Weltkulturerbe wird auch digital werden
Zum ersten Mal wird mit der Demoszene der Versuch unternommen, eine originär digitale Kulturpraxis der Repräsentativen UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit zuzuordnen
Andreas Lange, zusammen mit Tobias Kopka einer der Initiatoren des "Art of Coding" genannten transnationalen Antragsvorhabens, erläutert vor dem Hintergrund der in der Kampagne gemeinsam entwickelten Positionen die kulturpolitischen Dimensionen und ordnet sie in einen größeren gesellschaftlichen Kontext ein.
Seit Jahrzehnten werden Generationen in wachsendem Maße in digital gestützten Umwelten sozialisiert. Mit ihren Auswirkungen auf große Bereiche unseres menschlichen Lebens und Gesellschaft stehen digitale Technologien auf gleicher Stufe mit dem Buchdruck oder der Dampfmaschine. In immer größerem Umfang stellen sie Werkzeuge und Produktionskontexte für unsere Kreativität sowie Wissensgewinnung und -weitergabe dar.
Dass dies im Kern einen umfassenden kulturellen Wandel bedeutet, liegt auf der Hand. Umso erstaunlicher ist es, dass die weltweit am breitesten angelegte Kulturplattform - die von der UNESCO betriebenen Kulturerbelisten der Menschheit - bis heute noch keine digitale Kulturform führen. Das Erstaunen schlägt in Besorgnis um, wenn man sich das übergeordnete Ziel des UNESCO Kulturerbediskurses vor Augen führt. Dient er doch ganz wesentlich der Förderung des Austausches und Verständnisses zwischen den Menschen und damit einer nachhaltigen Entwicklung unserer Gesellschaften. Doch wie kann es gelingen, kulturelle Antworten auf die Herausforderungen der Zukunft zu geben, wenn digitale Kultur mit seinen Besonderheiten noch gar kein Teil dieses Diskurses ist?
Immaterielles und Digitales Kulturerbe
Dabei bietet gerade die UNESCO-Definition von immaterieller Kultur als lebendig und grundsätzlich in Entwicklung befindlich viele Anknüpfungspunkte für digitale Kultur. Damit ist auch einer der Hauptunterschiede zum materiellen Kulturerbe beschrieben, das traditionell von der Annahme eines authentischen Originalzustands bestimmt ist, den es zu erhalten gilt. In digitaler Kultur verliert aber dieses Konzept wesentlich an Bedeutung und weicht einem Verständnis von Kultur als Prozess. Der unser Leben gestaltende Code ist permanent in Entwicklung, alleine schon durch die Interaktion der Systeme mit den Usern und untereinander. Damit ist digitale Kultur kompatibel mit dem Verständnis immaterieller Kultur, die die Deutsche UNESCO Kommission folgendermaßen beschreibt:
Die in das Verzeichnis aufgenommenen Kulturformen sowie ihre Träger stehen exemplarisch für die Kreativität, den Innovationsgeist und das Wissen unserer Gesellschaft. Die Aufmerksamkeit soll dazu führen, dass gelebte Traditionen, die heute in Deutschland von Gruppen und Gemeinschaften praktiziert werden, erhalten, fortgeführt und dynamisch weiterentwickelt werden können.
Deutsche UNESCO Kommission
Dass Lebendigkeit explizit auch mit Innovationsgeist gleichgesetzt wird, ist eine weitere deutliche Nähe zu digitalen kulturellen Kontexten. Ebenso wie die Relativierung nationaler Grenzen, die in der digitalen Welt schnell an kultureller Bedeutung verlieren:
Das Verzeichnis ist keine Erfassung des "deutschen Erbes". Es zeigt vielmehr lebendige kulturelle Traditionen und Ausdrucksformen, die in Deutschland praktiziert werden.
Deutsche UNESCO Kommission
Die Demoszene als erstes digitales Kulturerbe der Menschheit
Denkt man an digitale Kultur, denken wohl die meisten zuerst an Computerspiele als der ältesten digitalen Breitenkultur. Dass nun die Demoszener die ersten Träger einer digitalen Kultur die Welterbeliste in den Blick nehmen, hat jedoch viele gute Gründe, auch jenseits des Umstandes, dass es eine Reihe von Berührungspunkten der Demoszene mit der Gamingkultur gab und gibt.
Als erstes sind dabei die große Kreativität und das Expertenwissen der Demoproduzenten sowie ihre interdisziplinäre Zusammenarbeit zu nennen, die inhaltlich natürlich im Zentrum des Antrags stehen. Doch unterscheidet dies die Demoszene nicht von der Gamingkultur. Vielmehr stellt schon die konsequente Ausrichtung auf selbstorganisierende, dezentrale und emergente Diskurse in Verbindung mit einer strikten nichtkommerziellen Haltung Abgrenzungsmerkmale dar, die kompatibel zur UNESCO Konvention sind.
