Wege aus dem neoliberalen Europa

Seite 3: Linke Politik in einem doppelten Dilemma

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Bereits kurze Zeit nach Veröffentlichung des "Plan B für Europa" hat sich Yanis Varoufakis, der griechische Ex-Finanzminister, von seinen Mitautoren abgewandt und mit DiEM25 sein eigenes Projekt gegründet. Nun grenzt er sich scharf ab von allen Strategien des "Rückzugs in den Kokon unserer Nationalstaaten". Seinen ehemaligen Mitstreiter Stefano Fassina attackiert er heftig. Dessen Strategie, auf die Stärkung der nationalen Demokratien zu setzen, führe zu einem "heimlichen Rutsch in die Falle des Nationalismus".

In dieselbe Kerbe haut Gregor Gysi in seiner Kritik an den Plan-B-Initiatoren. Mit dramatischen Worten warnt er seine Genossen vor einer "Renaissance des altbekannten Nationalismus" in einem "entfesselten Deutschland".

Nun sind die auflebenden nationalistischen Strömungen in Europa ja nicht gerade ein Produkt starker nationaler Demokratien. Im Gegenteil, sie nähren sich von dem Gefühl des Ausgeliefertseins an ein undemokratisches System, das man nicht beeinflussen kann. Die Linken, meint Gysi, müssten eben daran arbeiten, "Mehrheiten für eine andere Politik der EU zu gewinnen", so wie es Syriza in Griechenland gemacht habe, und für eine Demokratisierung der EU kämpfen.

Hier gibt es allerdings ein kleines Problem: Eine Demokratisierung der Entscheidungsstrukturen in der EU müsste, wie jede Änderung der europäischen Verträge, einstimmig beschlossen werden. So ist die EU konstruiert. Gysis Linie läuft - zuende gedacht - darauf hinaus, dass die griechischen, spanischen und alle anderen Opfer der neoliberalen EU-Politik solange ausharren müssen, bis die gesamte EU, in allen 27 oder 28 Mitgliedsstaaten, eine Abkehr von dieser Politik vollzieht. Bis dahin jedoch - um es mit Keynes zu sagen - "sind wir alle tot".

Varoufakis indessen hat sich in seinem DiEM25-Projekt das Ziel gesetzt, bis zum Jahre 2025 zu einem "vollkommen demokratischen, funktionierenden Europa" zu gelangen. Doch auch er kommt über politische Rhetorik nicht hinaus, wenn es um den Weg zu dieser "vollkommenen Demokratie" geht. DiEM25 will dafür "werben", so heißt es im Manifest der Initiative, und eine gesamteuropäische Verfassung "verlangen". Die Demokratisierung bleibt also auch hier eine Forderung an die EU, die auch durch die kämpferische Rhetorik und jene gewisse Selbstüberschätzung eines Varoufakis, von der das Manifest durchzogen ist, nicht realistischer wird.

Die Suche nach linken Alternativen zur neoliberalen EU-Agenda scheint in einem doppelten Dilemma festzustecken. Während die Forderung nach einem demokratischen Europa an den Machtverhältnissen und der Konstruktion der EU abprallt, führen linke Exit-Strategien zu einer größeren Schutzlosigkeit und geringeren Handlungsmöglichkeiten gegenüber dem global agierenden Kapital.

Kehren wir deshalb noch einmal zum Ausgangspunkt zurück: zum ursprünglichen Konflikt zwischen den europäischen Gesellschaften und den neuen Strategien des globalisierten Kapitals, die erreichten Sozialstandards und Lohnniveaus zu untergraben.

Theoretisch gibt es darauf eine einfache Antwort. Wenn Unternehmen global produzieren und agieren, dann müssen sich die Strukturen der Solidarität entsprechend erweitern. Gewerkschaften müssen länderübergreifend handlungsfähige Strategien entwickeln. Soziale Rechte und sozialstaatliche Sicherheiten können in den Zeiten der Globalisierung nicht mehr national verteidigt werden. Die Konzepte des Sozialen dürfen den Rest der Welt daher nicht ausschließen. Im Gegenteil, sie müssen darauf angelegt sein, ihn nach und nach einzubeziehen.

Die westeuropäischen Gewerkschaften hätten sich also bereits in den 90er Jahren darauf konzentrieren müssen, schlagkräftige europaweite Strukturen aufzubauen, und die Osteuropäer darin zu unterstützen, ihre Lohnniveaus und sozialstaatlichen Leistungen nach und nach zu verbessern und den westeuropäischen Standards anzugleichen.

Praktisch ist dieses Postulat schwer umzusetzen. Der Aufbau handlungsfähiger europaweiter Strukturen ist eine schwierige, langfristige Aufgabe. Interessenvertretungen reagieren in Bedrohungssituationen aber naturgemäß erst mal defensiv. Sie versuchen, das Bestehende zu verteidigen, damit ihnen die Mitglieder nicht davonlaufen. So wurden die europäischen Gewerkschaften von der Globalisierung, und erst recht von der Deregulierungsoffensive der EU regelrecht überrollt.

Zu ersten größeren länderübergreifenden Protestaktionen kam es in der Auseinandersetzung um die Einführung der Dienstleistungsfreiheit. Gewerkschaften, Arbeitslosenverbände und Globalisierungskritiker riefen zu Protesten auf. Im Februar 2006 demonstrierten in Strasbourg und Berlin Zehntausende unter dem Motto "Europa ja, Sozialdumping nein" gegen die "Bolkestein-Richtlinie", den ersten Entwurf für die geplante Regelung der Dienstleistungsfreiheit.

So richtig hat die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Partner damals aber noch nicht geklappt. Zwar riefen sowohl die Gewerkschaften als auch attac zu Demonstrationen auf, aber zu unterschiedlichen Terminen. Die Dienstleistungsrichtlinie wurde wenig später mit einigen Ausnahmeregelungen - vor allem im Bereich der öffentlichen Daseinsvorsorge und der Pflege - beschlossen.