Wenn Korruption nicht nur ein Problem, sondern das System ist
Tom Burgis über Geheimdienste, die Macht von Banken und Konzernen sowie den Aufstieg einer transnationalen Kleptokratie
Tom Burgis ist als investigativer Auslandsreporter für die britische Financial Times tätig. Die dortige Investigativabteilung bestätigte ihren Ruf bei der Wirecard-Affäre gegen alle deutschen Widerstände. In Deutschland wurde Burgis mit seinem Afrika-Buch Der Fluch des Reichtums über Warlords, Konzerne, Schmuggler und die Plünderung Afrikas bekannt. "Er macht Machtkonstellationen sichtbar, die bisher der Öffentlichkeit größtenteils verborgen waren", schrieb der Deutschlandfunk.
Auch in seinem neuen Buch Kleptopia geht es Burgis um Macht, die sich im Hintergrund hält: Wie "Geheimdienste, Banken und Konzerne mit schmutzigem Geld die Welt erobern". Florian Rötzer sprach mit ihm.
In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie den Aufstieg einer transnationalen Kleptokratie, die heute eine noch nie dagewesene Machtfülle mit Techniken zur Wäsche von Milliarden von Dollar an schmutzigem Geld und politischer Korruption in großem Maßstab erlangt hat. Dennoch scheint sich die breite Öffentlichkeit dieser Probleme und ihrer Auswirkungen auf ihr Leben nicht bewusst zu sein. Können Sie beschreiben, was Ihrer Meinung nach die größten Folgen dieser Kleptokratie sind und warum wir uns darum kümmern sollten?
Tom Burgis: Ernest Hemingway hat einmal beschrieben, wie man bankrottgeht: "Allmählich, dann plötzlich." Das Gleiche gilt für den Verlust der Demokratie. Langsame Erosionen und dann, plötzlich, der Zusammenbruch. Deutschland in den 1930-er Jahren erinnert uns daran. Oder jede der jungen lateinamerikanischen und afrikanischen Demokratien nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch Militärputsche ausgelöscht wurden.
Der schleichende Teil ist die Korruption: Die lange, langsame Aushöhlung der Institutionen, die die Macht unter dem Volk verteilen. Das heißt, unabhängige Parlamente, Rechtsstaatlichkeit, freie Presse.
Der plötzliche Teil ist immer von den jeweiligen Umständen geprägt, auch wenn bestimmte Merkmale immer wieder auftreten. Ein Personenkult und eine Stammesgeschichte, um ein Programm des Diebstahls zu verschleiern; eine offene Missachtung der Normen, die persönliche Interessen und politische Ämter trennen; die Darstellung eines Anderen, eines Feindes, als Verderber der Gesellschaft, um von der eigenen Korruption abzulenken.
All dies war vorhanden, als ein autoritärer Kleptokrat namens Donald Trump die amerikanische Demokratie beinahe beendet hätte. Warum sollte uns das interessieren?
Wenn wir aufmerksam sind, werden diejenigen von uns, die das Glück haben, an Orten geboren zu sein, die sich unabhängiger Parlamente, der Rechtsstaatlichkeit und einer freien Presse erfreuen, bemerken, dass diese Institutionen gegen sich selbst gerichtet sind. Sie werden von den Kräften der Kleptokratie gekapert.
Sie kaufen demokratische Politiker, um als ihre Lobbyisten zu fungieren, manipulieren die Zivilgerichte und die Strafverfolgungsbehörden, um ihre Ausplünderungen zu legitimieren und ihre Feinde zu verfolgen, und setzen Legionen von gutbezahlten Propagandisten und Verleumdungsanwälten ein, um die Untersuchung ihrer Aktivitäten zu unterdrücken und ihren Ruf zu waschen. Auf diese Weise kehren sich die Funktionen dieser Institutionen um: Sie wandeln sich, um die Wenigen vor den Vielen zu schützen.
Wie unterscheidet sich denn eine Kleptokratie von Korruption?
Tom Burgis: In einem repräsentativen politischen System ist die Korruption eine Anomalie. In einem repräsentativen System – d.h. einem System, das die Freiheit aufrechterhält – vertrauen die Vielen die Macht denen an, die sie ausüben. Diese üben sie nur mit der ausdrücklichen Zustimmung der Vielen aus. Wenn sie diese Macht zum eigenen Vorteil nutzen, ist das ein Verrat an diesem Vertrauen. Wir nennen dies Korruption.
Wenn Korruption aufgedeckt wird, etwa durch einen Whistleblower oder einen Reporter, setzt eine Reaktion ein. Die Medien schreien nach Maßnahmen, parlamentarische Ausschüsse führen Untersuchungen durch, Strafverfahren werden eingeleitet, das Krebsgeschwür wird ausgeschnitten. Wenigstens ist das System so integer, dass das eine oder andere passiert.
