Weihnachtszeit, Lesezeit: "Indianerbücher" jenseits von Winnetou

Seite 2: Keine heile Welt

Erstens erzählt Radau zwar sehr lebendig und nachvollziehbar von der Arbeit, von der Jagd, vom Lachsfischen, aber eben auch von der Härte der Arbeit, von Mücken, von Hunden: Er romantisiert nicht. Die Schönheit der Natur schildert er nicht abstrakt, sondern man nimmt sie durch die Augen von Little Fox wahr.

Zweitens nimmt der Alkoholismus eine wichtige Rolle im Buch ein. Das ist in der Tat eine verbreitete Krankheit unter den Natives, mit existentiellen Folgen. Auch Weiße trinken – einen nennt der Junge sogar "Mister Whisky".

Vieles sieht man heute klarer, auch was bedenklich ist an diesem Roman ist. Nicht zuletzt das Männer- und Frauenbild ist - zumindest für Mitteleuropäer - veraltet. Man muss kämpfen wie ein Mann. Immerhin: Frauen regieren zuhause; und die indianische Gemeindeschwester holt den Jungen aus dem Alkoholikerhaushalt heraus.

Die weiße Frau seines ersten Chefs veranlasst, dass er ein Bankkonto eröffnet und spart, und wenn er Kleidung braucht, geht sie mit einkaufen und lehrt ihn klug zu wirtschaften und warnt ihn vor Händlern, die gerne Indianer über den Tisch ziehen.

In einer Begegnung mit hier noch als Eskimos bezeichnet Inuit werden diese als schmutzig dargestellt. Andererseits haben sie es fertiggebracht, einen Vielfraß zu erlegen, dessen Pelz besonders wertvoll ist, weil er beim Atmen keinen Raureif annimmt und darum die beste Einfassung für eine Kapuze ist. Das haben weder Trapper-Fred noch Little Fox geschafft.

Dass aber die einzigen im Buch wirklich vorkommenden Inuit schmutzig sind, ist zumindest unglücklich. Eskimos ist eine Fremdbezeichnung und bedeutet "Rohfleischfresser" – was ich in der 5. oder 6. Klasse lernte, was aber dem Autor vielleicht nicht bewusst war.

Auch die Aussage "Weiße sind fleißiger als Indianer" findet sich in dem Buch – als Differenzierung ist wohl Trapper-Freds Aussage "Nicht alle weißen Männer sind klug, nicht alle Indianer sind dumm" gemeint.

Die Kolonialisierung wird in "Großer Jäger Little Fox" zwar problematisiert – vor allem in einer sehr wichtigen Rede von Trapper-Fred: "Dieses Land ist doch einmal euer Land gewesen." (S. 66) Und mit Blick auf den suchtkranken Großvater sagt er: "Wäre der weiße Mann nicht ins Land gekommen, wäre er kein Säufer geworden."

Aber, und das ist ein großes Aber: Der Autor schreibt aus der Sicht eines Angehörigen der dominierenden Kultur. Dass Weiße fleißiger sind, wird nicht bestritten, überhaupt wird der Wert von Fleiß als Tugend nicht bestritten.

Und der Satz: "Dieses Land ist doch einmal euer Land gewesen" enthält das mehr als verräterische Wort "gewesen". Dieses Wort signalisiert Einverständnis mit dem Wechsel der Herrscher. Die "moderne Welt" ist mit den Weißen in Alaska angekommen, die Umstände bedauert der Autor, aber die Ureinwohner müssen sich seiner Ansicht nach nun eben anpassen.

Dennoch gibt es Gründe, warum dieses Buch heute noch lesenswert ist: Erstens, um in der Entdeckung von und der Auseinandersetzung mit dem, was bedenklich ist, Kritikfähigkeit und historisches Denken zu lernen.

