Welt am Rande des Weltkrieges?
Das türkische Regime bemüht sich nach Kräften, den Konflikt in Syrien zu eskalieren - und so den Nato-Bündnisfall auszulösen
Am 13. Februar starteten die türkischen Streitkräfte einen massiven Artilleriebeschuss der Stellungen der Demokratischen Kräfte Syriens (SDF), einer säkular-demokratischen Militärallianz kurdischer, sunnitischer und aramäischer Gruppen, die in den vergangenen Tagen bedeutende Geländegewinne im sogenannten Azaz-Korridor gegenüber islamistischen Militärformationen erzielen konnte.
Die Kurdischen Volksverteidigungseinheiten YPG bilden das organisatorische Rückgrat dieser Allianz, die von den USA wie von Russland militärisch unterstützt wird.
Gegen SDF und gegen syrische Armee
Das mehrständige Bombardement, das mit Gegenangriffen islamistischer Gruppen koordiniert wurde traf die gesamte Front der SDF von Azaz bis Deir Jamal. Einen Schwerpunkt des Bombardements bildete der Menagh-Luftwaffenstützpunkt, der vor wenigen Tagen von den Einheiten der SDF nach kurzen Gefechten mit islamistischen Gruppen erobert wurde.
Artilleriebeschuss wurde auch aus dem Osten Rojavas gemeldet, unweit eines von den Vereinigten Staaten in den vergangenen Wochen aufgebauten Flugplatzes.
Zudem gingen die türkischen Streitkräfte dazu über, Einheiten der mit Russland verbündeten Syrische Armee (SAA) in der Provinz Latakia zu bombardieren, die in den vergangenen Tagen Geländegewinne gegen die von der Türkei und Saudi-Arabien unterstützten Islamisten erringen konnten.
Unbestätigten Berichten zufolge sollen die syrischen Streitkräfte das Feuer auf die türkischen Artilleriestellungen erwidert haben.
Truppen an der syrischen Grenze zusammengezogen
Zugleich verlegt Saudi-Arabien Kampfflugzeuge auf den türkischen Luftwaffenstützpunkt Incirlik, die in den kommenden Tagen mit der Bombardierung Syriens beginnen sollen. Der Hintergrund: Die türkischen Luftstreitkräfte sind nicht mehr in der Lage, über syrischem Territorium Luftschläge auszuführen, nachdem die Türkei ein russisches Kampfflugzeug abschoss und Moskau im Gegenzug das moderne S-400-Luftabwehrsystem in Syrien installierte.
Offiziell sollen sich die Luftschläge der Saudis gegen den Islamischen Staat richten, doch die bisherige Vorgehensweise bei der türkisch-saudischen Intervention - bei den bisherigen türkischen Artillerieangriffen gegen syrisches Territorium wurde kein einziges Ziel des Islamischen Staates beschossen - legt den Schluss nahe, dass die Saudis die türkische Luftwaffe bei ihrem eskalierenden Krieg gegen die Kurden ersetzen sollen.
Zudem verdichten sich die Zeichen für eine Bodenoffensive der Türkei und Saudi-Arabiens. Die Türkei hat schon vor Tagen Truppen an der syrischen Grenze zusammengezogen, was Anschuldigungen Moskaus über eine bevorstehende türkische Invasion nach sich zog.
Der saudische Außenminister hat vor wenigen Tagen gegenüber CNN betont, alles zu tun, um den syrischen Präsidenten Assad zu stürzen und auch zu einer Bodenoffensive bereit zu sein (vgl. Saudisches Bodentruppen-Kontingent für "Einsatz in Rakka"). Saudische Truppen wurden bereits in die Türkei verlegt, meldete der Independent.
Weshalb diese Eskalation?
Es stellt sich somit die Frage, wieso Saudi Arabien und die Türkei eine solch unkontrollierbare Eskalation betreiben, die sehr leicht in einen verheerenden Weltbrand ausarten könnte? Die Antwort fällt zuerst recht banal aus: Sie sind dabei zu verlieren.
Die sunnitisch-islamistischen Kräfte in Syrien, die von den Islamisten in Riad und Ankara unterstützt werden, sind gerade in die strategische Defensive geraten. Nach jahrelanger Unterstützung der heimischen und vor allem zugereisten Gotteskrieger diverser Couleur in Syrien steht die sunnitische Achse vor einem geopolitischen Scherbenhaufen.
Insbesondere der türkische Staatschef Erdogan ist mit seiner neoimperialen Politik grandios gescheitert, die auf die Errichtung eines neo-ottomanischen, islamistischen Großreiches im Nahen Osten abzielt: Assad konnte nicht gestürzt werden, sein militärischer Sieg ist ohne eine weitere Intervention nur eine Frage der Zeit.