Doch sind es auch ganz spezifische Bräuche, die so nur in der Demoszene praktiziert werden und die ihre Aufnahme als Kulturerbe nahelegen. Die Konvention, die Demos live vor Publikum in Anwesenheit des Produzenten vorzuführen, schlägt eine Brücke hin zum traditionellen Kulturbereich, in diesem Fall zum Theater. Auch die Abgeschlossenheit und Unveränderbarkeit der Demos selbst repräsentiert einen eher traditionellen Werkbegriff.
Damit ist die Demoszene deutlich als spezifische Kulturform beschreibbar und von anderen abgrenzbar, was bei den augenblicklich angelegten UNESCO-Kriterien unabdingbar ist.
Was die Gesellschaft von der Demoszene lernen kann
Gleichzeitig besitzt die Demoszene in vielerlei Hinsicht "typisch digitale" Eigenschaften, die auch in anderen digitalen Kontexten zu finden sind. Neben der bereits erwähnten selbstorganisierten Vorgehensweise und dem großen digitalen Handwerkswissen ist dies vor allem ein ausgeprägter Individualismus. Zwar ragen dessen Wurzeln in unserem Europäischen Kulturkreis Jahrhunderte zurück, doch ist unzweifelhaft, dass der digitale Wandel diesen Prozess erheblich beschleunigt.
Tatsächlich stellt die fortschreitende Individualisierung eine der zentralen Herausforderungen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt dar. Die Demoszene zeigt dabei ebenso eindrücklich wie konkret, wie in digitalen Kontexten gemeinschaftlicher Zusammenhalt und kulturelle Identifikation entstehen und erhalten werden können. Im Hinblick auf die gesellschaftlichen Herausforderungen kommt dabei der Barrierefreiheit der Demoszene eine hervorgehobene Rolle zu. Denn das in der Szene durchaus ausgeprägte Elitedenken führte eben nicht zur Abschottung, sondern geht mit dem Szene-Grundsatz einher, dass jeder unabhängig von Herkunft, Nationalität, Alter und Geschlecht mitmachen darf, sei es als Produzent, Organisator, Unterstützer oder Teilnehmer.
Die Vermählung von Individualismus und Gemeinschaft unter digitalen Bedingungen ist nicht die einzige Eigenschaft, die die Demoszene beispielhaft macht. Alle digitalen Kulturformen stehen vor der Herausforderung, ihre Identität, die essentiell an digitale Technologien geknüpft ist, von diesen auch abzukoppeln. Denn nur durch die Verständigung auf von der technischen Entwicklung unabhängigen Gemeinsamkeiten kann es gelingen, kulturelle Identitäten jenseits der technischen Dynamik im Kern zu erhalten. Für die Demoszene gab es dafür zwei entscheidende Wegmarken, die auch ihr Ende hätten bedeuten können. Obwohl sich beide Entwicklungen Anfang der 2000er Jahre ereigneten, waren sie von unterschiedlicher Natur.
Zum einen war damals der technische Vorsprung der Demoszene vor den Games zusammengeschmolzen. Aufgrund der weiterentwickelten Produktionsbedingungen und Gaminghardware begannen die Demos im Vergleich mit den Games altmodisch auszusehen. Dass die Demoszene diese erste durch technische Weiterentwicklung ausgelöste Krise überstand, ist ein deutlicher Beleg für ihre Kraft und Möglichkeit, auch jenseits spezifischer technischer Plattformen identitätsstiftende Angebote zu machen.
Die zweite Wegmarke wird durch die Ablösung der klassischen 8 und 16 Bit Heimcomputer durch PCs beschrieben. Während die klassischen Heimcomputer durch ihre Konformität die für die Szene essentiellen Wettbewerbe ermöglichten, handelte es sich ab den frühen 2000er Jahren beim PC nicht nur um eine heterogene, sondern auch wesentlich leistungsfähigere Plattform. Die Szene begegnete dieser Herausforderung mit einer Weiterentwicklung ihrer Praxis, indem sie den PC in Verbindung mit Speicherplatzlimitierungen als Wettbewerbsplattform einführte. Dass dies nicht dogmatisch, sondern szeneüblich selbstorganisiert und emergent passierte, ist dabei vielleicht eine der wichtigsten Lektionen, die die Demoszene für die Gesellschaft bereit hält. Zeigt sie doch eine erfolgreiche Möglichkeit, wie durch innovative Weiterentwicklungen der eigenen kulturellen Praxis ihre Lebendigkeit und Identifikationskraft auch in veränderten technischen Gegebenheiten erhalten bleiben kann.
