Was noch zur sexuellen Orientierung gesagt werden muss
Seite 3: Soziale Erklärungsversuche
- Was noch zur sexuellen Orientierung gesagt werden muss
- Ist Homosexualität nun angeboren?
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Der Sozialwissenschaftler Menelaos Apostolou von der Universität Nicosia auf Zypern diskutiert den Effekt im Kontext innerfamiliärer Konflikte. Er erinnert daran, dass in vorindustriellen Zeiten Ehen von den Eltern arrangiert worden seien. Dabei hätten die Eltern der Frau vor allem auf das Vermögen des möglichen Bräutigams geachtet.
Gemäß der typischen Erbfolge erhielt der älteste Sohn den größten Teil des familiären Vermögens. Dadurch hatten die jüngeren Brüder schlechtere Chancen, eine gute Ehefrau zu finden. Apostolou diskutiert nun, dass die Homosexualität jüngerer Brüder den innerfamiliären Konflikt aufgelöst und so zum Fortpflanzungserfolg des Erstgeborenen beigetragen haben könne.
Unabhängig von der Frage, inwiefern diese Erklärung für die Vergangenheit zutrifft, ergibt sich das Problem, inwieweit sie sich auf die heutige Zeit übertragen lässt: Ehen werden in der Regel nicht mehr arrangiert. Und eine sexuelle Präferenz äußert sich wahrscheinlich schon lange vor der Hochzeit des ältesten Bruders. Außerdem gilt auch hier: Was, wenn der erstgeborene oder einzige Sohn homosexuelle Neigungen hat?
Ich kann auf diese Fragen keine abschließenden Antworten geben. Klar sollte aber nun geworden sein, dass die Gene nur einen kleinen Teil unserer sexuellen Orientierung erklären und darüber hinaus unklar ist, ob diese angeboren oder erst im Laufe des Lebens erworben ist. Die Zwillingsdaten sprechen eher für eine Festlegung nach der Geburt. Eine weitere soziale Erklärung werde ich im folgenden Abschnitt vorstellen.
Ist Homosexualität natürlich?
Eine andere beliebte Frage ist die, ob Homosexualität natürlich ist. Oder in einer Variante: Wie kann die Vorliebe fürs eigene Geschlecht im evolutionären Wettkampf um die meisten Nachkommen bestehen bleiben?
Zuerst einmal ein paar allgemeine Dinge: Sie sitzen aller Wahrscheinlichkeit nach gerade vor einem Computerbildschirm und starren auf dunkle Buchstaben auf einem hellen Hintergrund. Wie natürlich ist das?
Und wenn Fortpflanzungserfolg etwas über Natürlichkeit aussagt, dann wären also Länder wie Niger, Mali und Burundi mit durchschnittlich 6,6, 6,4 und 6,0 Kindern pro Frau die natürlichsten. Deutschland, Schweden oder die Niederlande mit nur 1,4, 1,9 oder 1,7 Kindern pro Frau wären hingegen eher unnatürlich.
Wenn man nun noch Natürlichkeit mit einem positiven Wert verbindet, dann würden die afrikanischen Länder ganz Europa in den Schatten stellen. Entweder schluckt man diese Kröte - und was ist dann eigentlich mit Sex, der nur zum Spaß dient? -, um Homosexualität als "unnatürlich" zu geißeln. Lasst uns also wie die Afrikaner leben! Oder man gibt zu, dass vieles in unserem "hochentwickelten" Leben nicht natürlich ist, dass das aber normal ist und man daher Homosexuellen auch keine Unnatürlichkeit vorwerfen kann.
Homosexualität in der Evolution
Zur Frage, wie Homosexualität in der Evolution entstehen kann, sei erst einmal angemerkt, dass man sich das bei Radios, Fernsehern, Computern und Mondraketen auch nicht unbedingt vorstellen könnte, es all diese Dinge aber trotzdem gibt. Der Mensch ist eben nicht nur ein Natur-, sondern auch ein Kulturwesen.
Für biologisch denkende Leser seien aber kurz zwei Hypothesen erwähnt: Die eine geht davon aus, dass Homosexuelle für ihre Neffen und Nichten sorgen, so deren Überlebenschancen erhöhen und damit auf familiärem Niveau zur Selektion geteilter Gene beitragen.
Der zweiten zufolge gibt es ein Gen auf dem X-Chromosom, das gleichzeitig Frauen fruchtbarer macht und Männer, die ja auch ein X-Chromosom haben, homosexuell werden lässt. Dann wäre der Fortpflanzungsnachteil der Schwulen im Mittel durch den Vorteil ihrer überdurchschnittlich fruchtbaren Schwestern kompensiert. Wenn es so ein Gen gäbe, dann hätte es aber wohl schon längst gefunden werden müssen, siehe oben.
