Welche Zeitenwende der Ukraine-Krieg wirklich bringen wird
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wäre vermeidbar gewesen. Warnende Stimmen gab es genug. Wie strategische Konzepte der USA zum Verständnis der Eskalation beitragen. (Teil 2 und Schluss)
Bitte beachten Sie zu diesem Text die Stellungnahme von Telepolis-Chefredakteur Harald Neuber.
Mit dem Messer, das der Westen unter Führung der USA Russland seit über dreißig Jahren immer näher an die Kehle gesetzt hatte, war die politische Führung nach Darstellung Moskaus gezwungen, zu militärischen Mitteln zu greifen, um sich das Heft des Handelns nicht völlig aus der Hand nehmen zu lassen.
Aus russischer Sicht kam etwas Weiteres hinzu. Wäre es zu einer erfolgreichen "Deokkupation" der beiden Donbas-Provinzen und ggf. auch der Krim gekommen, wäre ein entscheidendes Hindernis für die Aufnahme der Ukraine in die Nato entfallen. Bei den Erweiterungen der Nato gilt nämlich die ungeschriebene Regel, dass kein Staat beitreten kann, der ungelöste territoriale Konflikte mit einem Nachbarstaat hat. Diese Regel ergibt sich implizit aus Artikel 101 des Nordatlantikvertrags.
Insofern unterscheidet sich der russische Völkerrechtsverstoß von den Verstößen der USA seit 1990. Ersterer ist nach Moskauer Verständnis defensiv, die Letzteren waren objektiv gesehen offensiv, um den Einfluss der – das muss ganz klar benannt werden – raumfremden USA in Eurasien auszuweiten. Die USA sind keine europäische Macht.
Wenn wir hier die Geschichte des "Vorkrieges" beenden und die Frage stellen, ob sowohl der jetzige Krieg, als auch die zunehmenden Spannungen zwischen USA/Nato/EU und Russland seit Mitte der 2000er-Jahre vermeidbar gewesen wären, kann sie nur mit Ja beantwortet werden.
Selbst in den USA hatte es an warnenden Stimmen nicht gefehlt, die eine Entwicklung voraussagten, die der heutigen Lage, einschließlich der innenpolitischen in Russland, sehr nahekommt. George F. Kennan, wahrlich kein "Appeaser", 1997:
Warum sollten sich die Ost-West-Beziehungen bei all den hoffnungsvollen Möglichkeiten, die das Ende des Kalten Krieges mit sich bringt, auf die Frage konzentrieren, wer mit wem verbündet ist und folglich gegen wen in irgendeinem phantasievollen, völlig unvorhersehbaren und höchst unwahrscheinlichen künftigen militärischen Konflikt?...
Kurz gesagt: Die Erweiterung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Zeit nach dem Kalten Krieg. Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Öffentlichkeit anheizen, sich negativ auf die Entwicklung der russischen Demokratie auswirken, die Atmosphäre des Kalten Krieges in den Ost-West-Beziehungen wiederherstellen und die russische Außenpolitik in eine Richtung lenken würde, die uns ganz und gar nicht gefällt ...
Jack Matlock, Botschafter in der Sowjetunion von 1987 bis 1991:
1997, als es um die Frage der Aufnahme weiterer Mitglieder in die Nordatlantikvertragsorganisation (Nato) ging, wurde ich gebeten, vor dem Ausschuss für auswärtige Beziehungen des Senats auszusagen. In meinen einleitenden Bemerkungen gab ich die folgende Erklärung ab:
"Ich halte die Empfehlung der Regierung, zum jetzigen Zeitpunkt neue Mitglieder in die Nato aufzunehmen, für verfehlt. Sollte sie vom Senat der Vereinigten Staaten gebilligt werden, so könnte sie als der größte strategische Irrweg in die Geschichte eingehen, der seit dem Ende des Kalten Krieges gemacht wurde. Weit davon entfernt, die Sicherheit der Vereinigten Staaten, ihrer Verbündeten und der Staaten, die dem Bündnis beitreten wollen, zu verbessern, könnte sie eine Kette von Ereignissen fördern, die zur größten Sicherheitsbedrohung für diese Nation seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion führen könnte"
Die logische, weitere Frage lautet also: warum wurde der Weg der Osterweiterung des Bündnisses trotzdem beschritten? Die Antwort findet sich in einem Dokument des Wissenschaftlichen Dienstes des amerikanischen Kongresses (Congressional Research Service) vom Januar 2021.
Dort ist zu lesen, dass es ein Element der US-amerikanischen Politik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gewesen sei, die Entstehung regionaler Hegemone in Eurasien zu verhindern.
Jedoch sei auch die Teilnahme am Ersten und Zweiten Weltkrieg, der Korea-Krieg und der Vietnam-Krieg unter diesem Aspekt zu sehen. Diese über lange Jahrzehnte bestehende strategische und geopolitische Konzeption, die sich auch in den oben erwähnten Strategiepapieren von Paul Wolfowitz und dem PNAC und bei Zbigniew Brzeziński widerspiegelt, ist in Deutschland und der EU weitgehend unbekannt.