In diesem Zusammenhang ist auch der Ursprung der Demoszene in der Raubkopierer Community unter weiteren gesellschaftlichen Gesichtspunkten interessant. Die Szene ist so auch ein Beispiel, wie sich eine in der Illegalität entstandene Praxis durch Kultivierung von dieser lösen und die Gesellschaft um neuartige kulturelle Betätigungsformen bereichern kann.
Die europäische Perspektive
Art of Coding ist eine transnationale Initiative. Neben Deutschland werden Anträge in Finnland, Dänemark und Polen erarbeitet oder vorbereitet. Initiativen in anderen Ländern sind willkommen. Bedeutsam ist dabei die starke europäische Ausprägung der Demoszene. In Ländern wie USA oder Japan wurde sie zwar auch praktiziert, aber sie ist dort weit weniger verbreitet und nachhaltig.
So unwichtig nationale Grenzziehungen für die Demoszene auch sein mögen, scheint sie sich nicht unabhängig von den sie umgebenden Kulturräumen entwickelt zu haben. Ein Grund dürfte in der größeren Verbreitung der Heimcomputer in Europa liegen, die durch ihre Offenheit besser zu programmieren waren, als die in anderen Märkten vorherrschenden Videospielekonsolen.
Welche anderen Ursachen die Stärke der Demoszene in Europa hat, ist sicher eine der spannendsten Fragen, die sich an "Art of Coding" anschließen. Spannend aus europäischer Perspektive, die zunehmend durch die Notwendigkeit geprägt wird, ist, den Bürgern kulturelle Angebote zu machen, die eine gemeinsame in die Zukunft gerichtete europäische Identität greifbar werden lassen. Je facettenreicher und zeitgenössischer diese Angebote sind, desto mehr Menschen werden sie erreichen und damit den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken. Auch lassen die aus dem Diskurs der Demoszene gewonnenen Antworten hoffen, sie auch auf andere kulturelle Diskurse übertragen zu können, die aktuell ebenfalls dem digitalen Wandel ausgesetzt sind.
Das große Bild
Versucht man einen gemeinsamen Nenner aller aufgeführten Besonderheiten der Demoszene zu finden, kommt man wie Tobias Kopka in seinem Artikel Wettbewerbskultur und Community - die Demoscene zu der Erkenntnis, dass ihr "Erfolgsrezept" ein funktionierender Dreiklang aus gemeinsamem Wettbewerb und individuellem Freiheits- und Ausdrucksstreben gepaart mit Solidarität und Freundschaft ist. Mit den ersten beiden Eigenschaften greifen Demoszenen Kernelemente digitaler Kontexte auf. Wie der Individualismus erfuhr auch das Wettbewerbsdenken durch den digitalen Wandel einen deutlichen Schub, indem vieles messbar, besser auswertbar und in viel größerem Ausmaß vergleichbar wurde. Der ungebrochene Siegeszug der Games ist nur das offensichtlichste Zeichen für diese Entwicklung. In vielen anderen digital geprägten Kontexten lassen sich ähnliche Dynamiken finden.
Die Leistung der Demoszene besteht darin, diesen Wettbewerbsgedanken mit dem Postulat größtmöglicher individueller Freiheit und einem ausgeprägtem Solidaritätsgefühl vereint und alles mit den Möglichkeiten digitaler Technologien, selbstbestimmt zu produzieren und zu kommunizieren, zu einer nachhaltigen und lebendigen Kulturform entwickelt zu haben, die - ganz im UNESCO-Sinne - exemplarisch für die Kreativität, den Innovationsgeist und das Wissen unserer Gesellschaft steht.
Einer Aufnahme der Demoszene in das Kulturerbe der Menschheit scheint, zumindest grundsätzlich nichts im Wege zu stehen. Allerdings gehört zu einer realistischen Einschätzung auch die Erwartung, dass die Genehmigungsverfahren kein Spaziergang werden. Während sich kulturelle Entwicklungen in der Realität oft schnell Bahn brechen, hinkt der öffentliche Diskurs darüber naturgegeben mal mehr mal weniger hinterher.
Das Bewusstsein über den kulturellen Kern des digitalen Wandels und damit ein Wissen über die Größe der Herausforderung scheint heute so ausgeprägt zu sein, dass die Demoszene gute Chancen hat, nicht nur in nationalen, sondern auch in internationalen Kontexten die Tür für die Anerkennung digitaler Kulturen als Welterbe auf UNESCO-Ebene zu öffnen. Denn sollte die Antragsinitiative abschlägig beantwortet werden, wäre das ein schwerer, kaum überhörbarer Rückschlag in der kulturellen nachhaltigen Entwicklung und Stärkung unserer Gemeinschaft(en).