Zweitens müssen sich nach der Sichtweise des Autors die Natives zwar der modernen Welt anpassen. Aber dennoch ist der Autor auf der Seite der Trapper. Die Protagonisten der Geschichte sind ein Ureinwohner und ein Weißer, und sie leben nicht in der modernen Welt, sondern sie leben als Trapper in der Wildnis, und dies ist das Ideal von Little Fox.

Drittens und hauptsächlich aber ist das Buch lesenswert wegen der Geschichte, die es erzählt. In "Little Fox" vollzieht sich nämlich ein fundamentaler Wertewandel. Sein anfängliches erstes Ziel war, von den Weißen respektiert werden. Sie waren die moralische Instanz. Zwar ist auch die indianische Gemeindeschwester eine moralische Instanz.

Aber Little Fox identifiziert sich mit den Männern, beschrieben wird eine Männerwelt aus der Sicht eines Mannes. Mit der Zeit aber werden andere Werte immer wichtiger: Erstens die Freiheit und damit die Möglichkeit, sein eigener Häuptling zu sein.

Zweitens, Verantwortung zu tragen: Man "erwischt" kein schlechtes Jagdrevier, man sucht es sich aus. Auch wer sein eigener Herr ist, muss arbeiten. Aber es gibt auch Ferien, man hat ein Recht darauf. Dieser Wertewandel ist zutiefst emanzipatorisch.

Blauvogel – der weiße Adoptivsohn will nicht zu seiner Familie zurück

A.(nna) Jürgen, Blauvogel. Wahlsohn der Irokesen. Otto Maier Verlag Ravensburg, 1966

Anna Jürgen erzählt genau die entgegengesetzte Geschichte zum Roman von Hanns Radau: Little Fox wächst als Ureinwohner bei einem Weißen auf. Blauvogel dagegen wächst als Weißer bei Ureinwohnern auf.

Der Prolog bei "Blauvogel" entspricht dem Epilog bei "Little Fox"

Radau beschließt sein Buch mit einem Epilog über die Kolonialisierung. Jürgen beginnt ihr Buch mit einem Prolog darüber:

"Der Wald war von Anfang an da. Er entstand mit der Erde, lange vor den Menschen." Dann erschafft der Große Geist Bäche und Flüsse. Ein paar Menschen, die dort leben, stören sein Dasein nicht. "Doch eines Tages erschienen hellhäutige Menschen und schnitten mit eisernen Äxten Löcher in die grüne Decke des Waldes", die sich ausbreiten, dann läuft erst der Wald davon, dann die Indianer, Tiere, schließlich die Bäume.

"Aber lange, ehe auch sie fortwanderten, beginnt unsere Geschichte: im ersten Jahr des Krieges um Nordamerika, im Jahre 1755."

Die Autorin verortet ihre Geschichte in einem Schöpfungs- und Zerstörungsmythos. Auf diesen zeitlosen Mythos folgt sofort eine historisch verortete Szene: Ihre Geschichte spielt in Nordamerika, als der Krieg zwischen Engländern, Franzosen und Ureinwohnern beginnt. Georg ist neun Jahre alt und Sohn einer Grenzerfamilie.

Indianer rauben ihn und nehmen ihn anstelle eines verstorbenen Sohnes an, nennen ihn "Blauvogel" und erziehen ihn ihrem Wertesystem entsprechend. Nach vielen Jahren wird er befreit und zu seiner Ursprungsfamilie zurückgebracht – aber er empfindet es nicht als Befreiung, sondern reißt aus und kehrt zu seiner indianischen Familie zurück.

Diese Geschichte hat einen wahren historischen Hintergrund: Zahlreiche puritanische Siedler im 18. Jahrhundert hatten sich Ureinwohnern angeschlossen und wollten nicht in ihre Siedlungen zurückkehren, selbst wenn sie verschleppt worden waren. Dieser Teil der Einwanderungsgeschichte ist zahlreichen Amerikanern nicht bekannt. Mehr dazu findet sich in Sebastian Jungers Buch "Tribe: Das verlorene Wissen um Gemeinschaft und Menschlichkeit" (Blessing-Verlag, 2017)

Auch in "Blauvogel" genannte Personen wie General Braddock und Colonel Bouquet sind historisch, und der Krieg, der den Hintergrund für die Geschichte bildet, hat stattgefunden und war grausam.

