Wege aus dem neoliberalen Europa

Seite 4: Eine Agenda der Solidarität

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Doch der Ansatz, Organisationen aus verschiedenen Bereichen länderübergreifend zusammenzuführen, war erfolgversprechend. Inzwischen gibt es zumindest zwei europaweite Bündnisse zivilgesellschaftlicher Organisationen, die punktuell erfolgreich agieren: die europaweite Kampagne right2water gegen die Privatisierung der Wasserwirtschaft und die Protestbewegung gegen die geplanten Freihandels- und Investitionsschutzabkommen Ceta und TTIP. Beiden Initiativen ist es gelungen, Gewerkschaften, Umwelt- und Agrarverbände, Frauen-, Menschenrechts- und Solidaritätsinitiativen aus ganz Europa in gemeinsamen Projekten zusammenzuführen.

Die right2water-Kampagne hat sich mit ihrer Petition "Wasser ist ein Menschenrecht" als Europäische Bürgerinitiative aufgestellt. Unterstützt vom Europäischen Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst, erreichte sie im September 2013 mit 1,7 Millionen anerkannten Unterzeichnern das geforderte Quorum.

Ihr Ziel ist es, das Recht auf Wasser und auf sanitäre Grundversorgung als Menschenrechte in den EU-Verträgen zu verankern. Im September 2015 hat das Europa-Parlament die Kommission aufgefordert, ein entsprechendes Gesetz zu erarbeiten, diese hat bis jetzt aber noch keinen Entwurf vorgelegt.

Viele Kommunal- und Länderparlamente haben das Anliegen der Kampagne jedoch durch Beschlüsse unterstützt. Sie war zudem ein Kristallisationspunkt der europaweiten Abkehr von der Privatisierungspolitik in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Während die EU-Kommission nach wie vor auf die "Vollendung des Binnenmarktes" setzt und die weitere Liberalisierung der Dienstleistungsbereiche vorantreiben will, wagten in den vergangenen Jahren immer mehr Kommunen den Schritt zur Rekommunalisierung zuvor privatisierter Betriebe, nicht nur in der Wasserwirtschaft.

Erreicht wurde schließlich auch, dass die Wasserwirtschaft aus der Konzessionsrichtlinie, mit der die EU das Vergaberecht regelt, herausgenommen wurde. Ein wichtiger Schritt, um die kommunale Wasserwirtschaft vor Privatisierung zu schützen. Einem Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen ist es hier punktuell gelungen, der EU einen Strich durch ihre Liberalisierungsagenda zu machen.

Im Bereich der Außenwirtschaft könnte die EU mit den geplanten Abkommen TTIP und Ceta ein echtes Fiasko erleben. Europaweit haben sich in der "Stop TTIP"-Kampagne über 500 Organisationen zusammengefunden, mehr als 3 Millionen Unterschriften gegen TTIP und Ceta gesammelt und ihren Protest mit großen Demonstrationen auf die Straße, aber auch in die Kommunen, Parteien, Betriebe und Institutionen getragen. Wenn das TTIP-Abkommen, wie mittlerweile auch Experten glauben, gar nicht mehr zustande kommt, dann ist das vor allem ein Erfolg dieser Kampagne, die für ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit sorgt und es den Verhandlern schwer macht, sich mit faulen Kompromissen über rechtliche Standards und demokratische Regeln hinwegzusetzen.

Beide Initiativen zeigen, wie Solidarität auf europäischer Ebene heute funktionieren kann. Anders als die Parteien- und Politprominenz stellen die zivilgesellschaftlichen Bündnisse seit Jahren unter Beweis, dass sie in der Lage sind, über politische und ideologische Grenzen hinweg längerfristig zusammenzuarbeiten und für gemeinsame Perspektiven zu kämpfen.

Auf die Dauer wird es jedoch nicht reichen, immer nur EU-Projekte zu verhindern. Die zivilgesellschaftlichen Bewegungen brauchen ihre eigene Agenda. Auch dafür gibt es ein Beispiel: Im Rahmen der Anti-TTIP-Bewegung haben mehr als 50 europäische Organisationen ein alternatives Verhandlungsmandat (ATM) für die EU-Kommission erarbeitet. Sie haben Kriterien für Handels- und Investitionsverträge formuliert, die sich an Zielen wie nachhaltiges Wirtschaften, Menschenrechtsschutz, Verbraucherschutz und Ernährungssouveränität orientieren. Man könnte dieses Konzept ohne weiteres als Grundlage einer solidarischen EU-Außenwirtschaftspolitik nehmen.

Warum sollte es nicht möglich sein, ähnliche Konzepte, beispielsweise für eine solidarische Wirtschafts- und Sozialpolitik, für eine neue Agrar- und Umweltpolitik zu erarbeiten? Auf diesem Weg könnte mit der Zeit eine umfassende europäische Agenda der Solidarität entstehen, eine Alternative zur Wettbewerbsagenda der EU. Die Neugründung eines demokratischen und solidarischen Europas könnte so von den sozialen Bewegungen selbst in Angriff genommen werden.