"Weder Selenskyj noch Putin – Stoppt den Krieg"
Seite 2: Gegen Geschichtsrevisionismus auf allen Seiten im Ukraine-Konflikt
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Wie selbst Linke, die sich in den letzten Jahrzehnten Gedanken über die verderblichen Effekte von Nationalismus gemacht haben, jetzt alles vergessen, zeigt eine von der Wochenzeitung Jungle World organisierte Veranstaltung unter dem Motto "Solidarität mit der Ukraine! Russland dekolonisieren".
Da die Redaktion erfreulicherweise ansonsten linkem Bekenntniszwang, vor allem, wenn es um eingeforderte Solidarität mit irgendwelchen Nationalstaaten geht, mit scharfer Kritik begegnet, vermisst man hier das Fragezeichen hinter dem Solidaritätsaufruf für die Ukraine. Warum reicht es nicht, sich mit allen Menschen auf allen Seiten zu solidarisieren, die unter dem Krieg leiden und die desertieren wollen?
Und warum nutzt die Jungle World ihr bewährtes Instrumentarium, die Kritik an Geschichts- und Kriegsmythen auf allen Seiten, dieses Mal nicht, wenn es um die Ukraine geht? Warum wird plötzlich nicht mehr über die Bandera-Alleen in ukrainischen Städten geredet, wo der zeitweilige NS-Kollaborateur und Antisemit Stepan Bandera geehrt wird. Über einen wahrnehmbaren Widerstand dagegen in den westukrainischen Städten ist nichts bekannt.
Gilt also plötzlich die Solidarität auch den Teilen der ukrainischen Bevölkerung, die Bandera ehren wollen? Spielt der ukrainische Nationalismus plötzlich keine Rolle mehr, weil das russische Regime damit einen Krieg legitimiert? Gilt schon als prorussisch, wer daran erinnert, dass man den ukrainischen Nationalismus kritisieren kann?
Die Internationale Föderation der Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer gegen den NS (Fir) hat letzteres mit ihrer Erklärung "Nein zu Geschichtsrevisionismus und Holocaust-Relativierung im Ukraine-Krieg" beispielhaft deutlich gemacht. Sie weist Putins Legitimierung des Krieges gegen die Ukraine als Akt der Entnazifizierung zurück, erkennt aber an, dass es faschistische Strukturen in dem Land gibt. Sie weist auch die Holocaustrelativierung auf ukrainischer Seite zurück.
Nicht nur der ukrainische Botschafter in der BRD, Andrij Melnyk, der sich als Verteidiger des Azow-Bataillons betätigt, sprach in Analogie zum faschistischen Überfall auf die Sowjetunion 1941 von einem "Vernichtungskrieg", der sich diesmal nicht nur gegen die Ukraine, sondern gegen die ganze freie Welt richte. In den ersten Tagen des Krieges wurde seitens der ukrainischen Regierung die Behauptung in die Welt gesetzt, die russische Armee habe mit einem Angriff auf die Gedenkstätte Babyn Yar die Erinnerung an die Opfer des faschistischen Massenmordes geschändet. Erst ein Journalist der "Jerusalem Times" belegte mit Bildern vom Ort, dass weit von der Gedenkstätte entfernt ein Sendemast angegriffen und zerstört worden sei – die Behauptung des Angriffs auf die Gedenkstätte also reine Propaganda war.
FIR, "Nein zu Geschichtsrelativismus und Holocaustrelativierung im Ukraine-Krieg"
Warum sich die "Zeitung gegen den Krieg" nur an einem Punkt geirrt hat
Im Kriegsfieber haben es auch reformerische, christliche und bürgerliche Initiativen, die sich gegen den Krieg einsetzen, schwer. Sie gelten als Feind im Innern und müssen mit Repressalien rechnen. Bekannt sind die hohen Strafen, die in Russland gegen Kriegsgegner verhängt wird.
Es reicht bereits, sich mit einem leeren Blatt auf die Straße zu stellen, um zu einer hohen Strafe verurteilt zu werden. Natürlich sollte diesen Menschen unsere uneingeschränkte Solidarität gelten, unabhängig aus welcher Motivation sie gegen den Krieg sind. Das gilt allerdings auch für die Menschen in der Ukraine. Es darf keinem Staat zugestanden werden, dass er Menschen in einen Kampf zwingt, an dem sie nicht teilnehmen wollen.
Deswegen war es wichtig, dass die Taz kürzlich auf ihrer Titelseite betonte, dass auch die ukrainischen Männer, die jetzt nicht ausreisen dürfen, das Recht haben, Nein zu sagen. Besonders im Fokus der Kritik steht jetzt auch in Deutschland die Friedensbewegung, die angeblich zu russlandfreundlich wäre. Umdenken wird unisono gefordert.
