Weihnachtszeit, Lesezeit: "Indianerbücher" jenseits von Winnetou

Seite 3: Die "Indianerkriege" – und ihre Gründe

Die Irokesen ziehen jeden Herbst an einen Salzbach und sieden sich einen Vorrat. Der Vater ist gegen die nächste Tour, denn:

Die Langen Messer, die an der Grenze wohnen, schießen auf alles, was […] Mokassins trägt. Wir Irokesen haben uns bis jetzt still verhalten und das Kriegsbeil nicht aufgenommen, nicht einmal nach Braddocks Niederlage. Nur die Lenape kämpfen auf Seiten der Franzosen gegen die Engländer. Aber das kümmert die Engländer nicht, sie halten uns alle für Lenape.


Blauvogel. Wahlsohn der Irokesen, S. 87f

Der Junge weiß, dass die Lenape "die grimmigsten Feinde der Grenzer" sind und fragt den Vater, warum sie nicht ebenso friedlich wie die Irokesen blieben. Da fragt ihn der Vater: "Weiß mein Sohn […], dass die Lenape am östlichen Meer gewohnt haben?"

Der Vater erzählt ihm, dass nicht nur die Lenape, sondern "auch die Shawnee und noch viele weitere Stämme" dort gewohnt hätten. Die ersten Blassgesichter seien mit leeren Händen gekommen und die Lenape "haben ihnen gegeben, was sie brauchten, denn der Rote Mann teilt mit allen Notleidenden.

"Aber je mehr die Lenape gaben, umso mehr Schiffe landeten und umso mehr Weiße betraten ihr Land. Sie machten sich immer breiter, bauten große Dörfer und drängten die roten Menschen zurück. Mit ihren eisernen Äxten schlugen sie die Wälder, mit ihren Gewehren schossen sie die Tiere – und die Lenape mussten schließlich vor ihnen weichen und ihre alte Heimat verlassen."

Weiße Landnahme – die Perspektive der Ureinwohner

Die Autorin lässt einen Ureinwohner diese Geschichte erzählen, es ist keine weiße Autoritätsperson, sondern eine "rote". Und der weiße Junge lernt vom roten Mann.

Unsicherheit befiel den Jungen. Die Welt der Grenzer – für ihn so selbstverständlich – wandte ihn plötzlich ein anderes Gesicht zu. Er hatte mit einem Mal das dumpfe Gefühl, als wäre da irgendetwas nicht in Ordnung mit den [weißen] Leuten.


Blauvogel – Wahlsohn der Irokesen

Der Junge weißt auch zu schätzen, dass es in den indianischen Familien keine Schläge gibt für die Kinder: "Er dachte an die elterliche Blockhütte mit dem Lärm der Geschwister und den reichlichen Prügeln; er dachte an das Schildkrötenhaus, in dem dreimal so viel Kinder wohnten und in dem es doch ruhig herging – ohne Schläge."

Der Großvater erzählt ihm, wie die Angehörigen seiner Familie in drei Generationen zweimal von Weißen in eine andere Gegend vertrieben wurden.

"Aber auch dieses Land mussten wir verlassen, weil die Langen Messer kamen. Die Weißen nennen es jetzt das Juniatatal."

Bei diesem Stichwort schreckt der Junge auf – der ihm vertraute Name der alten Heimat verwandelt ihn. Plötzlich fühlt er sich wieder als Weißer und hat alles vergessen: die neuen Eltern, das Schildkrötenhaus, die Spielgefährten, auch die Ehrfurcht vor dem Großvater.

"Das ist doch unser Land", schreit er auf. "Was jenseits der Berge liegt, gehört den Engländern, den Rotröcken!"

Die leise Antwort des Großvaters fährt wie ein Schlag auf ihn herab. "Und wo liegt des Indianers Land?" Da will Blauvogel ausrufen: "Hier" – aber das Wort blieb ihm in der Kehle stecken.

Hier saßen die Franzosen und beanspruchten alles Land diesseits der Berge. Das hatte auch Kleinbär gesagt; jenseits des Gebirges die englischen Rotröcke, diesseits die Franzosen, und mitten dazwischen der Rote Mann, ohne Heimat.


Blauvogel – Wahlsohn der Irokesen, S.105

Der Lernprozess des Jungen ist schmerzhaft – intellektuell ebenso wie emotional.

Weiße Vorurteile und Gewalt – ein schmerzhafter Seitenwechsel

Bald nimmt die Autorin das Thema der Verdrängung der Natives durch die Weißen ein weiteres Mal auf. Diesmal geht es nicht bloß um die Landnahme, sondern der Junge erkennt, dass die Weißen die Stämme und deren Kultur gar nicht kennen, sie in Unkenntnis verurteilen, und daraus das Recht ableiten, sie zu töten.

