Weltkarte der urbanen Hilfsbereitschaft

Beim Vergleich der Hilfsbereitschaft von Großstadtbewohnern aus aller Welt war das erste Hindernis die Voreingenommenheit

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Falls Sie zufällig vorhaben sollten, auf Ihrer nächsten Weltreise einen Kugelschreiber auf offener Straße zu verlieren, sollten sie dies möglichst in Rio de Janeiro tun. Dort haben Sie die allerbesten Chancen, dass eine freundlicher Zeitgenosse Ihr Schreibgerät vom Asphalt sammelt und es Ihnen umgehend zurückgibt. In Kuala Lumpur hingegen wäre es besser, stets ausreichend Stifte mit sich zu führen, denn nur jeden vierte unachtsam fallen gelassene Kuli dürfte Ihnen dort hinterhergetragen werden. Das zumindest suggeriert eine aktuelle Studie, die die Hilfsbereitschaft von Großstadtbewohnern vergleichen will.

Der New Yorker Psychologieprofessor Robert V. Levine bemüht sich seit fast 15 Jahren systematisch, die Bereitwilligkeit von Passanten zu einer spontanen Hilfegeste experimentell zu erforschen und einen Vergleichskatalog internationaler Städte zu erstellen. In der aktuellen Ausgabe des American Scientist stellt er nun den augenblicklichen Stand seiner Forschung vor.

Erste praktische Studien unternahmen Levine und seine Studenten bereits Anfang der neunziger Jahre, damals noch auf 36 Orte innerhalb der USA beschränkt. Anhand von fünf unterschiedlichen Experimenten und Fragestellungen prüften sie die lokalen Unterschiede der spontanen Ritterlichkeit:

  1. Ein Lockvogel lässt auf einer belebten Straße einen Stift fallen. Wird dieser aufgehoben und ihm zurückgegeben?
  2. Ein Mann mit Gipsbein lässt einen Stapel Zeitschriften fallen. Wird man ihm helfen, diese wieder aufzusammeln?
  3. Eine Person, die vorgibt blind zu sein, steht am Fußgängerüberweg einer stark befahrenen Kreuzung. Helfen ihm Passanten, die Straße zu überqueren?
  4. Jemand möchte Kleingeld wechseln, um Münzen für die Telefonzelle zu erhalten. Wird ihm dieser Wunsch erfüllt?
  5. An stark frequentierten Orten werden adressierte und frankierte Briefumschläge ausgelegt. Wie hoch ist der Prozentsatz von Briefen, die tatsächlich ihren Adressaten erreichten?

Die Ergebnisse dieser ersten, nationalen Versuchsserie waren nicht wirklich überraschend: New York landete abgeschlagen auf dem letzten Platz und generell lies sich der Trend diagnostizieren, dass hilfsbereite Menschen in Orten mit hoher Bevölkerungsdichte wesentlich seltener anzutreffen sind, als in ländlicheren Gebieten. Bemerkenswert ist allerdings, dass andere Einflüsse, wie beispielsweise wirtschaftliche Rahmenbedingungen, die Kriminalitätsrate oder Stressfaktoren wie Lärm und Luftverschmutzung bei weitem nicht so einen hohen Einfluss auf den Freundlichkeitsindex zu haben scheinen, wie eben das Bewohner/Platz-Verhältnis.

Von diesen Erfolgen beflügelt machten sich Levines Assistenten und Studenten danach in alle Welt auf, um mit diesen fünf Experimenten eine Art Weltkarte des Altruismus zu erstellen. Hunderte von Kugelschreibern fanden zwischen San Salvador und Jakarta ihren Weg auf die Trottoirs, genauso wie die Zeitschriften von vorgeblich ungeschickten Gipsbeinträgern. Junge Menschen, bewaffnet mit Sonnenbrillen und Blindenstöcken standen in Stockholm genauso hilflos an den Ampeln herum wie in Nairobi. Und insgesamt 800 Briefe landeten auf den Marktplätzen von Schanghai oder Bukarest, wo Vorübergehende bereits fleißig um den Wechsel von Hartgeld gebeten wurden.