In einer Kleptokratie ist die Korruption kein Problem des Systems. Die Korruption ist das System. Die Selbstbereicherung ist der Zweck der Machtausübung. Man übernimmt die Macht, um zu stehlen; man stiehlt, um die Macht zu behalten.
Seit dem Ende des Kalten Krieges durch die katastrophale Integration großer Korruptionsmotoren wie dem russischen und dem chinesischen Regime in das internationale kapitalistische System geschehen ist, ist, dass diese Kleptokratie global geworden ist.
Eine der Hauptfiguren in dem Buch ist Nursultan Nasarbajew, Präsident von Kasachstan in einer Zeit, in der das öffentliche Vermögen des Landes von einer korrupten politischen Elite geraubt und die Opposition brutal unterdrückt wurde. Können Sie anhand seines Beispiels nachzeichnen, wie schmutziges Geld gewaschen wird und welche Rolle westliche Finanzzentren dabei spielen?
Tom Burgis: Nasarbajew regierte Kasachstan als Kommunist. Dann änderten sich die Zeiten und er begann, das Land als Kapitalist zu regieren. Er ist ein klassischer Kleptokrat: Er hat die Macht selbst privatisiert. Das heißt, er hat seine Herrschaft in eine Ware verwandelt, die man kaufen kann.
Wenn ein amerikanisches Ölunternehmen seine Zustimmung zu Bohrungen braucht, kauft es diese Zustimmung mit Einlagen auf einem Schweizer Bankkonto. Mehrere Mitglieder seiner Familie sind Milliardäre - und das sind nur die Vermögen, die die Nasarbajews gegenüber Forbes preisgeben.
Aber er ist kein totalitärer Kleptokrat wie etwa die Kims in Nordkorea. Er ist subtiler. Er führt ein Doppelleben. Zu Hause ist er ein Gauner, der jede Opposition unterdrückt. Aber im Ausland will er als Staatsmann gesehen werden. Als seine Sicherheitskräfte Demonstranten in der Steppe massakrierten, wurden die Überlebenden so lange gefoltert, bis sie eine alternative Realität gestehen, in der sie die Schuldigen sind.
Doch als Nasarbajew kurz darauf nach Großbritannien reiste, ließ er sich von Tony Blair beraten, wie er eine Rede halten soll, in der er das Massaker als notwendiges Übel zur Gewährleistung der vom Westen so geschätzten "Stabilität" darstellt.
Mit gewaschenem Geld verhält es sich genauso. Hier kommen Scheinfirmen ins Spiel. Sie löschen die Vergangenheit des Geldes und lassen es als legitimes Geld getarnt durch die Welt wandern. Ist dieser Trick erst einmal vollbracht, kann das ehemals schmutzige Geld alles kaufen, was auch sauberes Geld kaufen kann: Villen, Jachten, Lobbyisten, Nachrichtenorganisationen und so weiter.
Wir sind so überzeugt, dass Reichtum ein Zeichen von Wert ist, dass wir uns hüten, nach der Vergangenheit des Geldes zu fragen, um diese Illusion nicht zu stören.
Nigel Wilkins, der für die Schweizer Bank BSI und später als Aufsichtsbehörde für die FCA arbeitete, ist eine Schlüsselfigur in dieser Erzählung. Ähnlich wie die Leser selbst wird er mehr und mehr in dieses Paralleluniversum aus schmutzigem Geld, Verbrechen und Macht hineingezogen. Warum haben Sie sich entschieden, seine Geschichte zu erzählen und was können wir von ihm lernen?
Tom Burgis: Ich habe Nigel eines Abends im Jahr 2015 in einem Kriegsberichterstatter-Club in London kennengelernt. Ich war früher als Auslandskorrespondent in Afrika tätig und hielt einen kleinen Vortrag über Korruption, nachdem ich mein erstes Buch The Looting Machine (deutsch: "Der Fluch des Reichtums") über den Öl- und Bergbauhandel in Afrika veröffentlicht hatte.
Ein glatzköpfiger Mann mittleren Alters stellte eine Frage, in deren Verlauf er beiläufig erwähnte, dass er während seiner Arbeit in der Londoner Niederlassung einer Schweizer Bank eine Menge zwielichtiger Dinge gesehen habe. Ich bin fast von meinem Stuhl gefallen. Danach schnappte ich ihn mir an der Bar. Nigel und ich verabredeten uns zum Mittagessen. Aus einem Mittagessen wurden fünf. Mit einem verschmitzten Blick vertraute er mir an, dass er Kopien der Dokumente gemacht hatte, die seiner Meinung nach zeigten, dass die Bank schmutziges Geld verschob. Wirst du sie mir geben, fragte ich. Ja, sagte er.