Er geht mit den Frauen auf das Feld. Eigentlich ist das keine Männerarbeit – bei Anna Jürgen ist das Bild von Männern und Frauen deutlich offener, es gibt Regeln, aber sie dürfen gebrochen werden. Dem Jungen macht die Arbeit Freude, und er wundert sich, wie effizient die Arbeit vorwärts geht, der Boden ist gut und die Frauen arbeiten zusammen, alle Clans gemeinsam.

Es wirkt auch recht ökologisch, die Mutter sät immer Mais, Bohnen und Kürbisse zusammen, der Mais wächst heran, die Bohnen klettern daran empor und die Kürbisse ranken dazwischen und halten mit ihren breiten Blättern die Feuchtigkeit im Boden.

Währenddessen geht der Vater mit zwölf weiteren Männern auf eine Handelsreise. Als er zurückkehrt, erzählt er, wie die Weißen ihn betrogen und ihn als "indianischen Hund" beschimpft hätten.

Blauvogel schämt sich entsetzlich. Von "indianischen Hunden" haben auch seine Angehörigen gesprochen – und "jeder beliebige Besucher, sobald das Gespräch auf die roten Leute kam, wie oft hatte er früher selbst dieses Schimpfwort in den Mund genommen".

Blitzartig wird ihm klar, "dass er mehr von den roten Menschen wusste, dass er sie besser kannte, dass seine weißen Angehörigen Unsinn redeten, wenn sie von den Indianern sprachen".

Sein weißer Vater hatte behauptet, Indianer lebten nur von der Jagd und zögen dauernd herum, verstünden nichts von Ackerbau, und Blauvogel sieht, dass jeder einzelne Clan mehr Mais anbaut als die Grenzer.

Dann gehen sie zum Salzsieden, die Frauen, die Kinder, mit Packpferden und Gerätschaften, und fünf Kriegern als Schutz. Und da werden sie von Weißen überfallen, die mit ihren Gewehrkolben auf eine Tante und ihr Kleinkind einprügeln und sie wahrscheinlich töten. Auch drei Männer sind tot, die übrigen verwundet.Unter diesen Banditen hätten auch sein leiblicher Bruder oder der Vater sein können.

Der Gedanke tauchte so schnell unter, wie er kam, denn das Gehirn fasste ihn nicht. Dafür schnellte eine andere Vorstellung hoch, die immer wieder kehrte wie der Schwimmer einer Angel, an der ein Fisch reißt: Die Lenape hatten recht, sie vergalten nur, was sie zuerst tausendfach hinnehmen mussten. Die Weißen nahmen nicht nur das Land, sie mordeten auch. Er würde es den weißen Mördern heimzahlen.


Blauvogel – Wahlsohn der Irokesen, S. 116

Der Junge ist angeschossen und erholt sich lange nicht. Der Vater ist zu einem Rachefeldzug aufgebrochen, er erbeutete acht Packpferde, auch mit Salz. Aber sie haben kaum noch Pulver, die Vorräte sind zur Neige gegangen, und die Jagd bringt keinen Erfolg. Die Indianer hungern. Da geht der Junge heimlich mit einem Gewehr allein auf die Jagd.

Und es gelingt ihm, einen Bären, der seinen Winterschlaf hält, zu schießen. Von da an wendet sich das Blatt, auch andere Jäger haben Glück, und die Indianer besinnen sich auf ihre eigenen Fähigkeiten. Die Jahre vergehen, der Junge lernt immer mehr, er bekommt eine eigene Strecke mit fünf Fallen und erlegt einen Hirsch mit Pfeil und Bogen.

Wieder der Krieg

Das Fort du Quesne wird erobert, Quebec fällt, und die Franzosen, die Verbündeten der Lenape, werden verjagt. Der Krieg endet, die Handelsstationen fallen in englische Hand. Dann hört man immer mehr von einem indianischen Napoleon namens Pontiac, er sollte ein Ottawa Häuptling sein.

Er ruft die Indianer auf, sich mit den Franzosen zu verbünden und gegen die Engländer zu kämpfen. Die Lenape nehmen das Kriegsbeil auf, die Irokesen nicht.

Eines Tages kommen zwei englische Händler ins Dorf, sie sind dreckig und haben schlechte Manieren, und der eine fragt den blonden Jungen, "willst du mit uns gehen, weg von den indianischen Hunden?" Der Gefragte weist das entschieden zurück.

Dann nimmt der Vater Blauvogel und zwei andere große Jungen mit auf einen Jagdzug. Unterwegs gelangen sie ein verlassenes indianisches Dorf, die Einwohner haben sich vor Colonel Bouquet, dem neuen Anführer der Rotröcke, versteckt.

