Was ist Bewusstsein?

Und was wissen wir, wenn wir diese Frage beantworten? Ansätze aus Kognitionswissenschaften und Philosophie

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Es ist eine Frage, mit der man so manchen Prüfling in den Kognitionswissenschaften oder der Philosophie in Angst und Bange versetzen könnte: Was ist Bewusstsein? Und es ist die Frage, mit der die Moderation in die Diskussion einsteigen wird. Als ob jemand das so genau wüsste ...

Klar, man kann es philosophisch aufziehen und erst einmal fragen, worauf sich der Begriff bezieht: Auf ein Wesen als Ganzes, auf die Eigenschaften eines psychischen Vorgangs ("bewusst") oder gar auf eine eigene Entität Bewusstsein, auf ein eigenständiges Ding?

Philosophie des Bewusstseins

In einem Artikel über den "Geist" erklärte ich vor Kurzem, warum ein verdinglichendes Denken mehr Probleme aufwirft, als es löst (Körper ist Geist). Ebenso, wie ich dort vorschlug, "Geist" bloß als Sammelbegriff für die psychischen Vorgänge zu verwenden, möchte ich es auch für "Bewusstsein" tun: Es ist keine eigenständige Entität, sondern ein Sammelbegriff für die bewussten psychischen Prozesse. Lebewesen mit Bewusstsein sind dann solche, die bewusste Prozesse haben; erstes Problem gelöst.

Was aber sind bewusste Prozesse? Auch hier hilft uns die Philosophie wieder weiter, jedenfalls als erste Orientierung. Kennzeichnende Merkmale sind demnach vor allem der subjektive Charakter und die qualitativen Eigenschaften: Der bewusste Prozess ist erst einmal nur demjenigen zugänglich, der ihn hat, und er hat eine bestimmte Erlebnisqualität. Ersteres wird manchmal als Erste-Person-Perspektive ausgedrückt, Letzteres als "wie es sich anfühlt". Damit sind nicht nur Gefühle gemeint, sondern ein Erlebniseindruck überhaupt, etwa der Druck der Tasten gegen meine Finger oder die Wärme der Teetasse neben mir, wenn ich gleich einen Schluck trinke.

Phänomenologie

"Wie fühlt sich ein Sonnenuntergang an? Oder der Klang einer Trompete?" Bei diesen Fragen geht es um die Erlebnisqualität beim Ansehen eines Sonnenuntergangs (das kann auch auf einem Gemälde sein oder Ähnlichem) oder beim Hören einer Trompete. Sie lassen sich beantworten, wenn auch nicht einheitlich. Vielleicht verbinde ich mit Ersterem einen romantischen Kuss mit einer Jugendliebe, doch wäre jemand anders fast in der in rot getauchten See ertrunken. Es ist daher gut möglich, dass sich diese Erlebnisse für uns anders anfühlen.

Es sind jedoch keine rein philosophischen oder intellektuellen Fragen. So könnte etwa ein Blinder völlig berechtigt nach dem Gefühl eines Sonnenuntergangs fragen, oder ein Tauber nach dem Gefühl des Klangs einer Trompete. Wie würden Sie ihm oder ihr dies erklären? Dabei sind alle Antworten durch die uns verfügbare Sprache vermittelt - ein Poet wird wahrscheinlich anders antworten als ein Zwölfjähriger. In der philosophischen Disziplin der Phänomenologie oder der introspektiven Psychologie, die beide in der heutigen Wissenschaft ins Hintertreffen geraten sind, versuchte man sich an der Systematisierung und Verfeinerung solcher Beschreibungen.

Es gibt natürlich noch weitere Eigenschaften des Bewusstseins, doch ich will es hier nicht noch komplizierter machen. Interessanterweise fiel mir gerade beim Sortieren meiner Bücher für einen Umzug wieder einmal das Buch des amerikanischen Philosophen Daniel Dennett aus dem Jahr 1991 in die Hände. Die Chuzpe muss man erst einmal haben, sein Werk "Consciousness Explained" zu nennen - also nicht nur zu suggerieren, das Phänomen sei erklärt worden, sondern auch, dass man selbst diese Erklärung beigesteuert habe.