Gleichgeschlechtlicher Sex im Tierreich
Eine Variante der Frage nach der Natürlichkeit von Homosexualität zielt nicht so sehr auf die Evolution, sondern vielmehr auf die Frage, ob es sie schon immer geben hat oder auch Tiere gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr haben. Letztere lässt sich eindeutig bejahen:
Der Evolutionsbiologe Julien Barthes von der Universität Montpellier in Frankreich und Kollegen führen an, dass in fast 450 Spezies gleichgeschlechtlicher Sex belegt ist. Die Forscher betonen allerdings, dass das keine sexuelle Vorliebe in einem bedeutungsvolleren Sinn von "Homosexualität" beweist. Diese sei bisher nur beim Menschen beobachtet worden.
Homosexualität in der Geschichte
Die französischen Biologen haben auch angeblichen prähistorischen Belegen dafür, dass es menschliche Homosexualität schon immer gegeben habe, auf den Zahn gefühlt. Dabei ziehen sie das Fazit, dass die häufig angeführten Beispiele, meistens geht es um Höhlenmalereien, nicht schlüssig seien.
Oftmals sei das Geschlecht der abgebildeten Figuren nicht einmal eindeutig zuzuordnen. Ohne begleitenden Text sei zudem nicht entscheidbar, ob es schlicht um gleichgeschlechtlichen Sex oder wirklich eine homosexuelle Vorliebe ging. Für letztere stammten die ältesten Belege aus Ägypten (ca. 2400 v. Chr.).
Zudem habe es im antiken Griechenland, Rom und auch im alten China gleichgeschlechtliche Vorlieben in einem reicheren Sinne gegeben. Das nannte man aber noch nicht "Homosexualität", eine Bezeichnung, die, wie gesagt, erst im 19. Jahrhundert von Medizinern verbreitet wurde.
Auch im Interview mit dem Islamwissenschaftler Ali Ghandour wurde erst kürzlich besprochen, dass in islamischen Kulturen Liebe unter Männern durchaus als schicklich galt, auch wenn Analverkehr mitunter verpönt gewesen sei (Erotik im Islam: "Wir brauchen mehr Differenzierung"). Die Homophobie, wie wir sie heute kennen, hätten vielmehr erst westliche Kolonialmächte in diese Länder exportiert.
Hierarchische Gesellschaften
Die französischen Evolutionsbiologen haben nun eine eigene, für den Laien vielleicht erst einmal ziemlich schräg klingende Erklärung dafür, wie Homosexualität in menschlichen Kulturen entstehen konnte: Sie vermuten, dass in Gesellschaften, die stärker in wohlhabende Ober- und ärmere Unterschichten unterteilt ("stratifiziert") seien, fruchtbare Frauen aus den unteren Schichten in die oberen heiraten und dort die Nachkommenzahl erhöhen würden. Das wiege den reproduktiven Nachteil Homosexueller auf.
Zur Überprüfung ihrer These untersuchten sie anthropologische Berichte über 107 Gesellschaften weltweit, die auf das Vorhandensein oder die Abwesenheit homosexueller Vorlieben schließen ließen. Das erste interessante Ergebnis ist, dass Homosexualität aller Wahrscheinlichkeit nach zwar über alle Regionen der Welt verbreitet ist, es aber auch Gesellschaften gibt, die das Phänomen gar nicht zu kennen scheinen.
Ein aktuelles Beispiel stammt von den Aka, Jägern und Sammlern aus der Zentralafrikanischen Republik. Über diese heißt es:
Die Aka … hatten Schwierigkeiten damit, das Konzept und das Vorgehen gleichgeschlechtlicher sexueller Beziehungen zu verstehen. Sie hatten dafür kein Wort und es war notwendig, den sexuellen Akt wiederholt zu beschreiben. Einige erwähnten, dass Kinder des gleichen Geschlechts (zwei Jungen oder zwei Mädchen) manchmal den Geschlechtsakt ihrer Eltern imitierten, während sie im Zeltlager spielten, und auch wir konnten diese spielerischen Interaktionen beobachten.
Hewlett & Hewlett, 2010, zit. n. Barthes et al., 2015; dt. Übers. S. Schleim
Gemäß der Analyse der Forscher ist Homosexualität in geschichteten Gesellschaften tatsächlich viel häufiger als in anderen Gesellschaften. Das legt nahe, dass die Vorliebe für das eigene Geschlecht auch von sozialen Faktoren abhängig ist.
Es sei auch noch einmal daran erinnert, dass gemäß der genetischen Studie mit der halben Million Teilnehmer die um 1970 geborenen rund vier- (Männer) bis zwölfmal (Frauen) so häufig gleichgeschlechtliche sexuelle Erfahrungen angegeben hatten als die um 1940 geborenen. Das ist ein immenser Anstieg in nur 30 Jahren, der sicher nicht genetisch zu erklären ist.