Eine Herausforderung für kindliche Leser

Das Buch ist für Kinder ab elf Jahren empfohlen, und es mutet den kindlichen Lesern einiges zu. Es erzählt vom harten Leben der Grenzer, sie müssen Überfälle fürchten und arbeiten, schon der Neunjährige erlebt beides; er muss mit seinem älteren Bruder das Elternhaus zum Arbeiten verlassen, auf dieser Reise wird er von Ureinwohnern geraubt und in einem Hospital der Franzosen untergebracht.

Dort bekommt er mit, wie Ureinwohner und Franzosen gemeinsam die englische Armee vernichten, er sieht Skalps, er hört die Schreie der gefangenen Engländer, die verbrannt werden und merkt, dass die Franzosen nichts dagegen tun.

Er hat Angst, dass die Indianer ihn auch verbrennen wollen und bittet einen der Franzosen, im Hospital bleiben zu dürfen, aber der sagt, dass man seinetwegen nicht mit den verbündeten Stämmen Streit anfangen werde. Dann nehmen die Ureinwohner ihn mit.

Man plumpst nicht in eine heile Welt von "edlen Wilden"

Man erlebt mit dem Neunjährigen die fremde Kultur, die fremde Kleidung, die erste Schnitte Maisbrot mit Bärenschmalz, wie schwer ist es, Brei aus Maisgrieß und Fleisch zu essen, weil es keinen kleinen Löffel für ihn gibt, und bewundert mit ihm die handwerklichen Fertigkeiten der Ureinwohner.

Deren Mehrfamilienhaus besteht aus großen Rindenplatten, die man an einem Gerippe aus Stangen und Pfosten festgebunden hat. "Nirgendwo schimmerte ein Riss, anders als in der elterlichen Blockhütte, die trotz allen Verstopfens mit Moos niemals dicht wurde."

Der Junge kommt zur "Schildkrötenfamilie" aus der Nation der Irokesen, "wie die Weißen die Söhne des Langen Hauses nennen". In diesem Buch aus dem Jahr 1966 zeigt die Autorin schon eine Sensibilität bezüglich der Vereinnahmung durch Namensgebung seitens der Weißen gegenüber den Native Americans.

Der Junge bekommt seinerseits einen neuen Namen – Blauvogel – der sich erst im Laufe des Buches durchsetzt, anfangs nennt ihn die Autorin noch Georg, passend zu seinem eigenen Fremdheitsgefühl. Das Einfinden in die neue Welt wird nicht idealisiert, man plumpst nicht in eine Welt von lauter "edlen Wilden".

Stattdessen beschreibt die Autorin, wie der Junge Heimweh hat und seine Spielkameraden ihn anfangs auslachen, wie schwer es ihm fällt, die neue Sprache zu lernen, und wie selbst seine Adoptivschwester ihn oft genug Dummkopf nennt.

Die anderen Kinder sind bereits im Bogenschießen geschuld, können besser schwimmen, und besonders ein Junge piesackt ihn ständig. Es dauert Jahre, bis Georg allmählich ein Indianer namens Blauvogel wird.

Erst gewinnt er seinen Cousin Rehkalb als Freund - einer der wenigen Recherchefehler im Buch, in Amerika gibt es keine Rehe. Dem Jungen werden seine Fluchtgedanken gleichgültiger, er verändert sich, sein alter Name wird ihm fremd und der Ruf "Blauvogel" immer vertrauter.

Als er sich im Schnee verläuft, erst einen Tag später nach Hause findet und eine Lungenentzündung bekommt, ist er monatelang krank – so wird sein Verhältnis zu den Adoptiveltern, die sich um ihn kümmern, enger. Später weiß er, dass dieser Monate ihn zum Indianer gemacht haben.