterben, dass sie aus Angst vor einer möglichen Ansteckung medizinische Grundversorgung nicht in Anspruch genommen und keine Untersuchungen gemacht haben, die Leben retten können.

"Die Wahrscheinlichkeit, einem unentdeckten Herzinfarkt zu erliegen, ist höher, als an Covid-19 zu sterben", betont Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Eine Recherche des "Spiegel" kam zu einem ernüchternden Befund: "An vielen Herzzentren ging die Zahl der Patienten aus Angst vor einer Covid-19-Infektion drastisch zurück. Diejenigen, die doch kamen, hatten oft deutlich schlimmere Befunde als sonst.

Mit Blick auf die britische Gesellschaft kommt "The British Heart Foundation" zu dem Ergebnis, dass im März 50 Prozent weniger Menschen mit Verdacht auf einen Herzanfall die Notambulanzen der Krankenhäuser aufgesucht haben. Es liegt nahe, daraus zu schlussfolgern, dass zahlreiche Menschen daher an einem nicht entdeckten Herzanfall gestorben sind.

Es gibt weitere Sorgen angesichts unterbliebener Untersuchungen. Onkologen weisen in Deutschland darauf hin, dass in den vergangenen Monaten massiv weniger Neuerkrankungen festgestellt wurden - weil die Vorsorgeuntersuchungen größtenteils ausfielen. "Wir hatten die Hälfte an Brustkrebserkrankungen, die Hälfte an Prostatakarzinomen und deutlich weniger Darmkrebs", sagt Ulrich Keilholz von der Berliner Charité. Weil die Menschen nicht zum Arzt gingen, rechne er "in den kommenden Monaten leider mit vielen fortgeschrittenen Tumorstadien, die nur schwierig oder vielleicht auch gar nicht mehr zu behandeln sind".

In Großbritannien liegen konkrete Zahlen vor: Anfang Mai wurden wöchentlich 2300 Menschen mit Krebssymptomen nicht mehr untersucht. Vorsorgeuntersuchungen für Brust- und Gebärmutterkrebs von gut 200.000 Frauen pro Woche entfielen ebenfalls.

Selbstmorde

Eine weitere zu erwartende negative Konsequenz des Lockdowns (und auch der anschließenden Rezession) ist die Erhöhung der Selbstmordrate. Ärzte des John Muir Medical Center in Kalifornien äußerten sich besorgt über eine Selbstmordwelle: "Wir haben noch nie solche Zahlen in einem so kurzen Zeitraum gesehen. Ich meine, wir haben in den letzten vier Wochen Selbstmordversuche im Umfang eines Jahres gesehen." Ein weiterer Arzt ergänzte: "Was ich vor kurzem gesehen habe, habe ich noch nie gesehen. Ich habe noch nie so viele absichtliche Verletzungen gesehen."

In Deutschland gibt es noch keine Zahlen, aber der Rechtsmediziner der Berliner Charité berichtet von 8 Selbstmorden allein in den letzten beiden Monaten in Berlin, die aus Angst vor dem Virus - ohne erkrankt zu sein - sich das Leben genommen haben. Michael Tsokos sieht ein völlig unbekanntes Ausmaß an Angst und Unsicherheit. Zudem äußert er seine Besorgnis "vor der Gefahr einer Übersterblichkeit im Herbst - nicht durch Corona-Tote, sondern durch Corona-Suizide".

Blick über den nationalen Tellerrand

Der Lockdown in einem Land, gerade wenn er mehr oder minder zeitgleich in zahlreichen Industriestaaten erfolgt, hat in einer globalisierten Welt auch dramatische Konsequenzen in weit entfernten Ländern. Fehlende Impfungen und das Aufflammen von Infektionskrankheiten ist eine tödliche Konsequenz, wie Florian Rötzer darlegte. Die Impfallianz Gavi schätzt, dass 13,5 Millionen Menschen wichtige Impfungen nicht erhalten.

Todesursache Nummer eins unter den Infektionskrankheiten ist Tuberkulose. Eine neue Studie von "Stop TB Partnership" schätzt, dass es weltweit zusätzliche 6,3 Millionen Tuberkulosefälle und zusätzliche 1,4 Millionen Tote zwischen 2020 und 2025 geben wird. Madhukar Pai, Leiter des "McGill Global Health Program", staunt, wie viel mehr Aufmerksamkeit das neue Virus im Vergleich zu Tuberkulose erfährt.

Malaria ist ein weiteres lebensgefährliches Problem. Laut Modellrechnungen der WHO könnte sich die Zahl der Malariatoten in Afrika in diesem Jahr verdoppeln. Von bisher vorausgesagten 386.000 Todesfällen auf 769.000.

