Was ist und soll eigentlich (unsere) Demokratie?

Seite 2: Tatsachen als Grundlage jeder Diskussion

Um über die Basics und alles Nachfolgende verhandeln zu können, muss unstrittig sein, was eine Tatsache und was eine Meinung (Wertung von Tatsachen) ist. Und beides sollten alle Beteiligten erkennen und einordnen können.

Doch womit beginnen Medienberichte und entsprechend nachplappernd auch private Gespräche über die Weltpolitik? "Die USA haben...", "die internationale Gemeinschaft will", "Deutschland wird ...".

Der Tatsachenkern solcher Aussagen reduziert sich stets darauf, dass allenfalls ein paar Dutzend Menschen (meist deutlich weniger) Meinungen bekundet haben. Ob das nun "ihre privaten Meinungen" oder irgendwie in Gremien abgestimmte Positionen waren, ist unerheblich: Solche Wortphrasen marginalisieren nicht nur jeweils Millionen Menschen, sondern auch jeden vom Proklamierten abweichenden Gedanken.

Wenn eine deutsche Politikerin fordert, "Deutschland müsse eine Führungsrolle in Europa übernehmen" dann bleibt unausgesprochen, wer wen führen will, wer also Macht über wen haben soll.

Wenn US-Präsident Joe Biden oder Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel als "Führer der freien Welt" tituliert werden, sollte geklärt werden, ob es sich dabei um Wunschvorstellungen oder reale Tatsachenbeschreibungen handelt.

Anti-demokratisch ist es so oder so, aber im ersten Fall ließe sich entsprechenden Bestrebungen noch argumentativ begegnen, im zweiten Fall hätten wir etwas, das heute gerne dem Verschwörungsglauben zugerechnet wird.

Selbst in der Wissenschaft finden sich erstaunlich viele Unschärfen bei der Tatsachenerkenntnis. So haben die Professoren Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey zwar ein ganzes, derzeit viel beachtetes Buch über "Querdenker:innen" geschrieben ("Gekränkte Freiheit"), ohne jedoch einmal zu klären, wer damit gemeint ist und wie man solche Menschen sicher erkennt.

In einer Studie von Ende 2020 hatte Nachtwey schlicht die gesamte "Bewegung der Kritiker:innen der Corona-Massnahmen [...] der Einfachheit halber als Synonym: Querdenker:innen" genannt. Für die nun vorgelegte große soziologische Betrachtung wurde empirisch Querdenker, wer auf die Einladung zu einer Umfrage reagiert hat.

Die Einladungen wurden gepostet in offenen Telegram-Gruppe mit mehr als 200 Mitgliedern, "die direkt mit der politischen Szene der Corona-Kritiker:innen im Zusammenhang" stehen. Auch sonst bietet das Buch jede Menge Begriffe ohne handhabbare Definition, was die Verständigung über Tatsachen (oder sind es eben nur Meinungen?) erschwert.

Beispielsweise wird, wer "selbst recherchiert" und sich "gegenüber den 'Mainstream'-Expert:innen und -Medien" positioniert zum "Autoexperten", während diejenigen, die solche Zuschreibungen treffen dürfen, offenbar einen nicht selbstverliehenen Expertenstatus haben, dessen Zustandekommen aber ebenfalls ungeklärt bleibt.

Tatsache oder Meinung? Nach dem Einschlag zweier Raketen im polnischen Dorf Przewodów Mitte November 2022 lag zwischen beidem das Szenario des dritten Weltkriegs. Keineswegs nur die Bild-Zeitung scheiterte mal wieder an einer realitätstauglichen Tatsachenfeststellung.

Es ist vielmehr ein massives Dauerproblem des Medienbetriebs. Wie soll gesellschaftliche Verständigung gelingen, wenn schon die Verhandlungsgegenstände unklar sind?

Mehr über das Dauerproblem, über das Erkennen von Tatsachen und grundlegende Wissensdefizite in Teil 2.