Weltpolitik als Farce

Der Irak überreicht der UNO das explosivste Telefonbuch der Welt

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Nach Auffassung des US-Präsidentensprechers Ari Fleischer legt der Irak der UNO nun ein 13.000 Seiten umfassendes Telefonbuch über ABC-Waffen bzw. deren Nichtvorhandensein vor, dem die Geheimnummern fehlen. Wer das vorab bereits behauptet, könnte gar im Besitz der Geheimnummern sein. In der Tat behauptet das Weiße Haus, solide Beweise über irakische Massenvernichtungsmittel zu besitzen. Nur herausgeben will man die brisanten Informationen keineswegs.

Vorabbesichtung der irakischen Waffendokumentation. Bild: al-Dschasira

Hier beginnt eine Farce im welthistorischen Maßstab, die ohne Präzedenz zu sein scheint. Denn wenn doch kristallklar feststeht, dass der Irak Massenvernichtungswaffen besitzt, sollte die US-Regierung die Suche der UNO Waffeninspekteure nach den gefährlichen Stecknadeln längst mit den heißen Informationen aufrüsten. Doch Präsident Bush interessiert sich offensichtlich weniger dafür, die schreckliche Wahrheit aufzuklären, sondern allein dafür, den Lügner von Bagdad zu überführen. Hier wittert er seine Kriegslegitimation, um dieses Regime, das sein Vater nicht aus humanen Gründen überleben ließ, nun endgültig auszulöschen.

Redliches Bemühen um Aufklärung und friedliche Lösungen bestünden allein darin, den Waffeninspekteuren rückhaltlos alle Informationen preiszugeben. Nichts anderes erwartet man ja auch von Saddam Hussein selbst. Wer das nicht tut, will den Krieg. Die amerikanische Verdunkelung der Fakten wird statt dessen als pseudomoralisches Lehrtheater aufgeführt, damit die bereits vorab verhängte Abstrafung des reuelosen Lügners Saddam Hussein mit dem gebotenen Aufwand vollzogen werden kann. Eine äußerst kostspielige Farce mit hohem Blutzoll!

Information overload als Gegenzug

Saddam Hussein spielt in diesem internationalen Schmierentheater die Rolle des orientalischen Schlaubergers. Der gebeutelte Potentat Hussein hat dazu gelernt. 1991 legte er der UNO noch ein schlappes 30-Seiten Dossier über Biowaffen-Programme vor, das schnell als unrichtig entlarvt wurde. Zudem lieferte es in seiner durchschaubaren Harmlosigkeit seinerzeit just die heiße Spur zur Biowaffen-Produktionsstätte "Al Hakam". Nun aber erschlägt der Diktator die UNO mit "information overload", einem Tausende Seiten starken Dokument nebst CD-Roms mit unzähligen Daten, die zudem aus dem Arabischen noch übersetzt werden müssen. Die Prüfung wird nach Waffeninspektions-Chef Hans Blix Wochen oder gar Monate dauern.

Irgendwo in diesem babylonischen Dossier, das unweit von Babel angefertigt wurde, mögen auch Aussagen über brisante Anlagen und Waffen enthalten sein, die in amerikanischer Lesart Massenvernichtungswaffen sein könnten. Denn auch das ist Interpretationssache. Wie Bush und seine kriegsbereiten think-tanks hier interpretieren werden, dafür braucht es inzwischen keine Kristallkugel mehr. Nicht die geringste Schwierigkeit bleibt die Differenzierung zwischen dem friedlichen und kriegerischen Gebrauch von Anlagen und brisanten Stoffen. Das alte Problem des "dual use" soll Experten zufolge inzwischen noch undurchschaubarer sein als je zuvor.

Im dem Telefonbuch, bestehend aus 12.000 Seiten und 12 CD-ROMs mit 530 MB Informationen, kann man sich also leicht verwählen, so schwer es überhaupt ist, eine Übersicht über gefährliche Potenziale zu gewinnen, wenn sie denn existieren sollten. Wer seine Haut verteidigt, wird erfinderisch. Der irakische Bericht ist selbst eine Waffe im Informationskrieg, aber immerhin eine unblutige. Im Übrigen bleibt Saddam Hussein nichts anderes übrig, als bürokratisch genau vorzugehen, weil die Folge für Ungenauigkeiten mit dem Krieg gleich zu setzen ist. Der Irak spielt auf Zeit, mit gutem oder bösem Gewissen, das ist längst einerlei. Denn die aufziehende Bush-Armada kann aus logistischen und anderen kriegstechnischen Gründen, insbesondere dem Einbruch der heißen Jahreszeit im Wüstenstaat nicht warten. Die Reservisten sind eingezogen, der Aufmarsch vollzieht sich, vorbereitende Manöver proben bereits den Ernstfall. Spätestens im Frühjahr 2003 ist Wüstensturmzeit.