Das war der Anfang von Kleptopia. Nigels Dokumente waren für mich eine Schatzkarte, die schließlich nach Moskau und Astana, Johannesburg und Harare und sogar ins Weiße Haus führte. Nigel war ein Mann, der gerne das wahre Gesicht der Macht aufdeckte. Dafür ließen ihn die Mächtigen büßen.
In Ihrem Buch gehen Sie auch auf die Rolle der westlichen Geheimdienste wie der CIA ein. Gibt es Grund zu der Annahme, dass sie ein Interesse an der Zerschlagung von Kleptopia haben? Oder sind sie Teil des Spiels?
Tom Burgis: Ich habe immer wieder festgestellt, dass Geheimdienste mit der Korruption verstrickt sind. Oft sehen sie Korruption als ein Übel an, das sie tolerieren müssen, um sich Zugang und Einfluss zu sichern. Aber das geht am Thema vorbei: Die Korruption selbst ist das Gift.
Die Tragödie in Afghanistan verdeutlicht dies. Der Versuch von Ausländern und Afghanen, dort einige Freiheiten einzuführen, wurde durch Korruption zunichtegemacht. Die CIA hat aktiv mit Fraktionen wie der von Karzai zusammengearbeitet, die entsetzlich korrupt waren. Überall auf der Welt schließen wir diese Geschäfte ab: Wir unterstützen die Korruption in der irrigen Annahme, dass wir dadurch Sicherheit erlangen.
Wir tun dies in Saudi-Arabien, in Nigeria und sogar in Russland mit unseren Energieinvestitionen. Das ist ein epochaler Fehler. Denn diese Korruption, der wir Vorschub leisten, schwappt zurück in unsere eigenen politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Systeme und vergiftet sie.
Sie haben aufgedeckt, dass die Kleptokraten gelernt haben, Gerichte, Medien und gewählte Politiker im Westen und auf der ganzen Welt zu nutzen, um ihre Feinde zu verfolgen und ihr kriminelles Imperium weiter auszubauen.
Gleichzeitig versäumen wir es, jene Institutionen zu stärken, die einige der Ströme schmutzigen Geldes aufdecken könnten. Sie haben etwa die Tatsache kritisiert, dass in London die Finanzaufsichtsbehörde von den Banken finanziert wird. Ist es angesichts dieser weitreichenden Verstrickungen unmöglich geworden, die heutigen Kleptokraten vor Gericht zu bringen?
Tom Burgis: Es ist in der Tat spät. Aber wir begreifen schnell die Dringlichkeit der Bedrohung durch die Kleptokratie. Wir begreifen, dass es hier nicht einfach um ein paar Typen geht, die schnell reich geworden sind und jetzt lächerlich große Yachten besitzen. Es handelt sich um eine unerklärte, asymmetrische Kriegsführung durch feindliche Kleptokratien.
Der Tod von Alexander Litwinenko, die Vergiftung von Skripal und Nawalny, die Ermordung tschetschenischer Dissidenten in ganz Europa oder von Khashoggi in der Türkei. Das sind keine Verbrechen aus politischen oder ideologischen Gründen. Das ist kleptokratischer Terrorismus.
Es handelt sich schlicht und einfach um die Ermordung von Personen, die den Fluss der Korruption bedrohen. Betrachten Sie diese Regime nicht als Nationalstaaten, sondern als Mafias. Putins Kabale, die Kommunistische Partei Chinas, das Haus Saud und so weiter. Mitsamt ihren extrem gut bezahlten westlichen Lobbyisten, Anwälten und PR-Leuten.
Wir wissen, dass potenzielle Zeugen in großen Korruptionsermittlungen tot aufgefunden werden. Wir wissen auch, dass immer größere Kohorten von Bankern, Buchhaltern, Immobilienmaklern und anderen Dienern der Reichen damit beschäftigt sind, deren Beute in ehrlich aussehende Vermögenswerte zu verwandeln.
Das bedeutet, dass sich der Kreis der Gefahr immer weiter vergrößert. Ich sage Gefahr, denn weil kleptokratische Macht nicht einvernehmlich ist, weil sie auf dem Verrat des öffentlichen Vertrauens beruht, ist ihr letztes Mittel letztlich immer Gewalt. Sobald wir erkennen, dass hinter dem Geld Gewalt steht, werden wir meiner Meinung nach eher bereit sein zu handeln.
Das Interview erschien zuerst bei Krass & Konkret. "Kleptopia" gibt's bei den Buchkomplizen.