Die sind beim Eriesee eingefallen und Bouquet bietet eine zahlenmäßige Übermacht auf. Nun droht er den Indianern an, ihre Dörfer zu verbrennen, ihre Obstbäume zu fällen und ihre Vorräte zu vernichten. Es sei denn, die Häuptlinge erscheinen zu Verhandlungen.

Die Engländer unter Bouquet bieten den Indianern Frieden an, unter der Bedingung, dass diese alle Gefangenen, auch die adoptierten, die sich nicht mehr als Gefangene empfinden, ausliefern.

Der Junge muss zu den Weißen, zusammen mit sehr vielen anderen Kindern weißer Herkunft. In 17 Tagesmärschen bringen die Weißen die Kinder und Jugendlichen ins Fort du Quesne, inzwischen "Fort Pitt", wo die indianischen Eltern, die dem Zug noch gefolgt sind, umkehren müssen.

Die Autorin beschreibt, wie die Kinder und ihre indianischen Eltern sich nicht trennen möchten, wie schrecklich die Abschiede sind.

Dann geht es weiter in die Herkunftsstadt des Jungen, früher Raystown, dann Bedford. Die Namensänderungen schockieren den Jungen, er begreift, dass sich die Welt der Weißen sehr geändert hat, während er bei den Ureinwohnern lebte. Der Bruder holt Blauvogel ab.

Die beiden erkennen einander kaum wieder, und der Junge erfährt, dass seine Eltern inzwischen gestorben sind. Dann gehen sie in das alte neue Elternhaus des Jungen, der Bruder hat inzwischen ein neues Haus gebaut. Außerdem hat er sehr viel Wald gerodet und Äcker angelegt.

Hier schlägt die Autorin einen Bogen zum Schöpfungs- und Zerstörungsmythos am Anfang ihres Buches: Die Weißen dringen ins Land ein, zerstören den Wald und vertreiben die Ureinwohner.

Die Geschichte von Georg/Blauvogel hat mehrere Ebenen: Erstens ist die Geschichte dieses bestimmten Jungen. Zweitens ist sie eine typische Geschichte aus der Zeit, denn es kam häufiger vor, dass Indianer weiße Kinder entführten und aufzogen. Drittens wird sie Teil des Mythos, denn die weiße Familie gehört zu den Eindringlingen, und sie erobert auch das (eigene) Kind zurück.

Doch der Junge wird mit seiner Herkunftsfamilie nicht warm, seine Schwestern stellen Fragen und hören bei den Antworten nicht zu, das Essen schmeckt ihm nicht, und vom ersten Tag an muss er mit den anderen arbeiten, und diese Arbeit ist er nicht gewohnt. "Die Tage vergingen mit dringender Arbeit, eine ständige Hast schien allein zu regieren, und es konnte nichts schnell genug gehen."

All diese Erlebnisse stehen im Gegensatz zu seinen Erlebnissen bei den Ureinwohnern, wo man bei der Arbeit sang und sich Zeit ließ und vor allem gemeinsam arbeitete.

Er kommt mit dem Pastor ins Gespräch, der schockiert ist, dass der Junge nichts mehr weiß vom christlichen Glauben. Beim nächsten Gottesdienst betet er öffentlich für ihn: "Er ist in seinem Herzen ein Heide geworden; zeige ihm den rechten Weg und erleuchtet ihn mit deiner Gnade und Barmherzigkeit."

Damit macht er den Jungen zum Außenseiter. Eines Tages bekommt Georg alias Blauvogel mit, wie ein Pferdefuhrwerk in die Nähe seiner indianischen Eltern fahren will. Er nutzt die Gunst der Stunde, reißt aus, fährt mit, wird abgesetzt und findet zu seinen indianischen Eltern zurück. Die Familie ist glücklich. Hier darf sich der Junge nach den Strapazen ausruhen. Er ist wieder zu Hause. Und der Zerstörungsmythos ist durchbrochen.

Während Radau durchklingen lässt, dass der Alkoholismus unter Native Americans nicht nur weit verbreitet und Ursache für viele Probleme ist, sondern auch, dass man für sein Schicksal selber verantwortlich sei, ergreift Jürgen viel direkter Partei für die Ureinwohner.

Nur einmal betrinkt sich ein Indianer, und das, weil Weiße ihm ein Fell günstig abnehmen wollen – der Vater des Jungen ist dabei und macht den Betrug rückgängig, indem er den Weißen androht, gar nicht mit ihnen Handel zu treiben.

Vielleicht ist das Buch von Jürgen hart gegenüber den Weißen, aber angesichts des schreienden Unrechts, das Weiße an Ureinwohnern begangen haben, auch unter bewusstem Einsatz von Alkohol ist diese Sichtweise zumindest nicht verwerflich.

Insgesamt zwei lesenswerte Bücher mit unterschiedlichen Sichtweisen.