Metaphern des Bewusstseins

Jedenfalls schrieb Dennett in der Einführung seines "Meisterstücks"…

"Beim Thema Bewusstsein herrscht jedoch immer noch ein fürchterliches Durcheinander. Das Thema Bewusstsein zeichnet sich heute dadurch aus, dass es sogar die anspruchsvollsten Denker schweigend und verwirrt zurücklässt. Und, wie bei allen früheren Mysterien, bestehen viele darauf - und hoffen -, dass es niemals zur Demystifizierung des Bewusstseins kommen werde." (S. 22; meine Übersetzung)

…um dann seine Schlussfolgerung mit dem folgenden Satz zu beginnen:

"Meine Erklärung des Bewusstseins ist bei weitem nicht vollständig. Man könnte sogar sagen, dass sie nur ein Anfang war…" (S. 455; meine Übersetzung)

Hier sollte man als Leser vielleicht sein Geld zurückverlangen, insbesondere wenn es im Folgenden, also nach mehr als 450-seitiger Lektüre heißt:

"Alles, was ich wirklich getan habe, ist das Ersetzen einer Familie von Metaphern und Bildern durch eine andere … Es ist bloß ein Kampf der Metaphern, sagen Sie - doch Metaphern sind nicht 'nur' Metaphern; Metaphern sind die Werkzeuge des Denkens. Niemand kann ohne sie über Bewusstsein nachdenken, daher ist es wichtig, sich selbst mit den besten verfügbaren Werkzeugen auszustatten." (S. 455; meine Übersetzung)

"Metaphern des Bewusstseins" wäre wohl ein treffenderer und ehrlicherer Titel gewesen. Wie dem auch sei, die Frage, ob man es nicht vor allem mit Metaphern zu tun hat, sollte man sich auch in der heutigen Bewusstseinsforschung stellen. Wie oft ist dort etwas von "Informationsverarbeitung" die Rede, ohne dass klar wäre, um was für Prozesse es eigentlich geht.

Kognitionswissenschaft des Bewusstseins

Metapher hin oder her - in den Kognitionswissenschaften will man freilich nicht nur über Bewusstsein reden, sondern es auch erforschen. Wie man das tun kann, erklärte kürzlich der Neurophysiologie-Professor Andreas Engel in einem Artikel in Gehirn&Geist: Man zerlegt das große Problem in Komponenten, die sich einzeln untersuchen lassen, nämlich Wachheit (in Fachsprache manchmal: Vigilanz), Integration und Selektion. Dazu kommen laut Engel noch die Nebenaspekte Arbeitsgedächtnis und Motivation/Emotion.

Mit Integration ist gemeint, dass unser Nervensystem aus den unterschiedlichen und komplexen Wahrnehmungseindrücken der Sinnesorgane ein zusammenhängendes Erlebnis bildet: Wir sehen eben keine Fläche grüner, gelber, roter und violettfarbener Kleckse unter einem blauen Rechteck, sondern eine blühende Sommerwiese; dazu hören wir vielleicht noch das Summen von Bienen, das Zwitschern von Vögeln und das Rauschen von Blättern im Wind. Philosophen sprechen daher manchmal auch von der "Einheit" des Bewusstseins.

Tatsächlich gibt es eine vielversprechende neurowissenschaftliche Theorie darüber, wie diese Integrationsleistung zustande kommt: Es scheint, dass bestimmte Gehirnareale, die an der bewussten Wahrnehmung beteiligt sind, in einem schnellen Gleichtakt feuern, den so genannten Gamma-Oszillationen. Dazu kommt die Selektion, das heißt, dass wir in unserem Bewusstsein die Aufmerksamkeit auf etwas richten, etwa die Falter, die vor unseren Augen über die Wiese schmetterlingen.

Merke: Erstens, dieses Verb gibt es im Deutschen tatsächlich (vgl. auch niederländisch vlinderen). Zweitens, der philosophisch geneigten Leserin ist im letzten Absatz natürlich aufgefallen, dass eine Wendung wie "in unserem Bewusstsein die Aufmerksamkeit auf etwas richten" nicht unproblematisch ist: Wie kann etwas in unserem Bewusstsein sein, wenn dieses doch nur ein Oberbegriff für bewusste Prozesse ist? Was ist "Aufmerksamkeit"? Und wie richtet man diese auf etwas?

Ich gebe zu: Ich rede hier metaphorisch - aber ich bin auch nur Mensch, mein Wissen ist begrenzt und ich will diesen Beitrag auch noch zum Ende bringen.