Es wäre das Verpassen einer bereits überfälligen Gelegenheit, unser Kulturverständnis über die Praxis der Welterbelisten den digitalen Gegebenheiten anzupassen und ein deutliches Signal der Wertschätzung zur Bedeutung von neueren Kulturformen für die Weiterentwicklung der Menschheit auszusenden. Ansonsten liefen die UNESCO-Welterbelisten Gefahr, nur mehr in einer vergangenen, rein analogen Welt entstandene Kulturen zu repräsentieren, die wesensbedingt bei aller Bedeutsamkeit für unser Gemeinwesen nur eingeschränkt spezifische Antworten auf die Herausforderungen des digitalen Wandels bereit halten können.
Es gibt deutliche Zeichen, dass dies nicht so kommt. So warb die Deutsche UNESCO-Kommission vor dem Hintergrund der vor allem folkloristischen und aus dem ländlichen Raum stammenden bisherigen Eintragungen in der Einladung zu einem Expertenmeeting am 9. Juli 2019 in der Zeche Zollern mit dem Titel "StadtGemeinsamkeiten - Immaterielles Kulturerbe im urbanen Raum" explizit um Anträge von zeitgenössischen Kulturen:
Zahlreiche weitere kulturelle Ausdrucksformen haben das Potential für eine Würdigung durch die Aufnahme in das Verzeichnis. Insbesondere sind bis heute Kulturformen, die eher dem urbanen als dem ländlichen Raum zuzuordnen sind, sowohl auf Landes- wie auf Bundesebene unterrepräsentiert. […]
Deutsche UNESCO-Kommission
Im Hinblick auf die weiterhin zunehmende Verstädterung, die zusammenhängt mit einer ökonomischen wie auch kulturellen Globalisierung, bekommt die Frage nach der Rolle von Immateriellem Kulturerbe für den gesellschaftlichen Zusammenhalt eine große Bedeutung.
Die aufgezeigte Kompatibilität des immateriellen Kulturerbes zu digitaler Kultur wird dessen zukünftige Rolle für den gesellschaftlichen Zusammenhalt noch bedeutsamer machen, vorausgesetzt, es wird auch formal für digitale Kulturen geöffnet. Dass dabei der (Kennen-) Lernprozess ein beidseitiger ist, gehört zu den spannenden Erfahrungen der bisherigen Antragsinitiative. So werden durch die Antragsinitiative szene-intern bereits diskutierte Fragen wie z.B. zur Geschlechtervielfalt nochmal verstärkt in den Fokus gerückt.
Vor allem aber muss in der Demoszene das Bewusstsein weiter wachsen, welche kulturellen Leistungen sie eigentlich erbracht hat und dass und wie diese für einen weiteren gesellschaftlichen Kontext nutzbar gemacht werden können. In heterogenen digital geprägten Kulturen ist ein gesamtgesellschaftliches Verantwortungsgefühl eher weniger stark ausgeprägt. Warum sich um das große Ganze kümmern, wenn man in der eigenen Community alles hat, was man braucht?
Zumindest innerhalb der Demoszene hat eine wachsende Anzahl von Gruppen die nächste Wegmarke auf ihren auch bisher schon an Abenteuern nicht armen Weg in den Blick genommen. Über den Welterbediskurs wollen sie sich ihrer eigenen kulturellen Praxis vergewissern und sie nachhaltig dokumentieren und weiterentwickeln. So wurde gerade erst vor kurzem der Antrag für eine Anerkennung in Deutschland von Digitale Kultur e.V. eingebracht, sowie der Finnische Antrag mit einem Workshop final vorbereitet. Dass damit ausgerechnet eine Initiative innerhalb der anarchischen Demoszene der Gesellschaft ein Angebot macht, das diese eigentlich nicht abschlagen kann, ist auch vor dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte eine erstaunliche, aber vor allem höchst ermutigende Pointe.
Weitere Informationen:
The Art of Coding
Tobias Kopka erklärt Art of Coding im Videointerview auf der Assembly Scene Lounge (Helsinki, 4. Aug. 2019)
Wettbewerbskultur und Community - die Demoscene
Twitter: @Demoscene_AOC
Andreas Lange ist Präsident EFGAMP e.V. (European Federation of Game Archives, Museums and Preservation Projects), verantwortlich für die Koordination des internationalen "Art of Coding"-Antrages. Kontakt Twitter: @A_Lange_Berlin