Hungersnot biblischen Ausmaßes

Nicht nur die Explosion weltweiter Armut ist ein Problem. Eine Studie der Universität der Vereinten Nationen spricht von bis zu 400 Millionen zusätzlicher Menschen, die unter die Armutsgrenze rutschen werden. Auch Hunger. Bis zur Corona-Krise beliefen sich die Schätzungen auf weltweit 135 Millionen Menschen, die sich mit akuter Nahrungsmittelknappheit konfrontiert sehen. Im April aber sagte Arif Husain, Chefökonom beim World Food Program der UN, dass sich bis zum Jahresende diese Zahl auf schätzungsweise 265 Millionen Menschen quasi verdoppelt.

David Beasley, Executive Director des World Food Programs, fand klare Worte, um die lebensgefährliche Lage von hunderten Millionen Menschen zu beschreiben: "Ich sagte bereits, dass 2020 das schlimmste Jahr seit dem Zweiten Weltkrieg sein würde, ausgehend von dem, was wir Ende letzten Jahres prognostiziert haben." Aber Covid-19, habe uns "in unbekanntes Terrain geführt. Meine Güte, das ist ein perfekter Sturm. Wir haben es mit weit verbreiteten Hungersnöten biblischen Ausmaßes zu tun."

Auf dem Weg in die Rezession

Es ist kein Geheimnis, dass sich Deutschland auf der Autobahn in eine Rezession befindet. Mehr als zwei Millionen Deutsche sehen sich in ihrer Existenz bedroht. Eine besonders betroffene Gruppe sind die Solo-Selbstständigen. Die FAZ berichtete: "Jeder vierte Solo-Selbstständige rechnet mit dem Aus. Jeder vierte Selbstständige ohne Mitarbeiter hält es für sehr wahrscheinlich, in den nächsten zwölf Monaten aufgeben zu müssen." Die aktuelle Soforthilfe des Staates, die nur wenige Solo-Selbstständigen in Anspruch nehmen können (zumeist allerdings nur für Betriebslkosten!), ist auf drei Monate ausgelegt. Allerdings erwarten mehr als ein Drittel, dass die Phase sehr niedriger Umsätze deutlich länger anhält (man denke an Arbeitsbereiche wie Theater, Musik, Event etc.) Mehr als die Hälfte der Solo-Selbstständigen verfügt zudem nur über drei Monate Liquiditätsreserven.

Sicherlich gehört auch die Gruppe der Hartz-IV-Empfänger zu den besonders schwer Betroffenen, da trotz deutlich steigender Lebensmittelkosten die Regelsätze nicht angehoben wurden. Und nicht zuletzt fürchtet jeder dritte Mensch, der derzeit in Kurzarbeit ist, um den dauerhaften Verlust seiner Arbeitsstelle.

Gesundheitsgefährdende Rezession

Diese Rezession kommt alles andere als überraschend. Die bedrohlichen Konsequenzen für Leib und Seele der Menschen durch einen radikalen wirtschaftlichen Abschwung wurde bereits in zahlreichen Studien gut erforscht, so dass die Einschätzung der Experten in der Entscheidungsfindungsphase recht problemlos hätte eingeholt werden können.

Die wirtschaftliche Lage eines Menschen hat einen sehr klaren Einfluss auf seine Lebenserwartung. Der Unterschied der Lebenserwartung eines Menschen, der in einem reichen oder in einem armen Viertel Londons geboren wird, beträgt fast 19 Jahre.

Arbeitslosigkeit hat nachweisbar gesundheitsschädigende Folgen. So verdoppelt Arbeitslosigkeit das Sterberisiko, wie eine Studie des British Medical Journal zeigt. Es gibt weitere nachweisbare Zusammenhänge: Im Jahr 2002 konnte die bis dahin umfangreichste Studie an der Yale-Universität einen direkten Zusammenhang zwischen erhöhter Arbeitslosigkeit und erhöhter Selbstmordrate nachweisen. Eine Studie über Langzeitarbeitslosigkeit bestätigt dies.

Die deutsche Studie "Arbeitslosigkeit und ihre Auswirkungen auf die Gesundheit" belegt einen direkten Zusammenhang von Arbeitslosigkeit mit einer abnehmenden Lebenserwartung und Zunahme an Depressionen. In den USA führte die Zunahme der Arbeitslosigkeit um 1 Prozent zur Erhöhung der Drogentoten an Opioden um 3,6 Prozent.