Bis dahin müssen die Lügen Saddam Husseins feststehen - auch vor der Beweisaufnahme. In der Sprache des Rechtsstaates, den die USA doch repräsentieren wollen, nennt man das eine Vorverurteilung. Aber rechtsstaatliche Prinzipien haben als politdramaturgische Regeln dieser Farce auf der Bühne des Welttheaters ausgespielt. Hans Blix hat bisher vergeblich auf die Herausgabe der ominösen Geheiminformationen der USA gedrängt. Konkret bedeutet die informationelle Sprödigkeit der Bush-Regierung, dass sie selbst die Aufspürung und Vernichtung dieser Waffen vereitelt, weil anderenfalls der schöne neue Krieg ausfallen würde. Bereits die amerikanische Behauptung, solche Informationen zu besitzen, erscheint nicht weniger zweifelhaft als die irakischen Unschuldsbeteuerungen, weil allein eine Abgleichung der amerikanischen Geheimdienstdaten mit dem nun der UNO vorgelegten Irak-Dossier ihre Aktualität belegen könnte. Immerhin hat der Irak erklärt, dass frühere Waffenpotenziale inzwischen demontiert worden seien.

Waffeninspekteur Blix ist längst frustriert darüber, dass die USA die Säumigkeit der gerade mal angelaufenen Inspektionen anmahnt, selbst aber nichts dazu beitragen, die Fakten, Fakten, Fakten auf den Tisch zu legen. Stattdessen gießt man weiter Öl ins Feuer, weil zumindest diese Quelle nie versiegt. So wird irakischen Wissenschaftlern politisches Asyl im Austausch für Geheiminformationen angeboten. Das ist nicht nur eine Provokation zur Unzeit, sondern selbst eine weitere Farce, wenn doch angeblich die Bush-Regierung die Beweise über die Existenz von Massenvernichtungswaffen ohnehin besitzt. Längst ist kein Widerspruch mehr zu krass, um sich von dem autistisch verfolgten Weg der Enthauptung des irakischen Regimes noch abbringen zu lassen.

Noch explosiver wird dieses Schmierenstück nun dadurch, dass die USA die Daten zunächst nicht erhalten werden, da die Prüfung durch die UNO geraume Zeit in Anspruch nehmen wird. Die UNO will sensible Passagen ohnehin nicht zwingend der Öffentlichkeit und auch nicht unmittelbar den Mitgliedern des Weltsicherheitsrates zur Verfügung stellen. Würden hier Restbestände von Rationalität, diplomatischem Bemühen und Friedenswillen obwalten, wäre also der angekündigte Krieg im nächsten Jahr stark gefährdet auszufallen. Die Würfel sind indes längst gefallen und außer dem Haupt des Herrschers von Bagdad auf dem Silbertablett wird Bush jede Form von Kooperation der Irakis als Täuschung denunzieren. Wie paradox hier argumentiert wird, belegt Ari Fleischers Vorab-Kritik am betrugstauglichen Umfang des Dossiers, das er nicht gelesen hat, und andererseits dem unbedingten Anspruch der USA auf peinlich genaue Lückenlosigkeit.

Dramaturgie einer Machtprobe

Doch diese völlig durchschaubare Dramaturgie fällt auf Bushs Beteuerungen, den Krieg als "ultima ratio" einzusetzen, zurück. Es geht offensichtlich nicht primär um die Vernichtung von weltbedrohenden Massenvernichtungswaffen, die angeblich sogar, wie noch kürzlich verlautbart wurde, kurz vor dem Einsatz stehen, sondern um den Beweis, dass Widersacher Amerikas keine Chance haben, sich der Schlinge zu entziehen. Es bleibt eine Machtprobe um der Machtprobe willen, wenn man von den erfreulichen Kollateralgewinnen der Ausweitung der amerikanischen Einflusssphäre und der zukünftigen Verteilung des irakischen Öls absieht. Wer so agiert, wird unglaubwürdig gegenüber seinen eigenen Verlautbarungen eines friedlichen Ausgleichs zwischen zerstrittenen Nationen.

Das ist nicht mehr lediglich der spätrömische Unilateralismus einer selbstgerechten Supermacht, sondern Kommunikationsverweigerung im großen Stil, die einem Kreuzzug und nicht vorgeblich aufgeklärten Nationen angemessen ist. Sollte der Krieg beginnen, bevor die Waffeninspektionen abgeschlossen und die irakischen Angaben geprüft sind, wäre dieser Krieg völkerrechtlich und auf der Grundlage des projektierten Vorgehens der UNO illegitim. Würde Amerika den Krieg unter diesen Voraussetzungen gleichwohl führen, wäre der Glaube an Amerikas Friedensliebe, aber auch das Vertrauen auf ein rechtsstaatliches Minimum im internationalen Verkehr irreparabel beschädigt.

Die sich längst abzeichnenden, immer größeren Gräben zwischen Amerika und potenziellen Alliierten, allen voran Europa, werden Amerika langfristig schwächen. Denn keine nachgeschobene Siegermoral reicht aus, die Glaubensverluste wieder wett zu machen, das Schicksal der Welt wäre in Amerikas starken Händen gut verwahrt, wenn eine blutige Farce den Versuch eines zivilen Miteinanders der Völker ersetzt.