Nun ist der Begriff Friedensbewegung ein sehr allgemeiner Begriff, der unterschiedliche Gruppen umfassen kann. Wenn man die Zeitung gegen den Krieg zum Maßstab nimmt, die von einem relevanten Teil der Antikriegsbewegung in Deutschland produziert wird, fällt auf, dass in der Ausgabe vom März bei manchen Autoren die Fehleinschätzung vorlag, dass Putin keinen Krieg gegen die Ukraine beginnen wird.
Deswegen hat der Herausgeber der Zeitung Winfried Wolf auch angekündigt, die Ausgabe 50 nicht weiter zu verbreiten. Zum Glück kann man sie aber noch im Online-Archiv finden und sie ist lesenswert. Einmal wegen der gleich ins Auge fallenden Irrtümer. So heißt es im zentralen Artikel auf der Titelseite: "Warum Russland keinen Krieg will".
In den Artikeln ist aber auch viel Richtiges über die Vorgeschichte des Krieges zu finden. Denn es werden auch die Maßnahmen der anderen kapitalistischen Blöcke präzise benannt und kritisiert, ohne die die heutige Situation nicht zu verstehen ist. Die Zeitung gegen den Krieg hat in dem einen Punkt geirrt, wo sie das Putin-Regime nicht als gleichen Kriegstreiber klassifiziert hat wie die anderen kapitalistischen Player.
Da ist sie von der Linie der Zimmerwalder Linken abgewichen, die bereits vor mehr 100 Jahren alle Mächte der Welt als Teil der Kriegstreiber erkannt und bekämpft hat. In der Analyse der übrigen Staaten haben die Autor:innen der Zeitung gegen den Krieg aber nichts zurückzunehmen. Bei der nächsten Ausgabe sollte natürlich auch der russische Nationalismus und Kapitalismus entsprechend klassifiziert werden.
Wird noch eine andere Stimme im Kriegskonzert toleriert?
Aber es sollten dort auch Autorinnen und Autoren schreiben, die die Seite Russlands darstellen. Das ist eben nicht zu verwechseln mit einer Parteinahme für Putin.
Es ist bezeichnend, wenn die Wochenzeitung Freitag sich von ihrem langjährigen Russland-Korrespondenten Ulrich Heyden getrennt hat, weil er sich angeblich aufseiten Putins positioniert hat, was Heyden bestreitet. Warum werden seine Beiträge nicht einfach als die andere Stimme toleriert, die aus Russland schreibt und vielleicht auch Positionen vertritt, die der russischen Regierung vielleicht doch näherstehen, als Heyden selber wahrhaben will?
Ulrich Heyden erklärt, er werde sich nicht beteiligen an der "Formierung einer deutschen Nation auf einen (alten) äußeren Feind und dem Einschwören auf das größte deutsche Rüstungsprogramm seit dem Zweiten Weltkrieg". Das ist umso beachtlicher angesichts einer Linken, die größtenteils genauso treu zur Nato steht, wie sie zwei Jahre lang alle Pandemiemaßnahmen kritiklos mitgetragen hat. Dieser Vergleich kommt vom Sozialwissenschaftler Stephan Lessenich in seinem Resümee über zwei Jahre Pandemiepolitik.
Im Lichte der akuten Gegenwart gesehen, kommt einem da eine böse Ahnung: Könnte es sein, dass das Zusammenrücken in der Pandemie - gegen einen äußeren Feind, gegen die Konkurrenz von fern und nah - sich als ein Vorbote zukünftigen Krisenmanagements erweisen wird? Wie viel Corona-Zusammenhalt steckt in der in den letzten Wochen urplötzlich zur Schau gestellten, neuen deutschen Wehrtüchtigkeit? Sind wir wieder wer? Und wenn ja, wie viele?
Stephan Lessenich, Neues Deutschland
Tatsächlich verbirgt sich hinter der Nato-Begeisterung in Deutschland auch die Rache an einem Kriegsgegner, der Deutschland vor fast 80 Jahren in Stalingrad die entscheidende Niederlage beigebracht hat. In den 1980er-Jahren haben Teile der deutschen Friedensbewegung, wie der Publizist Wolfgang Pohrt gut analysierte, den ehemaligen alliierten Kriegsgegnern vorgeworfen, auf ihren Boden Krieg führen zu wollen. 2022 wird auf sogenannten Friedensdemonstrationen und in einem Taz-Kommentar Russland schon mal mit Krieg gedroht.