Sie geht zurück auf den britischen Geografen und einflussreichen Politikberater (Berater der britischen Delegation in Versailles) Halford Mackinder zurück, der in seinem Aufsatz von 1904, "The Geographical Pivot of History", die Beherrschung der "Weltinsel"(= Eurasien) als Voraussetzung für die globale Dominanz beschrieb. 1919 erweiterte er diese Vorstellungen in seinem Buch Democratic Ideals and Reality und formulierte hier eine Kurzform seines Konzeptes:
Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland.
Wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel.
Wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.
Über die Verbindungen amerikanischer politischer und akademischer Kreise der USA mit denen in Großbritannien2 übernahmen die USA als Nachfolger des britischen Empire diese geopolitischen Vorstellungen.3
Russland ist im Wesentlichen identisch mit dem Herzland. Für die USA mit ihrem globalen Herrschaftsanspruch kommt es folglich darauf an, Russland entweder in den westlichen Orbit einzuschmelzen – wie es unter Jelzin fast gelungen wäre – oder zu verhindern4, dass über die engere wirtschaftliche und politische Verbindung mit dem industrialisierten Westeuropa/Deutschland eben der regionale Hegemon in Eurasien entsteht, der international die USA auf die Rolle eines zwar bedeutenden Akteurs, aber nur einen unter mehreren einflussreichen Akteuren begrenzen würde.
Die Nato-Osterweiterung ist unter diesem Aspekt zu sehen: Schaffung eines Riegels zwischen Westeuropa und Russland, wie in der Konferenz von Bratislava im Jahr 2000 angekündigt, deren Ergebnisse Willy Wimmer in einem Brief an den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) dokumentiert hat.5
Die seit 2014 und nach dem 24. Februar 2022 weiteren verhängten Sanktionen gegen Russland dienen aus US-amerikanischer Sicht dazu, Russland massiv zu schwächen und die in Jahrzehnten aufgebauten wirtschaftlichen Verbindungen, besonders mit Deutschland, zu kappen. Dies ist vorläufig mit dem Rückzug zahlreicher westeuropäischer Firmen aus Russland und dem Stopp von Nord Stream 2 gelungen. Der US-Ökonom Michael Hudson in seinem Kommentar vom Februar: "Amerika besiegt Deutschland zum dritten Mal in einem Jahrhundert".
Wirtschaftlich werden die geplanten weiteren Sanktionen und die Embargos gegen russische Energieträger und Rohstoffe der EU und Deutschland erheblich schaden. Die Stimmen aus der Industrie sprechen Bände. BASF-Chef Brudermüller:
Wollen wir sehenden Auges unsere gesamte Volkswirtschaft zerstören?
Die zu erwartenden Auswirkungen sind Teil der US-Strategie, denn ein geschwächtes und weniger produktives Deutschland, des wirtschaftlich stärksten EU-Mitgliedes, wird die EU als konkurrenzfähigen Wirtschaftsraum schwächen, zumal die US-Volkswirtschaft durch die Verlagerung der produktiven Teile seit mehr als dreißig Jahren besonders nach China und andere asiatische Länder in einem hohen Maß deindustrialisiert und zu siebzig Prozent eine durch Schulden finanzierte Konsumwirtschaft ist.
Das jährliche Handelsbilanzdefizit der USA betrug 2021 fast 900 Milliarden US-Dollar. Die Attraktivität des Europäischen Wirtschaftsraumes als Konkurrent der USA soll damit massiv sinken.
Die sich bereits abzeichnenden negativen Rückwirkungen auf die Rolle des US-Dollars als Welthandels- und Reservewährung Nr. 1 waren sicherlich nicht einkalkuliert, bekanntlich kommt Hybris vor dem Fall.
Der Russland versperrte Zugang zum Swift-Zahlungssystem und das Konfiszieren seiner Devisen treibt die Entwicklung einer Alternative im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion Union und der Shanghai Cooperation Organization plus ggf. Asean voran.
Länder, die ihre Devisenreserven und andere Guthaben bei westlichen Banken deponiert haben, werden Vorsorge treffen, dass ihnen nicht dasselbe passiert, wenn sie sich amerikanischem Druck verweigern. Das Potenzial ist erheblich, denn die 35 Staaten, die sich in der UN-Generalversammlung bei der Verurteilung Russlands enthalten haben, repräsentieren mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung (4,1/7,9 Milliarden).
Auch sie kommen als künftige Partner für eine Alternative in Frage. Indien, China und die Türkei zahlen russische Energie bereits in ihrer nationalen Währung. Die von Russland definierten "unfreundlichen Staaten" müssen russisches Gas in Rubel bezahlen, der damit – in Anlehnung an den Begriff Petrodollar – zum "Petrorubel" geworden ist.
Eine Gesamtsicht auf diesen Blowback gibt es in dem Beitrag der US-amerikanischen Anwältin Ellen Brown und in einem Beitrag des US-Ökonomen von Michael Hudson. Da Russland nicht nur Energielieferungen, sondern auch unverzichtbare andere Rohstoffe wie Nickel, Zinn, Palladium, Titan, Seltene Erden und Düngemittel künftig mit Rubel bezahlen lassen wird, zeichnen sich erhebliche Änderungen im Weltfinanzsystem ab. Alasdair Macleod und ein Analyst von Credit Suisse haben dazu bereits Papiere veröffentlicht.