Studien über die Finanzkrise sind noch deutlicher und es steht zu befürchten, dass sie die Zukunft auch sehr genau vorhersagen können: Eine Studie der Universität Zürich stellte fest, dass jeder 45.000 Selbstmord pro Jahr weltweit, also jeder fünfte Selbstmord, durch die Finanzkrise verursacht wurde. Eine Untersuchung von "The Lancet" stellte eine Zunahme der Selbstmorde in allen europäischen Ländern in Folge der Finanzkrise fest. Allein in Großbritannien nahmen sich zusätzlich 1.000 Menschen das Leben. In den USA 4.750. In Griechenland stieg die Selbstmordrate zwischen 2007 und 2012 um ganze 60 Prozent.

Eine aktuelle Studie in den USA beziffert die Anzahl der durch die Covid-19-Krise zu erwartenden "Tode aus Hoffnungslosigkeit" (Selbstmord, Drogen- und Alkoholmissbrauch) auf 75.000 allein in den USA.

Wie ist das Befinden?

Die SOEP-CoV-Studie, ein Verbundprojekt der Universität Bielefeld und dem Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), untersuchte, wie die Deutschen den Lockdown psychisch verkraftet haben. Man durfte angesichts obiger Studien gespannt sein. Das DIW resümiert die Studienergebnisse:

Zwar steigt die subjektive Einsamkeit im Vergleich zu den Vorjahren erheblich an, andere Indikatoren für psychische Belastungen (Lebenszufriedenheit, emotionales Wohlbefinden und Depressions- und Angstsymptomatik) sind jedoch bisher unverändert. Dies deutet auf eine starke Resilienz der Bevölkerung hin. Einigen Bevölkerungsgruppen sollte dennoch besondere Aufmerksamkeit zuteil werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die Corona-Krise im April 2020 (bis 26.4.2020) nicht so negativ auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit der in Deutschland lebenden Menschen ausgewirkt hat wie bisher angenommen.

DIW

Der Soziologe Martin Schröder analysierte Daten über das persönliche Empfinden der Briten und kam zu einer deutlich dramatischeren Einschätzung: "Vereinfacht ausgedrückt kann man also sagen, dass der persönliche psychologische Effekt der Pandemie genauso schlimm ist wie der Effekt von Arbeitslosigkeit. (…) Der Anteil der Personen, die sagen, sie können ihre Alltagsaktivitäten nicht mehr genießen, ist auf 45 Prozent gestiegen. Das ist wirklich drastisch. Vor der Pandemie lag dieser Wert bei nur 17 Prozent." Auf seinem Blog präzisiert er: Im Shutdown "stieg der Anteil der Bevölkerung, der über ein ungewöhnlich geringes Glücksgefühl berichtete, von 15 auf 24 Prozent. Die Schlaflosigkeit stieg von 16 auf 25 und das Gefühl der Unzufriedenheit / Depression von 20 auf 29 Prozent der Bevölkerung".

Interessanterweise hat es keinen Einfluss auf das Befinden im Lockdown, ob man reich oder arm ist. Ebensowenig macht es einen Unterschied, ob jemand schulpflichtige Kinder oder einen Partner hat.

Wichtig auch: "Die Pandemie traf die jungen Menschen doppelt so hart wie die Allgemeinbevölkerung, während diejenigen, die alt sind oder tatsächlich ein klinisch hohes Covid-19-Risiko haben, besser abschnitten als die Allgemeinbevölkerung."

Wie die folgenden Daten zu Deutschland zeigen werden, erscheint Schröders besorgte Einschätzung eher der Realität zu entsprechen, als die zitierte Studie zu Deutschland.

Depression

Eine vorläufige Analyse einer Online-Umfrage mit bislang 2000 Teilnehmern der Privaten Hochschule Göttingen PFH ergab, dass der Lockdown die schweren Symptome bei Depression deutlich hat ansteigen lassen.

Während ein Anteil von schwerer Depression in der Allgemeinbevölkerung von einem Prozent zu erwarten gewesen wäre, offenbarte die Umfrage einen fünfmal höheren Anteil. Insbesondere die Gruppe der 18- bis 25-Jährigen zeigt einen besonders starken Anstieg im Vergleich zu Vorjahren. "Spektrum der Wissenschaft" kommentiert: "Die bisherigen Ergebnisse sind allerdings keine wirkliche Überraschung, wie etwa eine Studie zum Sars-Ausbruch in Kanada im Jahr 2003 zeigt: Bei jeweils rund 30 Prozent der von Quarantänemaßnahmen betroffenen Studienteilnehmer kam es zu depressiven Symptomen beziehungsweise Posttraumatischen Belastungsstörungen."