Das Rätsel Bewusstsein bleibt

Zu all diesen Prozessen gibt es natürlich wissenschaftliche Untersuchungen, wurden bestimmte Eigenschaften und Orte des Nervensystems in Zusammenhang gebracht ... Doch bei allem Respekt für empirische Forschung: Nachdem man das große Ganze, den Oberbegriff Bewusstsein, in seine Teile zerlegt hat, hat man es nun mit der Schwierigkeit zu tun, die Teile wieder zu einem Ganzen zusammenzusetzen. Und hierzu schreibt etwa Andreas Engel:

Die Erforschung jeder dieser Teilfunktionen verzeichnete in den vergangenen Jahrzehnten außerordentliche wissenschaftliche Fortschritte. So kennen wir heute recht gut die Struktur und die Arbeitsweise der Hirnbereiche, die für Wachheit, sensorische Verarbeitung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Emotionen zuständig sind. Weniger gut verstanden ist allerdings noch, wie all diese Teilfunktionen ineinandergreifen, so dass daraus letztlich Bewusstsein entsteht.

Andreas Engel

Es geht uns also ein bisschen wie Goethes Faust, der da klagt:

Habe nun, ach! Philosophie,
Juristerei und Medizin,
Und leider auch Theologie
Durchaus studiert, mit heißem Bemühn.
Da steh ich nun, ich armer Tor!
Und bin so klug als wie zuvor;
Heiße Magister, heiße Doktor gar
Und ziehe schon an die zehen Jahr
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum -
Und sehe, daß wir nichts wissen können!

Ein Bindeglied zwischen Dr. Faust von 1808 und Andreas Engel könnte der Arzt und Physiologe Emil du Bois-Reymond (1818-1896) sein: In einem Aufsatz von 1880 formulierte er sieben große Welträtsel, von denen er die beiden Rätsel des Bewusstseins - wie Empfindendes aus Nicht-Empfindendem oder Denkendes aus Nichts-Denkendem entsteht - für prinzipiell unlösbar hielt. In seiner berühmten Rede von 1872 hatte er das so auf den Punkt gebracht: Ignorabimus! Lateinisch für: Wir werden es niemals wissen!

Ob sich die große Frage, was genau Bewusstsein ist und wie es genau funktioniert, jemals lösen lassen wird, wir wissen es nicht. Dennoch können wir festhalten, dass sich sowohl philosophisch als auch empirisch-wissenschaftlich heute schon viel über das Thema aussagen lässt. In der Praxis dürfte das aber am ehesten Patientinnen und Patienten zugutekommen, die an einer Bewusstseinsstörung leiden.

Verlorenes Orientierungswissen

Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Wer sich von dieser Forschung Orientierungswissen für das eigene Leben erhofft, der sieht sich eher enttäuscht. Als Beispiel kann man hierfür die Pionierarbeit der Neurophysiologen David Hubel (1926-2013) und Torsten Wiesel (geb. 1924) anführen: Diese erzielten vor rund 60 Jahren einen Durchbruch zum Verständnis des visuellen Systems, also wie wir sehen können, und wurden dafür 1981 mit dem Nobelpreis für Physiologie oder Medizin ausgezeichnet.

Ist es jetzt so, dass wir in dieser Zeit gelernt hätten, mehr zu sehen, besser zu sehen, bewusster zu sehen, anders zu sehen? Leider nein. Der Gedanke der Schulung des Wahrnehmers würde am besten zur Phänomenologie oder introspektiven Psychologie passen - die mehr und mehr aus der wissenschaftlichen Fachwelt verdrängt wurden. Diese Disziplinen wurden den Standards "objektiven" Experimentierens und gesetzlicher Verallgemeinerbarkeit nicht gerecht: Damit wurde das Subjektive und das Individuelle, das die meisten Menschen am Rätsel Bewusstsein interessieren dürfte, gerade ausgeschlossen.

Da die westliche Wissenschaft und Philosophie auf dem Gebiet von Selbsterfahrung und lebensweltlichem Orientierungswissen nur noch wenig zu bieten hat, wenden sich eben immer mehr Menschen östlichen Lehren zu, die den Kontakt mit der Erfahrung und den Problemen der Alltagswelt nie verloren haben: So lässt sich meines Erachtens die steigende Beliebtheit von Achtsamkeit, Meditation, Qigong oder Yoga erklären. Das versucht man ansatzweise etwa durch "Mindfulness" wenigstens in die Psychotherapie zurückzubringen, nachdem man unsere eigene traditionelle phänomenologische Introspektion (wörtlich: Innenschau) als unwissenschaftlich diskreditiert hat.

Wem sollten aber Philosophie und Wissenschaft nutzen, wenn nicht den Menschen? Natürlich kann man die Mechanismen der Psyche auf Ebene von Gehirnarealen, Zellverbänden, Molekülen, Atomen … immer weiter und immer feiner analysieren. Ob man so die großen Fragen der Menschheit lösen kann und weiter kommt als Goethes Faust, das darf allerdings bezweifelt werden.

Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.