Fazit
Der Genetiker Khytam Dawood von der Pennsylvania State University und Kollegen kamen in einem Artikel über genetische und Umwelteinflüsse auf die sexuelle Orientierung aus dem Jahr 2009 zu folgendem Ergebnis:
Während der letzten beiden Jahrzehnte wurden zunehmend Evidenzen gesammelt, dass sowohl familiäre als auch genetische Faktoren die sexuelle Orientierung von Männern und Frauen beeinflussen. … Zum jetzigen Zeitpunkt können über die genetischen oder umweltbedingten Determinanten der sexuellen Orientierung wenige Schlussfolgerungen mit Sicherheit gezogen werden.
Dawood et al., 2009, S. 277; dt. Übers. S. Schleim
Zu den "wenigen sicheren Schlussfolgerungen" würde ich aber diejenigen zählen, dass es, erstens, keine starke genetische Basis für die sexuelle Orientierung gibt (siehe die neue Studie mit der halben Million Teilnehmer), und sie, zweitens, auch nur eingeschränkt angeboren ist (siehe die große Studie mit den schwedischen Zwillingen). Zudem ist gleichgeschlechtlicher Sex in dem Sinne natürlich, dass er auch im Tierreich verbreitet ist, und sind homosexuelle Vorlieben in dem Sinne normal, dass es sie seit langer Zeit und in vielen verschiedenen Gesellschaften rund um die ganze Welt gibt.
Der in der Diskussion manchmal gezogene Vergleich mit der Pädophilie, die in diesem Sinne auch natürlich und normal sei, ist deplatziert: Wer seinen pädophilen Neigungen nachgeht oder Kinder schlicht sexuell missbraucht, um das Machtgefälle auszunutzen, schadet der Entwicklung dieser Menschen. Darum sind sexuelle Kontakte von Erwachsenen mit Kindern nachvollziehbarerweise verboten.
Einvernehmliche gleichgeschlechtliche Kontakte oder Beziehungen unter Erwachsenen schaden aber niemanden und sind im Gegenteil für viele Menschen normaler und wichtiger Bestandteil der Persönlichkeitsentfaltung. Als solche verdienen sie ebenso staatlichen Schutz, wie andere Formen menschlichen Zusammenseins. Die Frage nach der Therapie stellt sich erst gar nicht, da Homosexualität weder eine Krankheit noch eine psychische Störung ist.
Freie und tolerante Gesellschaft
Abschließend möchte ich erwähnen, dass ich an dem Thema kein anderes Interesse habe, als in einer toleranten, inklusiven, friedlichen und zivilen Gesellschaft zu leben. Wären die besten mir zur Verfügung stehenden Daten anders, dann wäre auch mein Artikel anders. Versuche, Opponenten aus dem konservativen Lager mit konstruierten biologischen Argumenten zu überzeugen, lehne ich nicht nur als unredlich ab, sondern auch, weil diese über kurz oder lang auf einen selbst zurückfallen.
Das Wissen, das die Medien und das Bildungswesen über das Thema sexuelle Orientierung verbreiten, finde ich enttäuschend. Was ich hier zusammengetragen habe, steht jedem Studenten über seine Universitätsbibliothek zur Verfügung. Für alle Internetnutzer auf der ganzen Welt sind zumindest die Zusammenfassungen (Abstracts) mit den wesentlichen Fakten zugänglich. Diesen Artikel konnte ich an einem Tag recherchieren und schreiben.
In den Schulen haben wir Projekt- und Orientierungswochen für das Berufsleben. Warum gibt es nichts Vergleichbares zur sexuellen Orientierung, wenn man bedenkt, welch ein wesentlicher Teil der Persönlichkeitsentfaltung dies im Laufe eines Menschenlebens ist? Ist es etwa besser, Jugendliche den Pornofilmchen im Internet zu überlassen?
Die rechtlichen und medizinischen Veränderungen, die mit dem Thema "Homosexualität" zusammenhängen, sind gerade einmal ein bis zwei Generationen alt. In manchen Bereichen setzen sie sich noch heute fort (Beispiel "Homo-Ehe"), ganz zu schweigen von Ländern, in denen heute noch Verbote oder überholte medizinische Sichtweisen bestehen.
Ich behaupte, dass wir noch so manche Überraschung erleben werden, wenn die Gesellschaft freier und toleranter wird. Und wieso sollten wir uns eine andere Gesellschaft wünschen?
Dieser Artikel erscheint ebenfalls im Blog "Menschen-Bilder" des Autors.
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