Gewalt gegen Kinder und Frauen

Die erste große Studie zur Gewalt gegen Frauen und Kinder in Deutschland während des Lockdowns offenbart Besorgniserregendes. In der Presseerklärung der Technischen Universität München heißt es: "Rund 3 Prozent der Frauen in Deutschland wurden in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen zu Hause Opfer körperlicher Gewalt, 3,6 Prozent wurden von ihrem Partner vergewaltigt. In 6,5 Prozent aller Haushalte wurden Kinder gewalttätig bestraft."

Werden die Menschen im Lockdown auch durch finanzielle Sorgen geplagt, steigt auch die Gewalt deutlich: körperliche Gewalt gegen Frauen: 8,4 %, körperliche Gewalt gegen Kinder: 9,8 %. Wenn ein Partner während des Lockdowns in Kurzarbeit musste oder den Arbeitsplatz verlor, steigerte dies ebenfalls die Gewalt: körperliche Gewalt gegen Frauen: 5,6%, körperliche Gewalt gegen Kinder: 9,3 %.

Absehbarer Schaden

All die aufgeführten negativen Konsequenzen des Lockdowns sind keine unvorhersehbaren Überraschungen, und es hätte nahegelegen, die entsprechenden Spezialisten mit einer Prognose zu beauftragen, um möglichst verantwortungsvoll abwägen und entscheiden zu können. Es geht hierbei keineswegs um ein ethisch mehr als fragwürdiges quantitatives Gegeneinanderaufrechnen von Menschenleben, sondern schlicht darum, sich in die Lage zu versetzen, möglichst genau die Schäden und Risiken der jeweiligen Entscheidungsoptionen einschätzen zu können.

Der Journalist Markus Feldenkirchen kritisiert daher zu Recht: "Die politischen Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche haben viele Menschenleben gerettet, das ist unbestritten. Aber sie haben auch Menschenleben gekostet. Sie haben Bürgern, die sich nie mit dem Virus infiziert haben, körperlich und seelisch geschadet. Mit Blick auf die Gesundheit aller Bürger hätten die Maßnahmen wohl differenzierter ausfallen müssen. Die Kommunikation hätte weniger stark auf Angst und mehr auf Aufklärung setzen sollen: darüber, was die Folgen verschobener Operationen oder ausgefallener Untersuchungen sein können."

Und Gabor Steingart zieht das Fazit über die fehlende Einschätzung und Abwägung: "Die Regierung mit ihrer Strategie des One-Size-Fits-All ist begründungspflichtig geworden. Und all jene Medien, die bisher wie Groupies dem Gesundheitsminister applaudieren, sind es auch. Der Aufsteiger Jens Spahn muss nicht verbal zerstört, wohl aber kritisiert werden."

Dritter Weg

Eine möglichst genaue Einschätzung der negativen Folgen durch den Lockdown sind auch nach dessen Ende von besonderer Bedeutung. Denn zum einen können Teilaspekte sehr wichtig für die Entscheidungen sein, wie schnell nun die Gesellschaft in allen Aspekten möglichst zu einer neuen Normalität zurückkehrt, zum anderen um möglichst klare Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Die Betrachtung und Abwägung der Risiken angesichts der drohenden Ausbreitung von Covid-19 und der möglichen Antwort auf den Lockdown sind aber auch in einer weiteren Hinsicht hilfreich: Sie führen zu einer möglichen Strategie, die kaum von Regierung und Öffentlichkeit diskutiert wurde, aber sich durchaus als die Alternative erweisen kann, die die geringsten Risiken und Schäden gezeitigt hätte. Eine Strategie, die Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer unterstützt, und die Julian Nida-Rümelin schon sehr früh vorschlug: "Cocooning" statt "social distancing". Die Menschen, die zu den Risikogruppen gehören, sollten "systematisch und konsequent geschützt werden", wobei "diese Menschen auch selbst entscheiden können, ob sie ein Infektionsrisiko eingehen oder nicht. Cocooning heißt nicht soziale Isolation, (...) sondern lediglich räumliche Distanz wahren und alles tun, damit jedes Infektionsrisiko minimiert wird."

Die Menschen hingegen, die nur ein sehr geringes Gefährdungsrisiko haben, sollten hingegen möglichst ihrem Leben normal nachgehen können. "Das Ganze ist nur verantwortbar, wenn Cocooning funktioniert. Die Strategie, die ich vorschlage, ist nicht zynisch. Sie wägt nicht ab zwischen Ökonomie und Gesundheit, sondern sie hat beides im Blick: das Bedürfnis nach Kontakt, die Notwendigkeit von Bildung, ökonomischer und sozialer Aktivität einerseits - und das Leben der Gefährdeten andererseits." Für Nida-Rümelin ist Cocooning "die einzige langfristig rationale Strategie."

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