Zeitenwende? Ja, allerdings ganz anders, als von der Bundesregierung verkündet
Wie auch immer der Ausgang in der Ukraine sein wird, eines ist sicher: Die wirtschaftlichen Auswirkungen werden in den kommenden Jahren für alle spürbar sein, da sich die Welt zwischen dem Westen und einem sich rasch neu formierenden Eurasien aufteilt.
EU-Europa/Deutschland haben sich dem amerikanischen Sanktionszwang gebeugt und sind auf noch nicht absehbare Zeit Gefangene einer Weltmacht, die sich mit allen Mitteln gegen ihren zunehmenden Bedeutungsverlust stemmt, siehe Andre Gunder Franks spöttische Überschrift in diesem Aufsatz aus dem Jahr 2005.6
Frank hat bereits in seiner Studie "ReOrient" (1998) postuliert, dass der Schwerpunkt der globalen Wirtschaft dorthin zurückkehrt, wo er Jahrtausende bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts lag, nach China. Die Frage nach den Motiven unserer Politiker, sich zum eigenen Nachteil dem amerikanischen Druck zu beugen, kann man vielleicht unter Abwandlung eines Marx-Zitats so ausdrücken: Freiheit ist die Einsicht in die amerikanische Notwendigkeit.
Zu erwarten ist im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) ein massiver Wohlstandverlust mit steigender Arbeitslosigkeit, wegbrechenden Absatzmärkten, begleitet von sozialen Spannungen und Unruhen, wofür die Proteste der "Gelbwesten" in Frankreich einen Vorgeschmack bieten.
Die Zukunft Europas westlich der Grenzen der Russischen Föderation steht auf dem Spiel, während Eurasien, Mackinders "Weltinsel", von Osten mit dem Seidenstraßenprojekt BRI ökonomisch durch Investitionen in Infrastruktur und die Realwirtschaft entwickelt wird, ein Prozess, von dem sich der EWR unter Druck entkoppelt hat.
Bleibt dieser Zustand über einen längeren Zeitraum bestehen, wird der EWR in die totale wirtschaftliche und sicherheitspolitische7 Abhängigkeit von den USA geraten, eine Deindustrialisierung erleben und als Akteur für eine polyzentrische Weltordnung ausfallen.
Um aus dieser Falle, in die sich die Regierungen der europäischen Nato-Mitglieder – möglicherweise unter Druck, letztlich jedoch willig – hineinbegeben haben, herauszukommen, müssen unsere Politiker als Grundvoraussetzung zunächst erkennen, auf welch abschüssige Bahn sie sich mit ihrer Vasallentreue begeben haben. Zu befürchten ist jedoch, dass sich diese Einsicht auf rationalem Weg nicht einstellen wird.
Erst die durch die Folgen der Sanktionen abzusehenden innenpolitischen/gesellschaftlichen Verwerfungen dürften einen Umdenkprozess einleiten und die Erkenntnis befördern, dass Europa, "als westliche Halbinsel Groß-Eurasiens" nur dann eine unabhängige Zukunft haben kann, wenn darauf hingearbeitet wird, mit den Staaten dieses riesigen Kontinents eine gedeihliche politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu gestalten.
Der Leiter des russischen Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, Sergei Karaganow hofft, dass diese Entwicklung in zehn Jahren dazu kommen wird. Den klaren Blick des ehemaligen EU-Kommissars Günter Verheugen (SPD) sucht man derzeit unter den aktiven deutschen Politikern vergeblich.
Wären die europäischen Mitgliedsstaaten der Nato Verbündete auf Augenhöhe, wäre es ihre Aufgabe, auf die USA einzuwirken, ihren Hegemonialanspruch aufzugeben, weil er unter den sich abzeichnenden wirtschaftlichen Schwerpunktverlagerungen keine Chance mehr auf Realisierung hat.
Denn der Rest der Welt wird den USA nicht mehr die Schulden finanzieren, je mehr die Rolle des US-Dollars als Reservewährung bröckelt. Dies beträfe besonders das Budget des Pentagons und die Machtprojektion mit Hilfe der über 800 Basen außerhalb der USA.
Klarzumachen wäre den USA, dass sich eine Win-win-Strategie für sie zur Lösung ihrer gesellschaftlichen Probleme selbst auszahlt, ganz zu schweigen von den weltweit frei werdende Mitteln für die Armutsbekämpfung.
Mit dem derzeitigen politischen Personal dürfte es beim Konjunktiv bleiben.
Der Artikel ist erschienen in:
Kraft, Stefan / Hofbauer, Hannes (Hg.)
Kriegsfolgen
Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert
Promedia New Edition
ISBN: 978-3853715116
Print: € 23,00, E-Book: € 18,99
Redaktionelle Anmerkung: Die Bezeichnung des russischen Angriffskrieges als defensiv wurde korrigiert und als Position Moskaus kenntlich gemacht.