Andere Länder, andere Sitten

Doch schnell mussten die Kartografierer der Freundlichkeit eine bittere Erkenntnis verdauen: Offensichtlich war die Idee, ein daheim in den USA erfundenes Gentlemenship-Messsystem könne eins zu eins in anderen Ländern ebenso funktionieren, etwas naiv gewesen. Zu viele soziokulturelle Unterschiede waren von den Psychologen wohl nicht bedacht worden. Am Anfälligsten für lokale Besonderheiten stellte sich das Experiment mit dem liegen gelassenen Brief heraus:

  1. In vielen Orten nahmen die Bürger vor den ausgelegten Köder-Dokumenten gerade zu Reißaus. In Tel Aviv, wo Angst vor Briefbomben und vergifteten Postsendungen vorherrscht, wurden die verdächtigen Schriftstücke weiträumig umlaufen.
  2. In El Salvador wird eine dort häufig praktizierte Betrugsmasche mit einem vermeintlich verlorenen Brief eingeleitet.
  3. In vielen Entwicklungsländern werden Briefkästen schlichtweg nie geleert oder es existieren überhaupt keine. Hier hätte der freundliche Mitmensch das gefundene Schreiben persönlich zum nächsten, oft weit entfernten Postamt bringen müssen, was die Testbedingungen doch arg verzerrt hätte.
  4. In Tirana schließlich wurde den Forschern mitgeteilt, dass das Experiment absolut sinnlos sei, da es dort generell unwahrscheinlich ist, dass ein Brief überhaupt seinen Empfänger erreicht, unabhängig davon, ob er eingeworfen wurde oder nicht.
  5. Und letztendlich sind Briefe und schriftliche Kommunikation in vielen Ländern dieser Erde aufgrund der hohen Analphabetenquote gänzlich irrelevant und finden daher kaum Beachtung.

Aber auch bei der Entwicklung des Kleingeld-Experimentes hatte das Wissenschaftlerteam offenbar nur unzureichend über die eigenen Brillenränder hinausgeblickt. So spielen Geldmünzen aufgrund der Geldentwertung und der zunehmenden Verbreitung von Mobil- und Kartentelefonen in vielen Ländern überhaupt keine Rolle mehr: In Tel Aviv ernteten Levines Mitarbeiter nur verständnislose Blicke als Antwort auf ihren Wunsch nach Wechselgeldstücken. Im wirtschaftlich arg gebeutelten Buenos Aires versicherten viele Einheimische glaubhaft, dass sie zwar gerne helfen würden, jedoch noch nicht einmal die kleinste Münze ihr eigen nennen, und in Kiew schließlich holt niemand in der Anwesenheit von Fremden seinen Geldbeutel hervor - aus Angst vor Taschendieben und Straßenräubern.

Kuala Lumpur und New York stehen ganz hinten

Kleinlaut gesteht Levine heute ein, dass er eventuell bei der Vorbereitung der Studie etwas zu ethnozentristisch gewesen sei. Die Forschungsreisenden in Sachen Samaritertum nahmen schließlich zähneknirschend die beiden fraglichen Experimente aus der Wertung. Und obwohl auch die verbliebenen drei Versuchsreihen nicht verzerrungsfrei auszuwerten waren (in Kalkutta gilt ein Gipsbein als vergleichsweise kleine Behinderung angesichts der vielen Amputierten, in Tokio und vielen europäischen Städten signalisieren akustische Zeichen einem Blinden, wann er gefahrlos eine Straße überqueren kann), traut sich der New Yorker Professor zu, uns eine erste, internationale Hilfsbereitschafts-Hitparade aus 23 Teilnehmerstädten zu präsentieren.

Schlusslichte bilden Kuala Lumpur und New York - Amstersdam ist auch nicht viel besser - und ganz oben auf seiner Liste stehen Rio und San Jose (Costa Rica). Flugs hat Levine auch einen brasilianischen Professorenkollegen parat, der die Top-Positionen der lateinamerikanischen Prüflinge mit dem in der hispanischen Kultur verhafteten Hang begründet, 'simpático' durch das Leben zu gehen. Dass es das überhaupt nicht hispanische und durchaus dicht besiedelte Wien immerhin auf den fünften Platz von Levines Zettel geschafft hat, nennt dieser ganz wissenschaftlich einen 'Ausreißer'. Allerdings nehmen Platz drei und vier auch keine hispanische Städte, sondern Lilongwe (Malawi) und Kalkutta ein.

Nun, ob uns das Wissen um die Quote der achtlos liegen gelassenen Schreibgeräte auf den Straßen von Malawi wirklich weiterbringt, darf zumindest in Frage gestellt werden und ob Levines Studie eine Bereicherung für die Forschung darstellt, soll und wird wahrscheinlich ein wissenschaftlicher Diskurs aufdecken, aber wie wusste schon Woody Allen klarzustellen: "Mich erstaunen Leute, die das Universum begreifen wollen, wo es doch schon schwierig genug ist, in Chinatown zurechtzukommen."