Die Kurden, gegen die Erdogan einen massenmörderischen Terror-Feldzug im Südosten des Landes entfachte, haben sich bislang zu keinen terroristischen Aktionen hinreisen lassen. Im Gegenteil: Die SDF standen kurz davor, den nördlichen Versorgungskorridor der Islamisten in Syrien an der türkischen Grenze - der zwischen Azaz im Westen und Jarabulus im Osten verläuft - gänzlich zu kappen.
Die Kurden als einzige nennenswerte säkulare Kraft in dem syrischen Bürgerkrieg konnten dabei nicht nur auf die (vorsichtige) taktische Unterstützung der USA zählen, sondern auch auf diejenige Russlands - spätestens nach dem Abschuss der russischen Militärmaschine durch türkische Flugzeuge im vergangenen November.
Es war insbesondere die Weigerung Washingtons, die syrischen Volksverteidigungseinheiten YPG, die zu den effektivsten Kämpfern gegen den "Islamischen Staat" gehören, zu einer "terroristische Organisation" zu erklären, die Erdogan regelrecht in Rage versetzte: "Ich habe euch viele Male gesagt: Seid ihr mit uns oder den Terrororganisationen," wetterte Erdogan gegenüber Washington (vgl. Erdogan: "Wir können die Tore nach Griechenland und Bulgarien jederzeit öffnen").
Die "Terrororganisationen", das sind für den türkischen Staatschef eben diejenigen Kurden, die dem Islamischen Staat eine strategische Niederlage in Kobane bereiteten und die Jesiden im Nordirak vor dem Genozid durch diejenigen Islamisten bewahrten, die von der Türkei de facto unterstützt werden. Die USA sollen sich laut Erdogan zwischen den Kurden und der Türkei entscheiden.
Und genau dieser Logik folgt die derzeitige Eskalationstratege der autoritären und zunehmend offen islamistisch agierenden Führungsriege in der Türkei, die jahrelang mittels massiven Ölschmuggels den Islamischen Staat aufbaute, der nun kurz vor dem Kollaps steht. Wir oder sie? Dies soll durch eine militärische Eskalation erreicht werden, die Ankara provozieren will.
Globales Kräftemessen zwischen Westen und den "eurasischen" Großmächten
Konkret sollen die USA und die NATO zu einer eindeutigen Parteinahme für das türkischen Expansionsstreben in der Region genötigt werden. Sollte Russland auf die Angriffe der Türkei auf das syrische Staatsterritorium - die ja faktisch einen Kriegsakt darstellen! - militärisch antworten, wird die Türkei Himmel und Hölle in Bewegung setzten, um den NATO-Bündnisfall auszurufen. Hierdurch rückt ein Großkrieg zwischen dem Westen und Russland in greifbare Nähe.
Denn selbstverständlich werden die regionalen Konfliktlinien um die Dominanz im Nahen Osten zwischen dem schiitisch-alawitschen Block (Syrien, Iran) und der sunnitischen-islamistischen Achse (Golfdespotien und Türkei) überlagert von dem globalen Kräftemessen zwischen dem Westen und den "eurasischen" Großmächten Russland und China.
Das Va-banque-Spiel Erdogans und der saudischen Despotie um Syrien könnte den Funken bilden, der die krisenbedingt zunehmenden geopolitischen Spannungen in einen verheerenden Großkrieg entladen würde. Die spätkapitalistische Welt befindet sich - angesichts des akut drohenden abermaligen Krisenschubs - in einer Vorkriegszeit, da in vielen Staatsapparaten die Tendenz aufkommt, die zunehmenden inneren Widersprüche und Verwerfungen durch äußere Expansion zu kompensieren. Parallelen zu der Vorkriegszeit in den 1930er Jahren stellen sich ein - mit dem Unterschied, dass das Vernichtungspotenzial nun ungleich höher ist.
Für den Westen stellt sich somit die Frage, ob er bereit ist, für die rücksichtslose imperialistische Politik des türkischen Regimes, das im Endeffekt eine islamo-faschistische Ideologie propagiert und blanken Massenmord in den Kurdengebieten der Türkei begeht, einen Weltkrieg zu riskieren. In ersten Stellungnahmen blieben Vertreter der USA ambivalent, indem sie die Türkei aufforderten, den Artilleriebeschuss der SDF einzustellen, und die Kurden davor warnten, weiter im Azaz-Korridor vorzurücken.
Der türkische Artilleriebeschuss Syriens wurde dennoch am Sonntag fortgesetzt, während der russische Präsident Putin mit seinem amerikanischen Amtskollegen Obama per Telefon eine dringliche Unterredung über die Lage in Syrien abhielt.